Tante Lisbeth. Honore de Balzac
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Honoré de Balzac
Tante Lisbeth
Inhaltsverzeichnis
Honoré de Balzac
Honoré de Balzac war ein französischer Schriftsteller. In den Literaturgeschichten wird er, obwohl er eigentlich zur Generation der Romantiker zählt, mit dem 16 Jahre älteren Stendhal und dem 22 Jahre jüngeren Flaubert als Dreigestirn der großen Realisten gesehen.
Vorwort
»Durch den Eingang in der Rue de Raynouard«, so beschrieb Egon Erwin Kisch 1925 das »Fuchsloch des Herrn Balzac«, »steigt man die Treppen abwärts, bis man auf einen Hof kommt, der zwei Stockwerke unter dem Niveau der Straße liegt; dort steht ein Häuschen, aus dem man durch eine bedeckte Falltür wieder zwei Stockwerke hinabschreiten kann, in einen zweiten Hof und aus diesem in die Rue du Roc hinaus, die heute Rue Berton heißt... Hier saß Balzac, der reichste aller Gestalter, hier saß er Tag und Nacht, acht Jahre lang, hier schrieb er die ›Tante Lisbeth‹, den ›Vetter Pons‹, ›Glanz und Elend der Kurtisanen‹, hier schrieb er die fünf Akte des ›Mercadet‹ und achtzehn heißbewegte, starke Bücher, der größte Phantast der Realität, ein anerkannter Meister und doch von der Académie verschmäht, ein mit Verlagsaufträgen überhäufter Schriftsteller und der fleißigste, produktivste, den je die Welt gesehen, hier saß er und – ward die Angst vor dem Schuldturm nicht los.«
Honoré de Balzac begann als Verfasser von Sensationsromanen, als Verleger, Buchdrucker und Schriftgießer; seine Existenz war abenteuerlich und gefährdet wie die seiner Romangestalten, und man wird verstehen, weshalb die finanzielle Verschuldung in seinen Büchern so häufig begegnet. Der wirtschaftliche Niedergang des einzelnen, daneben aber die Intrige und die maßlose Leidenschaft – dies sind wichtige Motive seiner Romane, und sie zeichnen das einmalige Bild einer Zeit mit ihren Menschen, Konflikten und Veränderungen.
Balzacs Werke stehen in der großen gesellschaftskritischen Tradition französischer Epik, die mit der Aufklärung beginnt und bis in unsere Tage führt. Seit Balzac jedoch äußert sich das Bestreben, in dieser Widerspiegelung und Kritik der Gesellschaft umfassend zu werden; der einzelne Roman genügt nicht mehr, der Romanzyklus wird zu einer bestimmenden Kunstform der erzählenden Literatur in Frankreich. Mit Balzac findet dieses Gestaltungsprinzip seinen Beginn, seine erste große Vollendung, und derart sind Werke wie »Tante Lisbeth«, »Cäsar Birotteau« und »Vater Goriot« durch gemeinsame Gestalten miteinander verknüpft. Sie gehören zu jenem nahezu hundert Novellen und Romane umfassenden Riesenwerk, das der Dichter als eine Einheit sah. Er nannte es »Comédie humaine«, »Menschliche Komödie«, und es ist seinem Inhalt nach eine bürgerliche Komödie.
Balzacs Romane spielen zum überwiegenden Teil in der Zeit zwischen den beiden Revolutionen von 1830 und 1848, in der Zeit der »bürgerlichen Monarchie« des Königs Louis Philippe. Das französische Großbürgertum ist bereits unumschränkter Beherrscher des Landes; das eigentliche Schicksal der Nation wird an den Pariser Banken entschieden. Bestechung, Spekulation und die moralische Entwürdigung des Menschen kennzeichnen das Leben in den herrschenden Schichten – so wie es fast an allen Hauptfiguren in »Tante Lisbeth« deutlich wird.
Balzac verachtete den Bourgeois, aber diese Abneigung entsprang seiner politischen Einstellung als Legitimist: er war Anhänger des Königshauses und der alten Vorrechte des Adels. So steht in vielen seiner Bücher neben dem Bourgeois der Aristokrat (in »Tante Lisbeth« ist es der Gegensatz Hulot – Crevel), doch ungeachtet seiner Weltanschauung wird Balzac zum unnachsichtigen Kritiker der gesamten Gesellschaft. Die ihn umgebende Wirklichkeit war stärker als die persönliche Überzeugung und zwang ihn zu dauernden Korrekturen seiner Einstellung. Darauf gründete sich Balzacs künstlerische Größe; dies war es, worum ihn Friedrich Engels so außerordentlich bewunderte. Balzac hat den historisch notwendigen, doch im einzelnen so widerspruchsvollen Vorgang der Kapitalisierung nach der Restauration und dem Julikönigtum in Frankreich genau nachgezeichnet und die Vielfalt der Erscheinungen zu einem künstlerischen Bild von höchstem literarischem Rang vereinigt.
Rolf Schneider
Tante Lisbeth
Es war um die Mitte des Juli im Jahre 1838. Ein dicker Herr mittlerer Größe in der Uniform eines Hauptmanns der Bürgerwehr fuhr in einer der damals unlängst in Paris Mode gewordenen Droschken, die man »Mylords« nannte, durch die Rue de l'Université.
Unter den angeblich so geistreichen Parisern gibt es Männer, die sich in Uniform unsagbar besser gefallen als in ihrer gewöhnlichen Tracht. Dabei trauen sie den Frauen einen so schlechten Geschmack zu, daß sie sich einbilden, der Anblick eines Waffenrocks und einer Bärenmütze mache einen unwiderstehlichen Eindruck auf sie.
Die Mienen des Hauptmanns – er war von der zweiten Legion – strahlten vor Selbstzufriedenheit. Seine rote Gesichtsfarbe und seine Pausbacken leuchteten mit. Angesichts dieses Glorienscheines – einer Eigentümlichkeit reichgewordener Krämer, die sich zur Ruhe gesetzt haben – wußte man sofort, daß man einen der Auserwählten von Paris, zum mindesten einen gewesenen Stadtrat vor sich hatte. Auch fehlte das Bändchen der Ehrenlegion auf dieser preußisch-schneidigen Heldenbrust nicht. In hochmütiger Haltung lehnte der Ordensträger in der Ecke seines »Mylord« und ließ den Blick über die Leute auf der Straße hingleiten. In Paris empfängt man so oft ein freundliches Lächeln, das fernen schönen Augen gilt.
Der Wagen hielt zwischen der Rue de Bellechasse und der Rue de Bourgogne vor dem Tor eines großen neuerbauten Hauses. Es stand auf einem Teil eines alten Gartengrundstücks. Das alte Gebäude selbst hatte man verschont; bescheiden wie es war, fristete es sein Dasein im Hintergrunde des nunmehr um die Hälfte geschmälerten Hofes.
Schon an der Art und Weise, wie der Hauptmann beim Aussteigen die Hilfeleistung des Kutschers in Anspruch nahm, konnte man den Fünfziger erkennen. Es gibt gewisse Gebärden, deren unverhohlene Schwerfälligkeit ganz so indiskret ist wie ein Geburtsschein. Der Hauptmann zog seinen rechten gelben Handschuh wieder an und betrat, ohne sich um den Pförtner zu kümmern, die kleine Freitreppe vor dem Hause mit dem Gebaren des Eigentümers. Die Pariser Portiers haben feine Nasen; es fällt ihnen nicht ein, mit Orden und in Uniform einherstolzierende Leute anzuhalten. Kurz, sie kennen den Reichen.
Das ganze Erdgeschoß des Hauses bewohnte der Baron Hulot von Ervy. Während der Republik war er Oberkriegskommissar gewesen, dann Generalintendant der Armee, schließlich war er Chef einer der wichtigsten Abteilungen im Kriegsministerium geworden, Staatsrat, Großoffizier der Ehrenlegion und anderes mehr. Dieser Baron Hulot hatte seinem Namen das »von Ervy« – er stammte aus Ervy – eigenmächtig hinzugesetzt, um sich von seinem Bruder zu unterscheiden, dem berühmten General Hulot, ehemaligem Obersten der Kaiserlichen Gardegrenadiere, den Seine Majestät nach dem Feldzuge von 1809 zum Grafen von Pforzheim ernannt hatte. Der ältere Bruder, der Graf, der bei seinem jüngeren Bruder den Vater vertreten mußte, hatte ihn fürsorglich bei der Heeresverwaltung untergebracht. Des Bruders sowie seiner eigenen Verdienste wegen war Hektor von Hulot Baron und Günstling Napoleons geworden und 1807 – wie gesagt – Generalintendant der Armee in Spanien.
Nach dem Läuten strich sich der Bürgergardist mit peinlicher Sorgfalt seinen Waffenrock glatt, der sich dem stattlichen Bäuchlein zuliebe hinten wie vorn wellenförmig hinaufgeschoben hatte. Sobald ihn der Diener in Livree wahrnahm, ward er eingelassen. Der gewichtig-wichtige Mann folgte dem Lakaien, der ihn beim öffnen der Salontür meldete:
»Herr Crevel!«
Beim Hören dieses Namens, der ins Deutsche übersetzt