Drei Musketiere - Eine verlorene Jugend im Krieg, Band 24. Frank Hille
Читать онлайн книгу.sagte ihm, dass die Geschosse ihren Bereich treffen würden. Mit dem tief eingeschliffenen Reflex eines erfahrenen Frontkämpfers wusste er, dass er auf der offenen Fläche im Falle eines Einschlages in der Nähe verloren wäre. Ansatzlos sprintete er in Richtung des vorderen Grabens zurück und rief dem Kompaniechef, ihm zu folgen. Die 20 Meter bis dahin schaffte er kurz vor dem Moment als die Geschosse etwa zehn Meter von der Stelle, wo er gerade gewesen war, auf dem Gelände auftrafen. Weber war bäuchlings in den Graben gestürzt und lag so gut anderthalb Meter unter dem Geländeniveau. Auch der Kompaniechef hatte es in den Graben geschafft. Durch die Nähe der eng beieinanderliegenden Detonationen spürte er das Beben des Bodens ganz deutlich, Dreck rieselte aus den Grabenwänden. In der nächsten Sekunde wurde er auf dem Boden liegend wieder ein Stück emporgehoben. Die nächste Salve hatte eingeschlagen. Dann brach das Inferno weiter rechts von ihm noch einmal los, vermutlich hatten ein oder zwei Batterien gleichzeitig gefeuert. Sein Verband bestand zum Teil aus Infanteristen, aber diese waren alle in den Gräben, die Panzerleute hockten in ihren Fahrzeugen. Wenn sie Glück gehabt hätten, wären die Schäden durch den Beschuss vielleicht nicht ganz so schlimm, aber das konnte er natürlich noch nicht einschätzen.
Vor dem Höhenzug ging das Sterben weiter. Die deutsche Artillerie schoss mit höchster Intensität in die Menschen- und Panzeransammlung des Gegners. Jeder vernünftige Befehlshaber würde das Ziel ausgeben, die Höhen schnellstens mit den momentan auf dem Gefechtsfeld vorhandenen Einheiten zu erreichen, um das vollkommen verstopfte Gelände wieder für weitere nachzuführende Kräfte passierbar zu machen. Schukow stand aber so unter Druck, der von Stalin und dem südlich von ihm ungestüm vorrückenden Konjew ausging, dass er trotz der chaotischen Verhältnisse auf dem Gefechtsfeld bereits jetzt seine Reserven mobilisierte, um diese nach vorn zu werfen. Damit provozierte er regelrecht eine Verschlimmerung der Lage, denn schon jetzt kamen seine Truppen nicht mehr richtig voran, da allen der Raum fehlte. Vor dem Höhenzug stockte der Angriff, da die eigene Artillerie zum Teil immer noch zu kurz und so in die eigenen Reihen schoss.
Günther Weber hatte sich aufgerappelt und schaute aus dem Graben. Zur Oder hin hatte sich auf dem Gefechtsfeld nichts geändert, noch immer mühte sich der Gegner meterweise vorwärts. Jetzt hörte er trotz des Getöses ringsum Schreie. Er kam aus dem Graben heraus und sah schon beim Hochklettern, dass die Salven der russischen Raketenwerfer genau in einen der hinteren Gräben getroffen hatten. Dieser Graben stellte mit eine Verbindung zu den noch weiter hinten angelegten Munitionsbunkern dar. Weber ging langsam auf die Stelle zu, so, als wollte er den Blick auf diesen Bereich möglichst lange herauszögern, nicht aus Angst vor dem vermutlich grausamen Anblick, sondern weil er die Wirkung auf seine Soldaten erahnen konnte. Viele der Grenadiere waren jungen Burschen, die erst unmittelbar vor dem jetzt bald kommenden Kampf ausgebildet worden waren. Für sie waren Bilder von Tod und Verstümmelung noch ungewohnt und es würde sie schockieren, wie schrecklich Menschen verletzt werden konnten. Die Salvengeschosse drangen nicht besonders tief in die Erde ein, sondern streuten ihre Splitter weit im Gelände und oberhalb der Grasnarbe. Ein schwerer Zugkraftwagen 12t war relativ nah hinter den Jagdpanzern aufgestellt worden, um diese gegebenenfalls aus ihren Stellungen herausziehen zu können. Von dem fast 3 Meter hohen Fahrzeug war faktisch nur noch das massive Fahrwerk mit dem Halbkettenantrieb übriggeblieben, alles was sich darüber an Aufbauten befunden hatte, war durch die enorme Splitterwirkung weggeblasen worden. Selbst die breiten stählernen Laufrollen waren an vielen Stellen perforiert und durchschlagen worden. Keine drei Meter neben der Maschine waren zwei flache Sprengtrichter zu sehen und ein Brei von menschlichen Körperteilen. Die linke Seite des Laufwerks des Fahrzeuges sah wie rot lackiert aus, die Wucht des Sprengstoffs hatte Stücke von Fleisch, Knochen und Blut der Soldaten an die Maschine geklatscht. Rechts neben dem Fahrzeug waren die Männer etwas im Feuerlee gewesen. Weber hatte diesen Begriff des Lee einmal von Martin Haberkorn aufgeschnappt, der nichts weiter besagte, als dass das die dem Wind abgewandte Seite eines Seefahrzeuges wäre. Diese Art stählerne Barrikade in Gestalt der Zugmaschine hatte die dort befindlichen Grenadiere etwas schützen können, aber trotzdem waren vier der Soldaten schwerst verletzt worden. Ein Sanitäter war bereits bei den Verwundeten und kniete auf dem Boden. Zwei der jungen Männer waren bewusstlos, und Weber hoffte, dass sie auch nicht mehr aufwachten. Einem hatte ein Splitter den rechten Arm unterhalb des Schultergelenks abgetrennt, dem anderen Sprengstücke den Bauchraum aufgerissen und die Bauchhöhle freigelegt. Neben dem Amputierten hatte sich eine große Blutlache gebildet, der Mann würde gleich tot sein. Weber sah bei dem Bauchverletzten eine blasse blutige Masse im Leib und herausquellende fahle Därme. Die anderen beiden waren äußerlich unversehrt, aber auch getroffen worden. Einem waren Splitter in den Genitalbereich gefahren, und der junge Mann schrie grauenerregend. Der andere lag seltsam verkrampft auf der Seite und hatte die Beine angezogen und unter seinen Leib gedrückt. Aus seinem Mund, seiner Nase und den Ohren pulste Blut. Der Soldat hatte den Mund weit aufgerissen und wollte vermutlich seinen Schmerz herausbrüllen, aber sein Körper zuckte schon konvulsivisch und Weber wusste, dass er in ein paar Sekunden tot sein würde.
Als Günther Weber in den Krieg gegangen war hatte er das mit der Überzeugung verbunden gewesen, im Falle einer Verletzung schnell und gut versorgt zu werden. Damals war ihm noch nicht klar gewesen, dass es eben nicht nur um Schusswunden ging, deren Schmerzen ein Mann durchaus aushalten konnte, und die heilbar waren. Im Verlauf der Zeit und nach vielen Gefechten war diese Hoffnung aber der bitteren Erkenntnis gewichen, dass der menschliche Körper als kompliziertes Gebilde so verletzlich war, dass ein winziger Metallsplitter das Leben von gerade auf jetzt beenden konnte. Natürlich wusste er als Freiwilliger, dass er mit seiner Verpflichtung den Tod mit einkalkulieren musste, aber wie fast jeder Mensch verdrängte er diesen Gedanken. Er hatte auch miterleben müssen, wie gute Kameraden starben oder zum Krüppel geschossen wurden. Das schien ihm die schlimmste Alternative zu sein, denn es traf fast ausschließlich junge Männer. Bis jetzt hatte er immer noch viel Glück gehabt und war nur leicht verwundet worden. Er schaute den Sanitäter an.
„Es ist gleich vorbei“ sagte der Mann ausdruckslos „hier gibt es keine Hilfe mehr. Wir lassen sie hier sterben, ein Abtransport ist sinnlos. Ich wüsste auch nicht wer das wie bewerkstelligen sollte, und es würde auch zu lange dauern. Bis ihnen geholfen werden könnte sind sie ohnehin tot. Die beiden dort sind gleich verblutet, die hier auch, allerdings innerlich. Aber spielt ja keine Rolle, tot ist tot, egal wie es dazu gekommen ist. Ich kann hier nichts tun.“
Weber sah den Sanitäter schweigend an. Manchmal fragte er sich, wie die Leute vom Sanitätsdienst nervlich überhaupt über die Runden kamen. Ihre gesamte Tätigkeit bestand darin festzustellen, wie stark ein Mensch geschädigt worden war und dann zu entscheiden, ob noch Hilfe möglich und sinnvoll wäre. So gesehen handelten sie rational, einem Soldaten Hilfe zu leisten, der sowieso in kurzer Zeit sterben würde, wäre sicher ohne Nutzen. Aber sie waren eben keine Automaten ohne Gefühle, und sie trafen Entscheidungen über Leben und Tod. Wie sie bei all diesem Grauen durch die Nächte kamen war für Weber kaum vorstellbar. Natürlich hatte er auch genug Grausames gesehen, aber es bestimmte nicht seine gesamte Zeit als Soldat. Einige andere Grenadiere lugten entsetzt aus ihren Deckungen, direkt vor ihren Augen starben Kameraden und für sie stand fest, dass es sie auch jederzeit erwischen konnte.
Noch war der Kampf für die Einheit gar nicht richtig losgegangen, aber wenn es Mann gegen Mann heißen würde, dann würden sie die Apokalypse erst richtig erleben. Wer überleben sollte, müsste die Last der grausamen Bilder dann für immer mit sich herumtragen.
Martin Haberkorn, 17. April 1945, Kiel
Sobald es möglich gewesen war hatte Martin Haberkorn tauchen befohlen, und das Boot auf 40 Meter Tiefe einsteuern lassen. Bis Horten waren es rund 600 Kilometer und der Vorteil der Reise war der, dass sie ab dem Kattegat nahezu in Null-Grad-Richtung laufen mussten, die Navigation also demzufolge unproblematisch war. Das kam ihm entgegen, denn er konnte nicht behaupten, dass die Besatzung auf dem neuen Bootstyp schon gut eingefahren wäre. Fast alle an Bord brachten viel Erfahrung mit und die grundlegenden Dinge, die ein Tauchboot betrafen und dessen Verhalten beeinflussten, hatten sich ja nicht prinzipiell verändert. Weiterhin galten die Regeln der Physik und der Chemie und die Konstruktion des Bootes war zwar ein gewaltiger Fortschritt, aber er es war bei den alten Wirkprinzipien geblieben. Was er sich als Techniker gewünscht hätte wäre ein vollkommen