Der Weg nach Afrika. Helmut Lauschke
Читать онлайн книгу.einen Brief nach Deutschland, weil er an Menschen in Deutschland dachte, mit denen sein Herz verbunden war. Der Brief wurde an diesem Abend nicht beendet, da Dr. Ferdinand ihn zur Seite legte und auf einem neuen Blatt einen Brief in Gedichtsform an sich selber schrieb, in dem er die Einsamkeit in der Fremde schildert, von der anderen Sprache und den anderen Menschen berichtet und dabei Dinge erwähnt, die er zum Leben brauchte, aber in der gottverlassenen Gegend nicht finden kann. Er schrieb noch ein zweites Gedicht über die Liebe, ohne die das Leben leer ist, über seine Gedanken, die er mit den Zigaretten verraucht.
Es war spät, Musik gab es nicht, da er weder Radio noch Plattenspieler hatte. So legte er sich aufs Bett, ohne sich zuzudecken, und hörte den trommelnden Aufschlag des Regens auf das Blechdach an. Dr. Ferdinand verfiel in den Traum, wo es Steine vom Himmel regnete, die so hart aufs Dach schlugen, dass er unters Bett kroch, weil er sich nicht anders zu schützen wusste. Er hielt mit beiden Händen die Ohren zu, als mit einem ohrenbetäubenden Knall ein riesiger Gesteinsbrocken das Dach durchschlug und ihn zerquetschte. Er sah Kristofina auf der Brücke, wie sie sich umdrehte und ihn beim Namen rief, ihm Mut zusprach, ihr zu folgen, dass sie ihre Hand weit zurückstreckte, um seine Hand zu fassen und ihm beim Überqueren der Todesschlucht behilflich zu sein. Dabei sagte sie, als sie auf der Brücke auf ihn wartete, dass der Blitz ihr nichts mehr anhaben kann, und der Regen vorüber sei.
Kristofina konnte ihren Dank für das Lesen der Psalme, die ihr geholfen hatten, nicht fertig sprechen, da sie durch das Telefon getrennt wurden, das schon einige Male geläutet haben musste, als er den Hörer abnahm, und die Schwester ihn fragte, ob mit dem Telefon etwas nicht in Ordnung sei. In der Tat hatte der Regen aufgehört, als Dr. Ferdinand sich bei der Schwester für das verspätete Abnehmen des Hörers entschuldigte und ihr erklärte, dass er eingeschlafen war, ohne den schicksalsschweren Traum zwischen Leben und Tod und die Begegnung mit Kristofina auf der letzten Brücke zu erwähnen. Er versuchte ganz wach zu sein, als ihm die Schwester sagte, dass er zum Hospital kommen möge, um sich eine Patientin anzusehen, die von Oshikuku gebracht wurde und sich vor Bauchschmerzen krümmte. Er legte den Hörer nachdenklich zurück, sah ins Lampenlicht, das er brennen liess, sah auf dem Tisch den nicht beendeten Brief nach Deutschland, nahm die Blätter mit den zwei Gedichten in die Hand und las sie, spürte beim Lesen, dass er viel mehr hätte sagen wollen, als ihm klar wurde, dass der geträumte Steinregen mit den Steinen im Zusammenhang stand, die er dem abgemagerten Mädchen aus dem Magen geholt hatte. Der ohrenbetäubende Knall, als der riesige Gesteinsbrocken das Dach durchschlug und ihn im Traum unter dem Bett zerquetschte, der entsprach dem gewaltigen Donnerschlag der vergangenen Nacht mit den grollenden Nachschlägen, als Kristofina vom Blitz getroffen wurde.
Es war Mitternacht, als Dr. Ferdinand Hemd und kurze Hose gegen das Mückengitter der Veranda schlug, mit der Hand den Sand von ihnen rieb, die noch nicht trockenen Klamotten überzog und sich auf den Weg zum Hospital machte. Auch diesmal hielt er die Sandalen in der Hand, und der Weg durch die stocksteife Finsternis war nicht weniger beschwerlich als die Nacht zuvor. Wieder suchte er sich den Weg auf der Strassenmitte, wenni er sich einige Male in Nähe des Seitengrabens wähnte, stapfte durch tiefen Matsch und tiefe Pfützen. Die heftigen Regengüsse hatten die tiefen Strassenschichten aufgeweicht. Er passierte den Kontrollpunkt am Dorfausgang mit der schlechten Beleuchtung einer zu hoch angebrachten Birne der zu niedrigen Wattzahl. Die Wachsoldaten erinnerten sich, dass er die vergangene Nacht auch hier und barfuss in beiden Richtungen vorbeigegangen war und liessen ihn passieren. Als Dr. Ferdinand ihnen in seiner makaberen Erscheinung mit den Matschflecken an Hemd und Hose und den Sandalen in der Hand sagte, dass er Doktor sei und im Hospital benötigt wurde, wollten sie ihn auslachen, als sei es ein schlechter Mitternachtswitz. Sie taten es nicht und drückten ihre Verwunderung darüber aus, dass ein Arzt diesen Weg durch den tiefen Matsch in stockfinsterer Nacht barfuss und allein machte. Sie fragten ihn, warum er dann nicht mit einem Fahrzeug geholt würde. Da sagte Dr. Ferdinand zwei Drittel der Fahrzeugwahrheit, als er die beiden Fahrzeuge des Hospitals erwähnte, die in einem miserablen Zustand seien und für den Arzttransport nicht zur Verfügung ständen, selbst wenn er nachts gerufen würde. Das letzte Drittel dieser Wahrheit nannte er nicht, dass nämlich das dritte Fahrzeug, ein neuer Ford-Kombi, das dem Major-Superintendent von der Administration zur Verfügung gestellt wurde, sich dieser Superintendent für seinen persönlichen Gebrauch reserviert hatte, und nun dort stand, wo der Major, der für das Hospital nicht viel übrig hatte, einer ungestörten Nachtruhe entgegenschlief.
Die Wachhabenden wollten es nicht glauben und hatten so etwas wie Mitleid mit dem mitternächtlichen, vermatschten Barfussgänger. Sie machten ein bedauerliches Gesicht, dem der Zweifel aufsass, als wären sie mit dieser Art der Arztbehandlung nicht einverstanden. Sie hoben die Schranke und wünschten dem Barfussgänger eine gute Nacht. Der setzte seinen Weg zum Hospital fort und achtete darauf, die Strassenmitte einzuhalten. Wie die Nacht zuvor wusch sich Dr. Ferdinand den Matsch von seinen Beinen draussen vor der Eingangstür neben der Rezeption, zog sich die Sandalen über die nassen Füsse und ging ins 'Outpatient department' hinein, um sich die Patientin anzusehen, die von Oshikuku gebracht wurde, dem katholischen Missionshospital, das 1924 von dem nicht dreissigjährigen Bruder Hermann Bücking begründet wurde. Es war eine ältere Frau, die ihr genaues Alter nicht angeben konnte, was viele ältere Patienten bezüglich der Altersjahre nicht konnten. Die Schwestern schätzten das Alter der Patientin auf etwa fünfzig Jahre. Ihr Bauch war aufgetrieben und beim Abtasten sehr schmerzhaft. Die Darmgeräusche, die mit dem Stethoskop abgefangen wurden, gurgelten und plätscherten um den Nabel herum, zu den Seiten war es still. Es wurde Blut aus der Armvene entnommen, um die Konzentration des roten Blutfarbstoffs, die Zahl der weissen Blutkörperchen und die Elektrolyte zu bestimmen. Ein Röntgenbild des Bauches konnte nicht gemacht werden, da es der Apparat aus unerfindlichen Gründen nicht tat. Dr. Ferdinand musste sich auf die körperliche Untersuchung verlassen und stellte die Diagnose eines Darmverschlusses im unteren Dünndarmbereich durch eine Darmverschlingung oder Darmeinstülpung (Invagination oder Intususzeption).
Die Operation war unumgänglich. Die Schwester übersetzte es in die Sprache der Ovambos, und die Patientin war mit der Operation einverstanden. Der Laborant kam mit den Ergebnissen der Bluttests: die Konzentration des roten Blutfarbstoffs war an der unteren Normgrenze, die Zahl der weissen Blutkörperchen war über der oberen Normgrenze, und bei den Elektrolyten war das Kalium deutlich erhöht. Dr. Ferdinand bat Dr. Nestor, den schwarzen Kollegen, der den Wochenenddienst für die innere Medizin versah, die Narkose zu geben. Dann brachte er mit einer Schwester die Patientin auf der Trage zum Op-Haus, zog sich um und machte sich einen heissen Tee zur nächtlichen Erfrischung. Die Patientin lag auf den Op-Tisch, als Dr. Nestor eintraf, sich umzog, Dr. Ferdinand ihm das Problem schilderte, zum Op-Raum ging, die Spritzen zur Einleitung aufzog, Sauerstoff und Lachgas auf die nötigen Pegel an der Narkosemaschine einstellte, die Grösse der Maske mit dem Gesicht der Patientin abstimmte, den Tubus zurechtlegte und mit der Narkose begann, als sich Dr. Ferdinand die Hände wusch, die Schwester das grosse 'Set' auspackte und die chirurgischen Instrumente auf ihrem Tisch in die gewohnte Ordnung brachte.
Dr. Ferdinand führte den langen Mittelschnitt mit Linksumschneidung des Nabels aus, durchtrennte die Faszienblätter der darunterliegenden Muskelschichten, eröffnete die Bauchhöhle und fand stark erweiterte Dünndarmschlingen vor, die umrahmt waren von einem schwarz verfärbten, toten Dickdarm, dem die Durchblutung abhanden gekommen war. Er entfernte den gesamten, übelriechenden Dickdarm und schloss die letzte Dünndarmschlinge an den Mastdarm an, deren Enden zweischichtig mit Nähten verbunden wurden. Es war eine grosse Operation. Die Schwester leistete hervorragende Arbeit, da sie nicht nur instrumentierte, sondern dem Operateur auch assistierte, was sie einfühlsam und äusserst geschickt tat. Der Eingriff wurde nach etwa zweieinhalb Stunden beendet, als die Patientin aus der Narkose erwachte und in den Aufwachraum gefahren wurde, wo ihr die Sauerstoffmaske aufgesetzt, der Blutdruck und Puls und die Urinausscheidung gemessen wurden. Es war drei Uhr morgens.
Die beiden Doktoren nahmen einen Tee im kleinen Teeraum und sprachen über die kritische Situation, in der sich das Hospital befand. Sie sprachen über die törichten Allüren des Superintendenten, der die Dinge drehte und verdrehte und sich eines Dr. Hutman bediente, der als "Leutnant des Teufels" den Kollegen nachspionierte und sie anschwärzte. Sie waren bekümmert über den Druck, den das Militär nun auch im Hospital ausübe und die Posten des ärztlichen Direktors und des Superintendenten besetze, was die Arbeit am Patienten behindere.