Dichtung und Wahrheit. Johann Wolfgang von Goethe

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Dichtung und Wahrheit - Johann Wolfgang von Goethe


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stillen Wirkung versammelte; weil ich auf keine andere Weise den Frieden zu schildern vermöchte, der mich umgab, wenn es auch draußen noch so wild und wunderlich herging. Wenn eine stets geschäftige Einbildungskraft, wovon jenes Märchen ein Zeugnis ablegen mag, mich bald da- bald dorthin führte, wenn das Gemisch von Fabel und Geschichte, Mythologie und Religion mich zu verwirren drohte, so flüchtete ich gern nach jenen morgenländischen Gegenden, ich versenkte mich in die ersten Bücher Mosis und fand mich dort unter den ausgebreiteten Hirtenstämmen zugleich in der größten Einsamkeit und in der größten Gesellschaft.

      Diese Familienauftritte, ehe sie sich in eine Geschichte des israelitischen Volks verlieren sollten, lassen uns nun zum Schluß noch eine Gestalt sehen, an der sich besonders die Jugend mit Hoffnungen und Einbildungen gar artig schmeicheln kann: Joseph, das Kind der leidenschaftlichsten ehelichen Liebe. Ruhig erscheint er uns und klar, und prophezeit sich selbst die Vorzüge, die ihn über seine Familie erheben sollten. Durch seine Geschwister ins Unglück gestoßen, bleibt er standhaft und rechtlich in der Sklaverei, widersteht den gefährlichsten Versuchungen, rettet sich durch Weissagung, und wird zu hohen Ehren nach Verdienst erhoben. Erst zeigt er sich einem großen Königreiche, sodann den Seinigen hülfreich und nützlich. Er gleicht seinem Urvater Abraham an Ruhe und Großheit, seinem Großvater Isaak an Stille und Ergebenheit. Den von seinem Vater ihm angestammten Gewerbsinn übt er im großen: es sind nicht mehr Herden, die man einem Schwiegervater, die man für sich selbst gewinnt, es sind Völker mit allen ihren Besitzungen, die man für einen König einzuhandeln versteht. Höchst anmutig ist diese natürliche Erzählung, nur erscheint sie zu kurz, und man fühlt sich berufen, sie ins einzelne auszumalen.

      Ein solches Ausmalen biblischer, nur im Umriß angegebener Charaktere und Begebenheiten war den Deutschen nicht mehr fremd. Die Personen des Alten und Neuen Testaments hatten durch Klopstock ein zartes und gefühlvolles Wesen gewonnen, das dem Knaben sowie vielen seiner Zeitgenossen höchlich zusagte. Von den Bodmerischen Arbeiten dieser Art kam wenig oder nichts zu ihm; aber »Daniel in der Löwengrube«, von Moser, machte große Wirkung auf das junge Gemüt. Hier gelangt ein wohldenkender Geschäfts- und Hofmann durch mancherlei Trübsale zu hohen Ehren, und seine Frömmigkeit, durch die man ihn zu verderben drohte, ward früher und später sein Schild und seine Waffe. Die Geschichte Josephs zu bearbeiten war mir lange schon wünschenswert gewesen; allein ich konnte mit der Form nicht zurecht kommen, besonders da mir keine Versart geläufig war, die zu einer solchen Arbeit gepaßt hätte. Aber nun fand ich eine prosaische Behandlung sehr bequem und legte mich mit aller Gewalt auf die Bearbeitung. Nun suchte ich die Charaktere zu sondern und auszumalen, und durch Einschaltung von Inzidenzien und Episoden die alte einfache Geschichte zu einem neuen und selbstständigen Werke zu machen. Ich bedachte nicht, was freilich die Jugend nicht bedenken kann, daß hiezu ein Gehalt nötig sei, und daß dieser uns nur durch das Gewahrwerden der Erfahrung selbst entspringen könne. Genug, ich vergegenwärtigte mir alle Begebenheiten bis ins kleinste Detail, und erzählte sie mir der Reihe nach auf das genauste.

      Was mir diese Arbeit sehr erleichterte, war ein Umstand, der dieses Werk und überhaupt meine Autorschaft höchst voluminos zu machen drohte. Ein junger Mann von vielen Fähigkeiten, der aber durch Anstrengung und Dünkel blödsinnig geworden war, wohnte als Mündel in meines Vaters Hause, lebte ruhig mit der Familie und war sehr still und in sich gekehrt, und, wenn man ihn auf seine gewohnte Weise verfahren ließ, zufrieden und gefällig. Dieser hatte seine akademischen Hefte mit großer Sorgfalt geschrieben, und sich eine flüchtige leserliche Hand erworben. Er beschäftigte sich am liebsten mit Schreiben, und sah es gern, wenn man ihm etwas zu kopieren gab; noch lieber aber, wenn man ihm diktierte, weil er sich alsdann in seine glücklichen akademischen Jahre versetzt fühlte. Meinem Vater, der keine expedite Hand schrieb, und dessen deutsche Schrift klein und zittrig war, konnte nichts erwünschter sein, und er pflegte daher, bei Besorgung eigner sowohl als fremder Geschäfte, diesem jungen Manne gewöhnlich einige Stunden des Tags zu diktieren. Ich fand es nicht minder bequem, in der Zwischenzeit alles, was mir flüchtig durch den Kopf ging, von einer fremden Hand auf dem Papier fixiert zu sehen, und meine Erfindungs-und Nachahmungsgabe wuchs mit der Leichtigkeit des Auffassens und Aufbewahrens.

      Ein so großes Werk als jenes biblische prosaisch-epische Gedicht hatte ich noch nicht unternommen. Es war eben eine ziemlich ruhige Zeit, und nichts rief meine Einbildungskraft aus Palästina und Ägypten zurück. So quoll mein Manuskript täglich um so mehr auf, als das Gedicht streckenweise, wie ich es mir selbst gleichsam in die Luft erzählte, auf dem Papier stand, und nur wenige Blätter von Zeit zu Zeit umgeschrieben zu werden brauchten.

      Als das Werk fertig war, denn es kam zu meiner eignen Verwunderung wirklich zustande, bedachte ich, daß von den vorigen Jahren mancherlei Gedichte vorhanden seien, die mir auch jetzt nicht verwerflich schienen, welche, in ein Format mit »Joseph« zusammengeschrieben, einen ganz artigen Quartband ausmachen würden, dem man den Titel »Vermischte Gedichte« geben könnte; welches mir sehr wohl gefiel, weil ich dadurch im stillen bekannte und berühmte Autoren nachzuahmen Gelegenheit fand. Ich hatte eine gute Anzahl sogenannter anakreontischer Gedichte verfertigt, die mir wegen der Bequemlichkeit des Silbenmaßes und der Leichtigkeit des Inhalts sehr wohl von der Hand gingen. Allein diese durfte ich nicht wohl aufnehmen, weil sie keine Reime hatten, und ich doch vor allem meinem Vater etwas Angenehmes zu erzeigen wünschte. Desto mehr schienen mir geistliche Oden hier am Platz, dergleichen ich zur Nachahmung des »Jüngsten Gerichts« von Elias Schlegel sehr eifrig versucht hatte. Eine zur Feier der Höllenfahrt Christi geschriebene erhielt von meinen Eltern und Freunden viel Beifall, und sie hatte das Glück, mir selbst noch einige Jahre zu gefallen. Die sogenannten Texte der sonntägigen Kirchenmusiken, welche jedesmal gedruckt zu haben waren, studierte ich fleißig. Sie waren freilich sehr schwach und ich durfte wohl glauben, daß die meinigen, deren ich mehrere nach der vorgeschriebenen Art verfertigt hatte, ebensogut verdienten komponiert und zur Erbauung der Gemeinde vorgetragen zu werden. Diese und mehrere dergleichen hatte ich seit länger als einem Jahre mit eigener Hand abgeschrieben, weil ich durch diese Privatübung von den Vorschriften des Schreibemeisters entbunden wurde. Nunmehr aber ward alles redigiert und in gute Ordnung gestellt, und es bedurfte keines großen Zuredens, um solche von jenem schreibelustigen jungen Manne reinlich abgeschrieben zu sehen. Ich eilte damit zum Buchbinder, als ich gar bald den saubern Band meinem Vater überreichte, munterte er mich mit besonderm Wohlgefallen auf, alle Jahre einen solchen Quartanten zu liefern; welches er mit desto größerer Überzeugung tat, als ich das alles nur in sogenannten Nebenstunden geleistet hatte.

      Noch ein anderer Umstand vermehrte den Hang zu diesen theologischen oder vielmehr biblischen Studien. Der Senior des Ministeriums, Johann Philipp Fresenius, ein sanfter Mann, von schönem gefälligen Ansehen, welcher von seiner Gemeinde, ja von der ganzen Stadt als ein exemplarischer Geistlicher und guter Kanzelredner verehrt ward, der aber, weil er gegen die Herrnhuter aufgetreten, bei den abgesonderten Frommen nicht im besten Ruf stand, vor der Menge hingegen sich durch die Bekehrung eines bis zum Tode blessierten freigeistischen Generals berühmt und gleichsam heilig gemacht hatte, dieser starb, und sein Nachfolger Plitt, ein großer, schöner, würdiger Mann, der jedoch vom Katheder (er war Professor in Marburg gewesen) mehr die Gabe zu lehren als zu erbauen mitgebracht hatte, kündigte sogleich eine Art von Religionskursus an, dem er seine Predigten in einem gewissen methodischen Zusammenhang widmen wolle. Schon früher, da ich doch einmal in die Kirche gehen mußte, hatte ich mir die Einteilung gemerkt, und konnte dann und wann mit ziemlich vollständiger Rezitation einer Predigt großtun. Da nun über den neuen Senior manches für und wider in der Gemeine gesprochen wurde, und viele kein sonderliches Zutrauen in seine angekündigten didaktischen Predigten setzen wollten, so nahm ich mir vor, sorgfältiger nachzuschreiben, welches mir um so eher gelang, als ich auf einem zum Hören sehr bequemen, übrigens aber verborgenen Sitz schon geringere Versuche gemacht hatte. Ich war höchst aufmerksam und behend; in dem Augenblick, daß er Amen sagte, eilte ich aus der Kirche und wendete ein paar Stunden daran, das, was ich auf dem Papier und im Gedächtnis fixiert hatte, eilig zu diktieren, so daß ich die geschriebene Predigt noch vor Tische überreichen konnte. Mein Vater war sehr glorios über dieses Gelingen, und der gute Hausfreund, der eben zu Tische kam, mußte die Freude teilen. Dieser war mir ohnehin höchst günstig, weil ich mir seinen »Messias« so zu eigen gemacht hatte, daß ich ihm, bei meinen öftern Besuchen, um Siegelabdrücke für meine Wappensammlung zu holen, große Stellen davon vortragen konnte, so daß ihm die Tränen in den Augen


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