Aus dem Dunkel. Friedrich Lotter
Читать онлайн книгу.heiratete. Er hatte dort einen Weinkeller und ein Weingeschäft. Die Großeltern väterlicherseits waren Kaufleute in Posen. Woher der Name Neumark stammt, weiß ich nicht. Es kam vor, dass ein Lehrer mich als Beispiel für einen guten deutschen Namen aufrief und dann entsetzt war, als sich herausstellte, dass ich jüdisch war.
Meine Eltern haben nach dem ersten Weltkrieg in Posen geheiratet. Mein Vater hat dort als Kinderarzt praktiziert. Meine Mutter war Sängerin, hat aber um der Familienpflichten willen auf eine Konzertkarriere verzichtet. Um 1920 verließen meine Eltern Posen, wie alle Mitglieder unserer weitverzweigten Familie, weil sie auf keinen Fall auf ihr Deutschtum verzichten und Polen werden wollten. Sie gingen nach Frankfurt, wo schon andere Familien aus Posen lebten, die Hirschbergs, die Nehabs. Man wuchs damals in richtigen Clans auf, Großfamilien, die alle möglichen Vettern, Cousinen, Onkels und Tanten, auch 2. und 3. Grades, einschloss, und traf sich häufig zu Familienfesten mit Aufführungen, Konzerten und Liedern.
Mein Vater war als Kinderarzt sehr beliebt. Er hatte eine große nichtjüdische Kundschaft. Im städtischen Krankenhaus leitete er die Säuglingsabteilung. Er hat auch unterrichtet und Kurse für Schwestern und Krankenpfleger gegeben. Ich erinnere mich, dass wir Kinder zweimal im Jahr Rechnungen für die Krankenkasse austragen mussten. Dadurch kannte ich die Stadt recht gut. Bei den vielen Besuchen meines Vaters in den Arbeitervierteln der Stadt - besonders der Dammvorstadt, wo es viel Armut gab - nahm er mich oft mit, damit ich "das Leben kennen lerne". Noch Ende 1933, als die neuen Machthaber die "Winterhilfe" veranstalteten, bat die Stadtverwaltung meinen Vater um eine Liste der bedürftigen Mitbürger, und mein Bruder und ich wurden offiziell mit der Verteilung der Lebensmittel an die betreffenden Familien beauftragt. Ob Judenkinder oder nicht, wir wurden dort mit Umarmungen und Dankeshymnen empfangen. Unsere Wohnung mit der Praxis lag am Wilhelmsplatz neben einem Blumengeschäft und dem Café Kyritz. Auf der andern Seite des Platzes, vorbei am Kaiserdenkmal, befand sich die Hardenberg-Loge. Vom Balkon aus konnten wir die Postuhr an der Ecke der Logenstraße sehen, nach der wir immer unsere Uhr stellten. Schräg gegenüber war die große Waldorf-Buchhandlung. In der Richtstraße trafen wir uns oft bei Luigi's Eisdiele. Für 10 Pfennig bekam man ein Eis im Glas. Unsere Eltern durften nichts davon wissen. Einmal kam ich dorthin, und da saß mein Bruder. Ich hatte Angst, dass er mich verriet, aber er aß ja auch selbst ein Eis.
Neben uns hatte Hirschberg sein Rechtsanwaltsbüro. Neben der Synagoge wohnte der Kultusbeamte Lapidas, seine Frau verkaufte dort koschere Würstchen. Von der Leihbücherei an der Ecke holte ich mir immer Kriminalromane, manchmal dreimal am Tage. Die deutsche Kultur hat mich als kleines Mädchen geprägt. Ich sehe mich noch in meinem Bett in dem schmalen Raum neben dem Musikzimmer, über mir an der Wand der Sämann von Van Gogh, mit selbstverdientem Geld erstanden, gegenüber das Schulpult, neben dem Bett ein wirres Durcheinander von Büchern - Karl May, Martin Buber, "Der Kampf der Tertia", "Die Buddenbrooks", "Professors Zwillinge", "Wüste und gelobtes Land". Vom Musikzimmer nebenan dringen die Klänge von Schubertliedern herüber, der Mezzosopran meiner Mutter, begleitet von meinem Bruder. Es war wie eine Rückzahlung einer Schuld an meine Kindheit, als ich vor einigen Jahren Übersetzungen dieser Lieder ins Hebräische veröffentlichen konnte.
Von den Nazis wusste ich lange nichts. Ich besuchte seit 1931 die Volksschule, übersprang dort eine Klasse und kam so 1934 in die Sexta des Kleist-Lyzeums. Einmal, wohl 1933 nach der Machtübernahme, bekamen wir die Aufgabe, aus der Zeitung Bilder unserer Staatsführer auszuschneiden. Mein Vater half mir und hat Bilder ausgeschnitten, lauter Bilder von Hindenburg, immer nur Hindenburg. Ich habe gesagt: "Aber wir brauchen auch Hitler!". Er sagte nur: "Nein, Hitler nicht." Ich wollte aber unbedingt das berühmte Bild haben, wo Hindenburg dem Hitler die Hand gibt. Da hat mein Vater die Schere genommen und Hitler abgeschnitten. Die halbe Hand war noch drauf. So hatte ich nur Bilder von Hindenburg und ging sehr unglücklich zur Schule, doch hat sich der Klassenlehrer dann gar nicht für mein Heft interessiert.
Ich erinnere mich auch noch gut an ein besonders unerquickliches Erlebnis zu etwa der gleichen Zeit, in der vierten Klasse der Grundschule. Unser Klassenlehrer war ein schneidiger junger Mann, oft in brauner Uniform, der aber trotzdem die jüdischen Schülerinnen meistens freundlich behandelte. Aber einmal rief er mich während einer Deutschstunde zusammen mit der "reinrassigen" Kriemhild vor die Klasse. Er forderte die Schülerinnen auf, uns genau anzusehen: "Sehr ihr, das ist Kriemhild, ein klassischer germanischer Typ, groß, blond, mit Langschädel, aber etwas langsam im Denken. Daneben Ada, bei der alle Kräfte auf typisch jüdische Art in den Kopf gegangen sind - auf Kosten aller anderen Fähigkeiten, wie ihr an dem verkümmerten Körper deutlich sehen könnt!" Das behagte mir keineswegs, zwar war ich klein, aber eine gute Turnerin, sehr begehrt beim Völkerball und im Hochsprung eine der Besten in der Klasse. Auch Kriemhild war nicht begeistert von der Charakterisierung. In der Pause standen wir auf dem Schulhof und schmollten gemeinsam, sie in ihrer hochaufgeschossenen germanischen Denklangsamkeit, ich in meiner körperverkümmerten jüdischen Intellektualität.
Ich konnte bis zu den großen Ferien 1938 zum Kleist-Lyzeum gehen. Irgendwann war ich die einzige Jüdin in der Klasse. In der Parallelklasse waren noch drei oder vier, die Gumperts, die Lachmann, die gingen etwas früher ab als ich. In der Klasse selbst hatte ich keine Schwierigkeiten, doch blieben Diskriminationen und Einschüchterungen seitens der Lehrer nicht aus. Fräulein Kunze, die feingeistige Direktorin - zur Unterscheidung von einer gleichnamigen Lehrerin "Oberkunze" genannt - verschwand nach der Machtübernahme von der Bildfläche. An ihre Stelle trat ein SA-Mann in Stiefel und Sporn. Bei seinen kurzen Visiten in den Klassen lief es mir kalt den Rücken herunter. Man hörte dauernd die NS-Lieder, viele Mädchen kamen bei uns auch mit BDM-Kluft in die Schule. Wir jüdischen Kinder wurden nicht vom Fahnenappell befreit, sondern mussten teilnehmen, mit an die Seite gepressten Armen, denn wir durften ja nicht mit den andern die Hand heben. Wir durften zwar das Deutschland-Lied, aber nicht das Horst-Wessel-Lied mitsingen. Für uns Kinder war das schwierig. Besser wäre gewesen, man hätte uns ganz befreit. Von den christlichen Andachten waren wir aber dispensiert und durften dann Schularbeiten machen.
In der Deutschstunde gehörte ich jetzt nicht mehr zu den zwei oder drei Erwählten, die ihre Aufsätze der Klasse vorlesen durften. Als einmal der Musiklehrer fragte, wer bereit sei, ein Gesangstück vom Blatt zu singen, und ich mich meldete, rief er entrüstet: "Was, keine einzige in der ganzen Klasse?" Da bekam er es aber mit meinen Mitschülerinnen zu tun, die ihn energisch auf meine erhobene Hand aufmerksam machten. Ich denke öfter und mit Gefühlen des Dankes an all diese blonden Mädchen in ihren Jungmädelblusen, die sich ohne viel Überlegung, aus spontanem Gefühl für Recht und Unrecht, auf meine Seite stellten – an meine Freundin Marianne, das freundliche Ilschen Schäfer, das kohlschwarzzopfige Mohrchen, die sanfte Ruth Bunge, die aristokratische Ingeborg Hermsmayer oder die temperamentvolle Annelore Maushacker, die Tochter des Chefredakteurs der Oder-Zeitung. Nie habe ich ein beleidigendes Wort von einer von ihnen gehört. Einige kamen nach wie vor zu mir nach Hause, um gemeinsam Schularbeiten zu machen, Bücher zu tauschen oder einen Kanon zu singen. Die hübsche Alice Wolf mit dem Bubikopf stand jeden Morgen zum gemeinsamen Schulweg vor unserm Haus. Ihr Bruder, ein hünenhafter Hitlerjugendführer, trat als Beschützer des meinen auf, indem er rassebewusstere Mitschüler des Friedrichsgymnasiums strengstens verwarnte, sich an ihm zu vergreifen.
Prüfungen für uns waren demgegenüber die Anpöbelungen auf der Straße. Ich habe noch eine Narbe an der Stirn von einem solchen Vorfall. Als ich einmal die Straße entlang ging, marschierte eine HJ-Abteilung mit Fahne vorbei. Da sprangen ein paar Jungen auf mich zu und stießen mich gegen die Wand, weil ich die Fahne nicht gegrüßt hatte. Als Jüdin durfte ich aber die Fahne gar nicht grüßen, im Gegensatz zu "deutschen" Mädchen. Ich habe furchtbar