Aus dem Dunkel. Friedrich Lotter

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Aus dem Dunkel - Friedrich Lotter


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Eltern, die sich nun antisemitische Ausfälle erlaubten: "Ich darf mit Dir nicht mehr spielen, Du bist Jude!" Gerda Stein erzählt, wie sie in der Schule mit steingefüllten Schneebällen beworfen wurde, doch ein Mitschüler vermittelt habe: "Lass die, die ist nur eine Halbe!" Der Knirps wusste also, dass sie nur „Halbjüdin“ war.

      Mit den sich ständig verschlechternden Lebensumständen in Frankfurt wurde schon 1933 der Besuch von Universitäten für Juden wegen ihrer „Überrepräsentation“ erschwert. Leo Lapidas studierte in Berlin an der Humboldt-Universität. Im Juli 1933 entschied die Universität nach Begutachtung eines umfangreichen Fragebogens: "Gegen ein Weiterstudieren bestehen keine Bedenken, da der Vater als Frontkämpfer anzusehen ist". Dennoch musste Lapidas die Universität bald darauf verlassen, da er, wie er schildert, in der dort herrschenden antisemitischen Atmosphäre kaum atmen, geschweige denn studieren konnte.

      Viele jüdische Kinder wurden bereits 1935 von den höheren Schulen verwiesen, denn im Gefolge der Nürnberger Gesetze wurde per Numerus Clausus der Anteil der Juden in den Gymnasien dem an der Gesamtbevölkerung angeglichen. So musste Jachin Simon 1935 das Friedrichsgymnasium verlassen, obwohl der Direktor den Verlust des begabten Schülers bedauerte. Auch im Verkehr der Erwachsenen änderte sich viel, bei Ärzten, Rechtsanwälten, Geschäftsleuten nahm die Zahl der Kunden ab. Nachbarn und frühere Freunde wechselten bei Begegnungen auf die andere Straßenseite. Der Boykott am 1. April 1933 traf alle schwer. Dr. Benno Baswitz, Angehöriger einer seit Jahrhunderten in Frankfurt ansässigen Druckerfamilie, und ein Kaufleuteehepaar nahmen sich damals schon das Leben. Der beliebte Zahnarzt Gumpert wurde von SA-Leuten gezwungen, das mit Farbe auf den Bürgersteig vor seinem Haus geschmierte Wort "Jude" auf den Knien zu beseitigen.

      Dennoch gibt es auch zahlreiche Gegenbeispiele. Ada Neumark betont, dass sie, solange sie das Lyzeum besuchte, bis 1938 von keiner ihrer Klassenkameradinnen jemals ein beleidigendes Wort gehört habe, einige sie auch nach wie vor zu Hause besuchten, gemeinsam Schul­arbeiten machten, Bücher tauschten oder Kanons sangen. Nicht nur unter der Bevölkerung, sondern auch unter Beamten und auch der Polizei und sogar der SA gab es immer wieder Beispiele von Sympathie oder gar Freund­schaft mit und Hilfsbereitschaft für Juden. So wurde der Synagogendiener Salo Glass noch einige Zeit vor der Kristallnacht von einem SA-Sturmführer zusammen mit SA- und SS-Leuten zu dessen 50. Geburtstag eingeladen. Leo Nehab betont, dass die Verhafteten nach der Kristallnacht im Frankfurter Gefängnis von den dort tätigen Beam­ten, meist älteren Leuten mit preußischer Tradition, freundlich behandelt wurden, ein absoluter Gegensatz zu dem schrecklichen Empfang in Sachsenhausen. Als Arnold Naftaniel Betrieb und Haus in der Dammvorstadt eingebüßt hatte, zur Zwangsarbeit rekrutiert war und seine beschränkten Lebensmittelrationen kaum noch zum Leben ausreichten, kamen seine früheren Arbeiter nachts in seine Wohnung und versorgten ihn.

      Immer wieder berichten die Überlebenden von ihren Eltern, dass diese entschieden antizionistisch und meist deutschnational oder nationalliberal eingestellt waren. Die Väter waren stolz auf ihre Kriegsauszeichnungen und vertraten die Ansicht, die Judenhetze meine nicht sie, sondern nur die Ostjuden, und Hitler sei ohnehin nur eine Episode. Besonders tragisch ist die Schilderung von Ruth Naftaniel über ihre Eltern. Trotz aller schlimmen Erfahrungen, Berufsverbot, Hausenteignung, Plünderungen, Verhaftungen und Rekrutierung zu Zwangsarbeit fühlte sich ihr Vater noch immer als Deutscher, dem dies alles eigentlich nicht galt. Obwohl ihn seine Frau und seine bereits ausgewanderte Schwester beschworen, Deutschland sofort zu verlassen, weigerte er sich, bis es zu spät war. So zog er auch seine Frau mit ins Verderben.

      In der Regel waren es die Frauen, die ihre Männer dazu bewogen, zunächst die Kinder in Sicherheit zu bringen und dann auch selbst endlich die Konsequenzen zu ziehen. Den jüdischen Familienvätern war der Zionismus und der Gedanke an eine jüdische Zukunft in Palästina 1933 weitgehend fremd. Auch die Frankfurter Rabbiner, Maybaum ebenso wie Cassell, standen dem Zionismus kritisch gegenüber und sahen die jüdische Zukunft weiterhin in der Diaspora. Immerhin haben Vertreter der jüdischen Gemeinde die Eltern schon früh zu überzeugen versucht, ihre Kinder ins Ausland zu schicken. Tatsächlich erkannten viele Familien schon 1933, spätestens nach den Boykottmaßnahmen gegen jüdische Geschäfte am 1. April, dass es ratsam sei, ältere Kinder mit abgeschlossener Berufsausbildung nach Palästina zu schicken. So kam es schon 1933 zu einer ersten Auswanderungswelle, an der nicht nur die wenigen Zionisten beteiligt waren.

      Zu den Zionisten der ersten Stunde gehörte der Rechtsanwalt Hirschberg vom Wilhelmsplatz. Er hatte sich 1919 in Frankfurt als Anwalt und Notar niedergelassen, gehörte der orthodoxen Synagoge an und besaß ein großes Villengrundstück mit Garten und Gärtner am Buschmühlenweg. Obwohl er als Kriegsversehrter des ersten Weltkriegs mit EK noch gewisse Rechte besaß, gab er bereits 1933 das Notariat auf, verkaufte sein Grundstück und wanderte bereits im August nach Palästina aus. Dort baute er sich ein neues Leben als Farmer in Pardes Hannah in der Scharon-Ebene zwischen Tel Aviv und Haifa auf.

      Pardes Hannah ist eine typische Rothschild-Siedlung, 1929 gegründet. Pardes bedeutet Zitrusplantage, Hannah ist der Name einer Nichte des französischen Barons Edmond de Rothschild, dem großen Förderer der ersten Alijah (Einwanderungswelle) zwischen 1881 und 1896. Aufgrund der autoritären Führung durch französische Agrarexperten wurde das auch wegen seiner Monokulturen umstrittene Unternehmen um 1900 von der ICA, später PICA (Palestine Jewish Colonisation Association) übernommen. Sie kaufte Land in großem Rahmen und verkaufte es weiter an jüdische Siedler. Die von ihr gegründeten Siedlungen trugen oft Namen von Angehörigen der Rothschildfamilie. Hier erwarb Hirschberg bewässertes Land und verwandelte sich vom Rechtsanwalt in einen Plantagenbesitzer. Sein Sohn Michael Hirschberg, der 1933 in Frankfurt noch die Sexta des Friedrichsgymnasiums besucht hat, baute hier bis vor wenigen Jahren noch Avocados und Zitrusfrüchte an.

      Diese Fälle der Emigration wurden durch "Kapitalisten-Zer­ti­fikate" ermöglicht, wobei der Einwanderer den Besitz eines Vorzeigegeldes in Höhe von 1000 Palästina-Pfund nachweisen musste. Von deutscher Seite wurde diese Form der Auswanderung durch das im August 1933 abgeschlossene Haavara-Abkommen zwischen der Jewish Agency, der zionistischen Vereinigung für Deutschland und dem Reichswirtschaftsministerium unterstützt4. Danach konnten die Auswanderer einen Großteil ihres Vermögens über Clearingstellen transferieren. Damals war die NS-Regie­rung vor allem an der Auswanderung der Juden interessiert, diese Politik wurde bis zum Kriegsbeginn verfolgt. Die transferierten Gelder wur­­den durch entsprechende Wareneinkäufe palästinensischer Importeure in Deutschland ausgeglichen. So wurde ebenso die deutsche Wirtschaft durch Exportlieferungen wie die Wirtschaft des Jischuw, der jüdischen Siedlung in Palästina, durch den Transfer beachtlicher Vermögen gefördert.

      Für diejenigen, die keine Mittel besaßen, bestand die Möglichkeit der Auswanderung durch den Erwerb von Zertifikaten für Handwerker und Arbeiter. Dies erforderte den Nachweis entsprechender Ausbildung. Diese wurde wiederum vom Hechaluz, dem zionistischen Pionierverband durch den großzügigen Ausbau des Systems von Hachschara-Betrieben ermöglicht, in denen die jüdische Jugend in landwirtschaftlichen und handwerklichen Berufen ausgebildet wurde. Dass der größte Teil der jüdischen Jugendlichen (über 18 Jahren) aus Frankfurt durch Absolvierung der Hachschara noch vor Kriegsbeginn gerettet werden konnte, ist vor allem der Tätigkeit des deutsch-jüdischen Wanderbundes "Die Kameraden" bzw. dem aus ihnen hervorgegangenen zionistischen Jugendbund "Werkleute" und ihrem aus Frankfurt stammenden Leiter, Hermann Gerson zu verdanken5.

      Die "Kameraden", später die "Werkleute" waren durch Gerson die Organisation, die in Frankfurt einen Großteil der jüdischen Jugend nicht nur auffing und organisierte, sondern auch aus der bürgerlich-natio­nal­deutschen Haltung ihrer Eltern löste und zum Judentum zurückführte. Jeden Sonntag ging es fort vom Elternhaus zur Fahrt, in der Woche fanden Heimabende statt. Die Werkleute gingen auch eifrig zum Hebräischunterricht, den in Frankfurt der Rabbiner Ignaz Maybaum erteilte. Anfangs ging es nur darum, innerhalb Deutschlands eine landwirtschaftliche Siedlung zu errichten. Erst 1933 wurde auf Gersons Initiative hin der Beschluss gefasst, nunmehr einen Kibbuz, also eine landwirtschaftliche Kollektivsiedlung, in Erez Israel, in Palästina selbst, zu gründen. Gerson wusste, dass die städtische Jugend nicht ohne vorherige Schulung ein solches Experiment wagen konnte. Deshalb wurde ein ganzes System geschaffen, um möglichst schnell die Jugendlichen auf ihre neuen Aufgaben vorzubereiten. Die vom Hechaluz bereits eingerichteten Hachschara-lager wurden nun auch


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