Seelenkerne. Micha Rau

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Seelenkerne - Micha Rau


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aus und streifte das neue über. Ich überlegte kurz. Noch mal ins Bett zurück? Nein. Ich ging zum Fenster, zog die nur angelehnten Flügel auseinander, beugte mich hinaus und blickte rechts und links die Straße hinunter. Niemand zu sehen. Es herrschte eine Ruhe, wie es sie nur sonntags gibt. Nur die Vögel machten Radau. Die Luft roch nach Sommer.

      Ich beschloss, etwas Verrücktes zu tun. Warum nicht mal am Sonntagmorgen um fünf Uhr Gassi gehen? Ich war hellwach. Lazy würde das anders sehen, aber wenn ich vorher ein Stückchen Leberwurst aus dem Kühlschrank holen würde, würde er sich schon hochwuchten.

      Ich griff mir Strümpfe und Jeans und ging leise wie ein Luchs ins Bad. Als ich das hinter mir hatte, was man morgens so macht, dachte ich kurz daran, Sanne zu wecken, aber ich ließ es dann doch. Schließlich hatte ich ja nichts Wichtiges vor. Leise wie zuvor ging ich in die Küche und schnitt eine Scheibe Leberwurst ab. Dann griff ich mir den Notizblock, den Mutter immer für ihre Einkaufslisten brauchte, riss ein Blatt ab und schrieb eine Nachricht drauf. Es konnte ja sein, dass meine Eltern mitbekamen, dass ich nicht da war. Ich platzierte den Zettel gut sichtbar auf dem Küchentisch. Danach ging ich zurück zu Lazy und wedelte mit der Leberwurst vor seiner Nase herum. Zuerst öffnete er sein linkes Auge, dann sein rechtes, und als mir schon langsam die Waden schmerzten, weil ich so verkrampft vor seinem Körbchen hockte, wuchtete er sich schließlich hoch.

      Mit der Wurst in der Hand ging ich zur Eingangstür. Ich blickte mich gar nicht um. Leberwurst ist immer noch die beste Hundeleine. Behutsam schloss ich auf, Lazy und ich schlüpften durch die Tür, und genauso behutsam schloss ich sie wieder. Lazy machte ganz leise Wuff, aber ich blieb hart. Hätte ich ihm die Scheibe jetzt schon gegeben, wäre es schwierig geworden, ihn dazu zu bewegen, bis nach unten mitzukommen.

      In dem Moment, als ich den Fuß auf die oberste Treppenstufe setzte, hörte ich ein Geräusch aus dem Stockwerk über mir. Ein Schlüssel wurde herumgedreht! Da war noch jemand um diese Uhrzeit wach! Ungläubig blieb ich stehen, registrierte, dass Lazy schon der Sabber aus der Schnauze lief, und lauschte nach oben. Tatsächlich, jetzt hörte ich das Geräusch einer sich leise öffnenden Tür. Sekunden später tappende Schritte. Verblüfft blickte ich zum nächsten Treppenabsatz nach oben. Im nächsten Augenblick sprang mir ein vor Freude japsendes Etwas in die Arme und schleckte mich ab. Jever!

      „Hör auf damit!“, rief ich lachend und wehrte vergeblich seine nassen Leckattacken ab.

      „Nicht so laut!“, kam eine Stimme von oben.

      „Tommy! Was machst du denn hier?“, fragte ich wenig geistreich.

      Tommy legte einen Finger an die Lippen und kam leise die Treppe herab. „Ich hab schlecht geträumt.“

      „Du auch?“, entfuhr es mir.

      „Ja, etwas ganz Merkwürdiges. Danach bin ich knallwach geworden. Und dann hatte ich das Gefühl, ich muss mit Jever nach draußen.“

      Ich nickte und schluckte. „Genau wie bei mir! Komm, lass uns erstmal aus dem Haus gehen. Sonst wecken wir noch jemanden.“

      Leise öffneten wir unsere schwere Haustür, die um diese Zeit noch abgeschlossen war und traten auf die Welfenallee hinaus. Unsere beiden Hunde steuerten den nächsten Baum an und pinkelten um die Wette. Ein wunderbarer Geruch lag in der Luft. Ein Geruch, den es wohl nur im Sommer frühmorgens gibt. Hoch oben im Wipfel der Linde protestierte eine Amsel, dabei sahen Jever und Lazy doch nun wirklich nicht wie Katzen aus. Ich blickte die Straße hinunter. Einige hundert Meter weiter mündete die Welfenallee am Wald in eine Sackgasse. Dort gab es ein Hundeauslaufgebiet. Und es gab noch etwas …

      Tommy stieß mich an. „Was ist? Wollen wir …?“

      „Hmm“, machte ich. „Lass uns in den Wald gehen. Um diese Uhrzeit ist dort kein Mensch.“

      Für einen Moment schaute ich in Tommys Augen und spürte die leichte Unsicherheit, die ihn gefangen hielt. Aber ich spürte auch meine.

      Tommy wollte losgehen, aber ich hielt es keine Sekunde länger aus.

      „Tommy …“, drängte ich. „Erzähl mir deinen Traum!“

      „Mach ich ja. Aber danach erzählst du mir deinen, okay?“

      „Okay.“

      Ich gab Lazy seine Leberwurst, weil ich seinen sehnsüchtigen Blick nicht mehr länger aushielt und er sie sich ja nun auch verdient hatte. Dann machten wir uns langsam auf in Richtung Wald, und Tommy begann zu erzählen. Wir schafften genau zehn Schritte.

      „Ich hab geträumt“, begann Tommy, „dass wir in einem unheimlichen Gang stecken würden. Da war ein Loch in einer Art Durchbruch. Dahinter war es stockfinster. Jever wollte mit dir spielen und hat ein Steinchen in das Loch kullern lassen. Und dann …“

      Abrupt blieb ich stehen und starrte ihn an.

      „… dann haben wir gemerkt, dass es ein Abgrund war und Jever und ich um ein Haar reingefallen wären!“, rief ich heiser.

      Tommy riss die Augen auf. „So war es! Ganz genauso war es! Woher weißt du das?“

      „Weil ich Bild für Bild genau das Gleiche geträumt habe“, krächzte ich.

      Wie auf Kommando blickten wir die Welfenallee hinunter. Ganz am Ende schimmerte das dunkle Band des Waldes. Und dort lag der magische Ort verborgen. Der Ort, der eine Pforte in die Vergangenheit barg. Vorhin noch hatte ich gedacht, ich geh einfach mal mit Lazy Gassi. Aber jetzt wusste ich, dass ich nicht nur einfach hatte Gassi gehen wollen. Nein, es war, als würde mich etwas zu unserem Grundstück ziehen. Wie eine unsichtbare Kraft. Tommy ließ sich sonst nicht so leicht aus der Ruhe bringen, aber jetzt sah ich, wie es in ihm arbeitete.

      „Vielleicht ist es ein Zeichen …“, murmelte er.

      „Glaubst du, dass wir wieder zurückkehren sollen?“, fragte ich bang. „Aber wir haben doch gar kein Problem! Oder hast du eins?“

      Tommy musste lachen. „Nein, nicht dass ich wüsste! Im Gegenteil, du weißt doch, Jesse fliegt morgen mit meiner Mutter nach New York zur Galerie. Alle Zeitungen berichten darüber. Uns geht es so gut wie noch nie. Und was ist mit euch?“

      Ich brauchte nicht überlegen. „Uns geht’s bestens. Kein Problem in Sicht. Und Janine geht es auch gut. Wenn was wäre, hätte ich es ihr bestimmt angemerkt.“

      „Hm“, machte Tommy. „Vielleicht hat es ja auch nichts zu bedeuten. Vielleicht sind wir schon so miteinander verbunden, dass wir das Gleiche träumen.“

      Ich sah ihm an, dass er nicht so recht davon überzeugt war.

      „Nein“, meinte ich. „Dann hätten wir von etwas geträumt, das wir schon erlebt oder gesehen haben. Aber diese Stelle im Gang kannte ich nicht, du etwa?“

      Tommy schüttelte den Kopf und amüsierte sich über Jever, der vor ihm herumhüpfte und endlich weiter wollte. „Nein, die kannte ich auch nicht. Weißt du, was? Wir fragen nachher die Mädchen. Wenn sie auch das Gleiche geträumt haben, dann …“

      Er sprach den Gedanken nicht zu Ende. Ja, was dann? War es ein Zeichen der unbekannten Herrscher für uns? Oder eine Warnung? Mich fröstelte. Ich wusste die Antwort nicht. Tommy gab mir einen freundschaftlichen Klaps und zog mich mit sich.

      „Na, komm schon. Lassen wir die Hunde ein wenig toben. Was meinst du, gehen wir bis zum Wald?“

      Ich nickte nur. Ich wollte unbedingt das Grundstück sehen. Einfach nur vergewissern, dass es verwildert war und dass das kleine, graubraun verputzte Haus darauf stand. Denn wenn alles so war, wie es sein sollte, dann hatte der Traum nichts weiter zu bedeuten. Aber wenn nicht…

      Ich rief nach Lazy und folgte Tommy mit gemischten Gefühlen. Ich hatte noch nie gehört, dass zwei Leute in derselben Nacht genau das Gleiche geträumt hatten. So einen Zufall gab es nicht. Oder doch?

      Schweigend und nachdenklich schlenderten wir die Welfenallee hinunter. Es war gerade einmal halb sechs und unsere Gegend wie ausgestorben. Als wir uns dem Ende unserer Straße näherten, überkam mich ein seltsames Gefühl. Meine Beine wurden


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