Die Dubharan. Norbert Wibben
Читать онлайн книгу.zu verstehen. Obwohl sie nicht oft für längere Zeit mit ihren Eltern zusammengelebt hat, liebt sie diese sehr. Eila ist ein Einzelkind – für mehr Kinder wäre es in dem kleinen Haus der Großeltern auf Dauer wohl etwas eng geworden.
Ihre anderen Großeltern sind bereits vor Eilas Geburt bei einem Unfall gestorben. Die Eltern ihres Vaters waren auch Forscher und sind bei einem Erdrutsch in einem großen Gebirgszug, fern im Osten, umgekommen.
Eila lächelt in Vorfreude auf das Wiedersehen mit ihrem Großvater und zeichnet weiter an der Geschichte mit dem gefleckten Hund.
Nach etwa einer Stunde gehen Eila und Anna nach unten, über den Vorplatz, die Treppe hinauf in das Haupthaus und dort zum Speisesaal. Sie essen mit den anderen Schülern, an langen Tischen sitzend. Die Tische sind in regelmäßigen Abständen unterbrochen, damit nicht die ganze Länge der Tafeln umrundet werden müsste. Die Lehrer haben drei separate Tische, die entsprechend den drei Gebäuden besetzt werden. Sie stehen auf einem erhöhten Podest, quer zu den Tischen der Schüler. Die Schülertische sind den Lehrertischen der einzelnen Gebäude zugeordnet.
Nach dem Essen wandern die beiden Freundinnen gemeinsam durch den Park. Dort stehen verstreut angeordnet, mächtige, alte Bäume. Es sind hauptsächlich Eichen und Eiben, aber es befinden sich auch einige Blutbuchen, Maronen und Rosskastanien darunter. Zwischen den Bäumen liegen große, gepflegte Rasenflächen. Der schon etwas ältere Gärtner kann die Pflege aller Außenanlagen nicht alleine schaffen. Er erhält Unterstützung von weiteren fünf Mitarbeitern, die er, je nach Bedarf, aus der nahen Stadt anfordert.
Eila und Anna gehen an dem ehrwürdig wirkenden, großen Mammutbaum vorbei. Er steht zentral innerhalb der Parkflächen, in etwa 200 Metern Entfernung zum Hauptgebäude. Durchbrochen wird die Parkanlage von Kieswegen, auf denen auch heute Abend Schüler und Schülerinnen des Internats in kleinen Gruppen spazieren, so wie Eila und Anna.
Rechts ist im hinteren Teil des Parks eine feine Rauchfahne zu sehen. Dort duckt sich ein kleines Backsteingebäude mit niedrigem Dach. Es steht in Verlängerung zu dem Haus der älteren Jungen. Dies ist das Wohnhaus des Gärtners und gleichzeitig sein Geräteschuppen. Das Haus ist mit einem kleinen Garten umgeben, in dem er etwas Gemüse für den Eigenbedarf anbaut. In einem eingezäunten Hof laufen pickend viele große, braune Hühner und zwei Hähne. Das daran anschließende Hühnerhaus ist hinter dem Wohnhaus versteckt. Auch von der Treppe, vom Schulgebäude zum Park, ist es nicht zu sehen.
Eila und Anna kommen an der Außen-Sportanlage vorbei. Deren Rennbahnen, Weitsprunggrube, Plätze für Hochsprung und Kugelstoßen und mehrere Tennisfelder sind in einigem Abstand zu einer Pferdekoppel links im Park angeordnet. Das ebenfalls dort liegende Freibad mit mehreren Wettkampfbahnen wird besonders an warmen Tagen gern genutzt. Jetzt ist es hier aber ruhig, die sonst übliche Geräuschkulisse fehlt.
Von links hören sie ab und zu Pferdegewieher. In einem größeren Abstand zum Schlafhaus der älteren Schülerinnen steht ein weiteres, großes Backsteingebäude mit drei Toren. Daneben ist eine große Koppel zu sehen, in der eine kleine Pferdeherde grast. Das Gebäude ist Stall, Heulager und Reithalle in einem. Die Pferde werden von einigen Schülern der Oberstufe, hauptsächlich aber von den Schülerinnen, gepflegt und versorgt.
»Lass uns jetzt aufs Zimmer gehen und unsere Koffer packen«, meint Anna.
»Geh du schon vor, ich muss mich noch von den Pferden verabschieden«, entgegnet Eila. Sie trennen sich. Anna kehrt zum Mädchenhaus zurück, während Eila zur Pferdekoppel geht.
Eila ruft mit heller Stimme die Pferde mit ihren Namen. Bereits nach dem zweiten Namen kommen alle schnaubend, mit wehenden Mähnen, zu ihr ans Gatter galoppiert. Sie krault sie nacheinander zwischen den Ohren und tätschelt ihre Hälse. Das Mädchen lehnt seinen Kopf an die der Pferde und pustet ihnen langsam in ihre Nüstern.
»Ich bin für einige Wochen bei Großvater, aber ich komme wieder. Vergesst mich nicht und seid brav!« Einige der Pferde wiehern leise, sie bewegen nickend den Kopf auf und nieder, so als ob sie verstanden hätten. Eila verlässt die Pferde, blickt sich auf dem Weg zum Mädchenhaus aber noch einmal kurz um. Die Pferde stehen noch am Gatter und schauen ihr nach.
Anna ist mit dem Packen fertig, auch Eila benötigt nicht lange dafür. Anschließend lesen sie noch etwas und legen sich dann schlafen. Am nächsten Vormittag werden alle Schüler durch die Schulleiterin in die Ferien entlassen. Einige Schüler verabschieden sich etwas traurig von ihren Lehrern, besonders die jüngeren unter ihnen. Viele Schüler werden bereits von ihren Eltern mit Kutschen abgeholt. Der Vorplatz bietet kaum genügend Platz für alle.
In der Mitte des Kiesplatzes ist ein großes Blumenrondell angeordnet, das durch eine niedrige Buchsbaumhecke eingefasst ist. Das Beet ist in zwölf Kreissegmente geteilt. Felder mit dunkelroten und weißen Rosen wechseln sich ab, jeweils durch eines der insgesamt sechs, sehr schmalen Lavendelfelder getrennt. Die Felder mit den roten und weißen Rosen stehen sich jeweils gegenüber. Das Blumenbeet stellt das Wappen der Schule nach, das oben in der Front über dem Eingang angebracht ist. Heute ist das Gegenstück des Wappens nicht zu sehen, da die Kutschen es dicht an dicht umschließen.
Die von weiter entfernt kommenden Schüler, die nicht abgeholt werden, nutzen bereit stehende Fuhrwerke. Sie werden damit in Begleitung einer Lehrkraft zum Bahnhof der nahen Stadt gebracht. Natürlich nutzen Eila und Anna nebeneinander liegende Plätze in einem dieser Transportmittel. Im Bahnhofwartesaal sitzen sie noch eine halbe Stunde zusammen, dann muss Eila in den Zug Richtung Norden. Annas Zug Richtung Süden kommt erst in einigen Minuten.
»Viel Spaß in den Ferien, und pass auf den schmalen Bergpfaden auf, wohin du trittst!«, lächelt Eila, trotz ihres mahnend erhobenen Zeigefingers.
»Und du pass auf, dass du dich nicht in irgendein Fabelwesen verzauberst!«, entgegnet zwinkernd Anna.
Beide umarmen sich, dann eilt Eila zum bereits eingefahrenen Zug und steigt ein. Als sie ein freies Abteil gefunden hat, öffnet sie das Fenster und winkt zu Anna zurück, während der Zug bereits losdampft.
Im Weidenweg
Eila weilt bereits seit einigen Tagen bei ihrem Großvater, in einem kleinen Dorf im Norden des Landes. Sie hat die Hektik, Zwänge und Vorschriften des Lebens im Internat schon fast vergessen. Das Gedränge in der nahen Stadt, die sie etwa einmal im Monat zusammen mit Mitschülern der Oberstufe besuchen darf, ist ebenso schon fast vergessen.
Wie meistens sind ihre Eltern auch in diesen Ferien auf einer Forschungsreise. Sie reden nicht oft über ihre Arbeit. Aber das, was Eila darüber weiß, findet sie sehr spannend. Sie würde ihre Eltern sehr gern begleiten, doch das ist zu gefährlich, sagt ihr Vater John jedes Mal. Seine Stirn umwölkt sich dabei, und er blickt sie etwas traurig an. Vermutlich denkt er dann an den Tod seiner Eltern, auf deren letzter Forschungsreise.
Also verbringt Eila die Ferienzeit wieder einmal bei ihrem Großvater auf dem Land. Es ist nicht so, dass es ihr hier nicht gefällt. Sie ist hier groß geworden und genießt die Ruhe der sie umgebenden Natur. Sie riecht die duftenden Gräser und hört das Gesumme der Insekten. Sie saugt täglich die Bilder der leicht gewellten Hänge, der hügeligen Berge und Täler, in sich auf. Die Flächen sind mit Gras oder auch mit Heide bewachsen. Die Heidebüschel sind vereinzelt schon leicht violett überhaucht. Es dauert sicher nur noch kurze Zeit, bis alle voll erblüht sind.
Auf von Steinmauern eingefassten Weideflächen sind zottelige Schafe zu sehen, die, oft in großen Gruppen langsam weidend wandern. Manchmal ist das Geblöke von allen Seiten zu hören, trotz Eilas Entfernung zu ihnen. An vielen Stellen ist der Pflanzenbewuchs aber eher karg, so dass oft Gestein oder Geröll zum Vorschein kommt. Bäume sind dort meist nur vereinzelt zu sehen. In den saftig grünen Wiesen, in der Nähe vom Flusslauf im Tal, stehen sie auch schon mal in größeren Gruppen. Eila liebt diese Gegend, die trotz des teilweise rauen Eindrucks viel Ruhe und Frieden ausstrahlt.
Das kleine Haus des Großvaters, mit den weiß gerahmten Fenstern und einer ebenfalls weißen Eingangstür, steht etwas abseits zum Dorf, an einer, sich durch sanfte Hügel windenden Straße. Es ist von einem