Seelenkerne. Micha Rau
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Micha Rau
Seelenkerne
Tommy Garcia
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Inhaltsverzeichnis
Magie
Als ich mich umdrehte und in die Augen meiner Freunde blickte, fühlte ich die tiefe Freundschaft, die uns verband. Doch es half nichts, ich musste mich erneut der Gefahr stellen.
Die Dunkelheit lag wie ein schwerer Vorhang über dem Loch in der Mauer. Angestrengt starrte ich in die Finsternis. Mein Fuß stieß gegen einen der kleinen Steine, die hier herumlagen. Aber das war nicht das Problem. Das Problem war, dass ich einfach nicht sehen konnte, was hinter diesem Loch lag. Jever kam herbeigehopst, nahm den Stein auf und stupste mich an.
„Nein, Jever“, sagte ich mit heiserer Stimme. „Jetzt wird nicht gespielt!“
Ich bückte mich, um ihm den Stein abzunehmen, aber unser kleiner Freund rückte ihn nicht wieder heraus. Wir zerrten beide ein Weilchen hin und her, und als Jever schließlich losließ, entglitt der Stein meinen Fingern, kullerte an den Rand des Durchbruchs und verschwand im schwarzen Nichts. Jever wollte hinterherhopsen, aber das wollte ich nicht zulassen. Nicht, bevor ich nicht wusste, was hinter dieser Öffnung war. Ich machte einen hastigen Schritt auf ihn zu, stolperte über meine eigenen Füße und schlug der Länge nach hin. Im letzten Moment erwischte ich Jever und hielt ihn mit beiden Händen fest. Fast im gleichen Augenblick verspürte ich einen Luftzug, der direkt aus dem Durchbruch zu kommen schien.
„Alles okay?“, fragte Tommy sichtlich erschreckt.
Ich nickte. „Merkt ihr das? Hier zieht es!“
Ein feiner stetiger Wind zog an uns vorüber. Noch während ich mich darauf konzentrierte, erklang aus dem Loch ein Geräusch, das mir den Magen zusammenzog. Sprachlos starrten wir uns an.
„Was war das?“, flüsterte Sanne.
Ich brauchte einige Sekunden, ehe ich antworten konnte. „Ich glaube …“, krächzte ich, „… das war der Stein!“
„Der Stein …?“ kam es entgeistert von Janine. „Welcher Stein?“
„Der, der gerade da durch gekullert ist!“
„Aber …“ Janine wurde blass. Mir selbst wurde hundeelend. Jetzt wusste ich, was sich in der Finsternis verbergen musste.
„Geht mal ein Stück zurück“, sagte Tommy. Er half mir auf die Beine, dann bückte er sich, hob einen etwas größeren Stein auf und wog ihn nachdenklich in der Hand.
„Ich glaube“, murmelte er, „wir haben ein Problem.“
Wortlos trat er an den Durchbruch und warf den Stein hindurch. Sanne wollte etwas sagen, aber Tommy bedeutete ihr, leise zu sein. Atemlos standen wir beieinander und lauschten. Dann, nach unendlich lang erscheinenden Sekunden, ertönte das Geräusch eines Aufpralls.
Ich schluckte und trat unwillkürlich einen Schritt zurück.
„Da ist ein Abgrund!“, entfuhr es mir.
Tommy nickte grimmig. „Das scheint mir ein wahrer Höllenschlund zu sein!“
„Jever wäre beinahe reingesprungen!“, entfuhr es Janine.
Ich spürte, wie meine Knie nachgaben. „Ja“, sagte ich mit brüchiger Stimme. „Und ich hinterher …“
Janine trat zu mir und nahm meine Hand. „Gott sei Dank bist du noch da!“, sagte sie und lächelte. Ich bekam kein Wort heraus. Obwohl ich es doch eigentlich schön fand, dass sie meine Hand hielt, zog sich alles in mir zusammen. Nur ein Schritt hatte gefehlt und ich wäre …
„Was machen wir denn jetzt?“, weinte Sanne. „Das war doch der einzige Weg! Jetzt kommen wir nie mehr hier raus und müssen verhungern!“
Verzweifelt suchte ich nach einer Lösung. Uns war doch immer etwas eingefallen. Aber alles in meinem Kopf drehte sich im Kreis, wirbelnde Gedankenfetzen rasten vorbei, und ich bekam keinen von ihnen zu fassen. Mit einem Mal fühlte ich mich lebendig begraben, eingeschlossen in einem Gang tief unter der Erde, unerreichbar weit entfernt von der Sicherheit meines Zuhauses. Ich begann unkontrolliert zu zittern. Ich wollte Janine ansehen und mir Trost suchen, aber ihr Gesicht verschwamm vor meinen Augen. Die Wände des Ganges, in dem wir standen, begannen zu schwanken, und unbeschreibliche Panik stieg in mir auf. Mir blieb die Luft weg, und dann …
… wachte ich auf! Schweißgebadet und heftig atmend lag ich in meinem Bett. Mit weit aufgerissenen Augen irrte mein Blick im Zimmer umher. Ruckartig richtete ich mich auf. Ich war wirklich in meinem Zimmer! Lazy lag in seinem Körbchen und schnarchte. Meine Poster hingen an der Wand, dort stand mein Computer, und die Klamotten lagen auf dem Boden verstreut, so, wie ich sie am Abend zuvor ausgezogen und hingeworfen hatte. Ich war zu Hause! Ich hatte geträumt!
Immer noch wie gelähmt vor Angst ließ ich mich auf mein Kissen zurücksinken und versuchte erst einmal, ruhig und tief ein- und auszuatmen. Warum, zum Teufel, hatte ich solch einen Alptraum gehabt? Und warum jetzt? Unser letztes Abenteuer war fast auf den Tag genau ein Jahr her. Seitdem war das Leben ruhig an mir vorbeigezogen und nichts sonderlich Aufregendes war passiert. Tommy, Janine, meine Schwester Sanne und ich waren unzertrennlich und eigentlich beinahe jede freie Sekunde zusammen. Oft sprachen wir über die Abenteuer, die wir hinter uns gebracht hatten und saßen stundenlang als eingeschworene Bande auf dem Teppich in meinem Zimmer. Doch die Spannung, die uns noch Wochen, ja Monate nach der Sache mit dem magischen Wüstenglas gefangen gehalten hatte, war dann doch langsam gewichen. Und jetzt, zwölf Monate danach, schien es sicher, dass die unbekannten Herrscher uns nicht noch einmal Einlass in ihre Welt gewähren würden.
Warum hatte ich diesen Traum geträumt?
Mein T-Shirt war total durchgeschwitzt. Ich beschloss, mir ein frisches anzuziehen und stand auf, um mir eins aus dem Kleiderschrank zu holen. Dabei fiel mein Blick auf den Wecker. Fünf Uhr morgens! Das war nun wirklich zu früh, um schon aufzustehen, und das am Sonntag. Ich warf einen Blick auf Lazy, aber der hatte nicht einmal registriert, dass ich aufgestanden war.
Es war bereits taghell im Zimmer. Das hieß, es würde wieder ein wolkenloser Tag werden. Wir hatten Anfang Juli, eine Woche der Ferien lag bereits hinter uns, und die ganze Woche über hatten Temperaturen von über dreißig Grad geherrscht. Meine Mutter machte das ganz fertig, doch wir fanden das toll, schließlich hatten wir Ferien und konnten jeden Tag baden gehen.