Die Jagd nach dem Meteor. Jules Verne
Читать онлайн книгу.zaudernden Charakters ist. Endlich hätte ein Beobachter wahrnehmen müssen, daß die natürliche Ungeduld des Mannes sich nur unvollkommen hinter einer äußerlichen Kälte verbarg.
Warum war nun wohl dieser Reiter hier in einer Stadt, wo keiner ihn kannte, keiner ihn vorher je gesehen hatte? Beschränkte er sich vielleicht darauf, sie nur zu durchqueren oder wollte er etwa einige Zeit hier verweilen? Ein Hotel aufzusuchen hätte er, im zweiten Falle, nur die Qual der Wahl gehabt, dafür war Whaston weit und breit bekannt. In keinem andern Zentrum der Vereinigten Staaten oder in andern Ländern könnte ein Reisender einen bessern Empfang, willigere Bedienung, vorzüglichere Verpflegung und tadelloseren Komfort, obendrein noch zu sehr mäßigem Preise finden. Es ist wirklich bedauerlich, daß die Landkarten die Lage einer mit solchen Vorzügen ausgestatteten Stadt nicht genau angeben.
Doch nein, jener Fremdling schien nicht die Absicht zu haben, sich in Whaston irgend länger aufzuhalten, und das einladende Lächeln der Hoteliers blieb auf ihn jedenfalls ohne Eindruck. Wie in Gedanken versunken und ganz unachtsam auf alles um sich her, folgte er der sich am Rande des Konstitutionsplatzes hinziehenden Straße, die ein umfängliches ebenes Terrain einschließt... ohne jede Ahnung, daß er hier die öffentliche Aufmerksamkeit erregte.
Und Gott weiß, wie stark sie erregt war, diese öffentliche Aufmerksamkeit! Seit dem Auftauchen des fremden Reiters wechselten schon Herr und Diener, an der Haustür stehend, ihre Gedanken über diesen aus.
»Von wo aus ist er denn hierher gekommen?
– Von der Exeterstraße her.
– Ja, woher aber von außerhalb?
– Er soll, wie man sagt, durch die Wilcox-Vorstadt hereingekommen sein.
– Er reitet nun aber schon eine halbe Stunde hier um den Platz herum.
– Ja; er wird wohl jemand erwarten.
– Wahrscheinlich, und offenbar mit einiger Ungeduld.
– Er sieht immer die Exeterstraße hinaus.
– Von da her wird man jedenfalls kommen.
– Was heißt das ›man‹?... ›Sie‹ oder ›er‹?
– Wahrlich... er hat ein hübsches, vornehmes Aussehen!
– Sie meinen also, es handle sich hier um ein Rendez-vous?
– Ja, um ein Rendez-vous, doch nicht in dem Sinne, wie Sie es verstehen.
– Woher wollen Sie das wissen?
– Sehr einfach, der Fremdling dort hat schon dreimal vor der Tür des Herrn John Proth Halt gemacht...
– Und da Herr John Proth in Whaston als Richter fungiert...
– Nun ja, so wird der junge Mann da einen Prozeß haben...
– Und sein Gegner hat sich bis jetzt noch nicht eingefunden...
– Ganz recht.
– Schön! Na, der Richter Proth wird beide bald genug miteinander ausgesöhnt haben.
– Ja... der ist ein geschickter Mann.
– Und ein braver Mann obendrein.«
Es war ja wirklich möglich, daß das für jenen Reiter der Grund seiner Anwesenheit in Whaston war. Schon mehrmals hatte er vor der Tür John Proths sein Pferd pariert, doch ohne aus dem Sattel zu steigen. Er sah nur die Tür an und warf einen Blick nach den Fenstern des Hauses hinauf, blieb aber ruhig sitzen, so als ob er erwarte, daß jemand auf der Schwelle erschiene, bis ihn sein vor Ungeduld mit den Füßen stampfendes Pferd weiter zu reiten nötigte.
Als er dann wieder einmal an derselben Stelle hielt, öffnete sich plötzlich die Haustür und es zeigte sich ein Mann auf dem Absatz der kleinen Freitreppe, die nach dem Trottoir hinunterführte.
Kaum hatte der Fremde den Erschienenen bemerkt, als er sich schon, den Hut lüftend, an diesen mit den Worten wandte: »Herr John Proth, wenn ich nicht irre?
– Der bin ich, antwortete der Richter.
– Nur eine einfache Frage, die von Ihrer Seite nichts weiter als ein Ja oder Nein verlangt.
– Und die lautet?...
– Ist wohl heute früh schon jemand bei Ihnen gewesen, der nach Mister Seth Stanfort gefragt hat?
– Daß ich nicht wüßte.
– Danke bestens.«
Der Reiter nahm hierbei nochmals den Hut ab, ließ den Zügel lockerer und trottete in kurzem Trab die Exeterstraße hinaus.
Jetzt unterlag es – so urteilte man allgemein – keinem Zweifel mehr, daß der Unbekannte mit John Proth etwas zu tun hatte. Nach der Art und Weise, wie er seine kurze Frage stellte, war er offenbar selbst jener Seth Stanfort, der zu der bestimmten Zusammenkunft zuerst eingetroffen war. Nun gab es aber auch noch ein interessantes Rätsel zu lösen: War die Stunde des Zusammentreffens jetzt schon endgültig verpaßt, und würde der unbekannte Reiter die Stadt verlassen, um nicht wieder dahin zurückzukehren?
Da wir uns in Amerika, d. h. bei dem allerweillustigsten Volke befinden, das es hienieden gibt, wird man ohne Schwierigkeit glauben, daß bezüglich der baldigen Wiederkehr oder des endgültigen Weggangs des Fremden zahlreiche Wetten abgeschlossen wurden, Wetten um einen halben Dollar bis hinunter auf fünf bis sechs Cents – zwischen dem Personal der Hotels und den auf dem Platze zusammengeströmten Neugierigen – höhere nicht, die Beträge würden aber von den Verlierenden prompt bezahlt, und von den Gewinnern – es waren alle höchst ehrenwerte Leute – schmunzelnd eingestrichen werden.
Der Richter John Proth hatte sich begnügt, dem Reiter, der sich der Wilcox-Vorstadt zuwendete, mit den Blicken zu folgen.
Er war ein Philosoph, der Amtsrichter John Proth, ein kluger Beamter, der, so könnte man sagen, schon volle fünfzig Jahre Klugheit und Philosophie in sich aufgestapelt hatte, obgleich er selbst erst ein halbes Jahrhundert alt war, d. h. also, daß er schon ein Weiser und ein Philosoph in der Stunde war, wo er das Licht der Welt erblickte. Hierzu nehme man, daß sein Leben als Hagestolz – ein weitrer unbestreitbarer Beweis von Klugheit – nie von Sorgen getrübt worden war, was doch, das wird jedermann zugeben, die praktische Verwertung der Philosophie wesentlich erleichtert. In Whaston geboren, hatte er, selbst in den Jugendjahren, seine Vaterstadt kaum je oder überhaupt niemals verlassen, und hier wurde er von allen, die zu seinem Gerichtssprengel gehörten und die seine vortrefflichen Eigenschaften kannten, ebenso geliebt wie aufrichtig verehrt.
Von geradsinnigem Charakter, erwies er sich stets nachgiebig gegen die Schwächen, zuweilen sogar gegen die Fehler andrer Leute, und faßte seine Aufgabe nur als die Verpflichtung auf, die ihm zur Entscheidung vorliegenden streitigen Angelegenheiten auszugleichen, die Parteien, die vor seinem Tribunal erschienen, versöhnt heimzuschicken, alle Ecken und Kanten abzurunden, jedes Räderwerk gleichsam zu ölen und die in jeder, selbst der vollkommensten gesellschaftlichen Ordnung unausbleiblichen Stöße nach Möglichkeit zu mildern.
John Proth erfreute sich eines gewissen Wohlstands. Wenn er die Funktionen eines Richters erfüllte, so geschah das eigentlich nur aus Liebhaberei, und es kam ihm niemals der Gedanke, eine höhere Stellung zu erstreben. Er liebte die Ruhe, für sich und für andere, und betrachtete die Menschen alle als nahe Nachbarn, mit denen man alle Ursache hat, immer auf gutem Fuße zu stehen. Früh auf und zeitig zu Bett war seit langem seine Gewohnheit. Wenn er auch einige Lieblingsautoren der Alten und der Neuen Welt las, so begnügte er sich doch meist mit einer ehrbaren, wackeren Zeitung der Stadt, mit den »Whaston News«, worin die Anzeigen mehr Platz einnahmen als die Politik. Jeden Tag machte er einen ein- bis zweistündigen Spaziergang, bei dem die Hüte durch das viele Grüßen abgenützt wurden, was ihn dann zwang, den seinigen alle drei Monate durch einen neuen zu ersetzen. Außer der Zeit dieser Spaziergänge und der, die seine Berufstätigkeit in Anspruch nahm, blieb er in seiner friedlichen und hübsch ausgestatteten Wohnung und pflegte in seinem Garten die Blumen,