Der Weg nach Afrika. Helmut Lauschke
Читать онлайн книгу.Er legte die Illustrierte zur Seite und fing an, vom Brandberg zu erzählen, ohne dass da ein Zusammenhang zum Ableben von Kristofinas war, die über die letzte Brücke das Leben auf dem Planeten am Morgen verlassen und mit vierzehn Jahren durch den Tod in die Zeitlosigkeit gegangen war.
Dr Bernstein sagte, dass er den Brandberg bei Vollmond besteigen wolle, um der sengenden Sonne in der Bergwand zu entgehen. Er hatte sich eine Landkarte im vergrösserten Massstab besorgt und arbeitete die Route und den Zeitplan aus, von welcher Seite er um welche Zeit den günstigsten Aufstieg nehmen soll. Da keinerlei Wasserstellen in der Karte eingetragen waren, hatte er Leute befragt, die ganz oben auf dem Brandberg waren und sagten, dass es oben ein Plateau mit Bäumen und Pflanzen gäbe, die von einem Quell gespeist würden. Er brauchte deshalb nicht soviel Wasser mit hochschleppen, was ihm den Aufstieg an der nördlichen Steilwand erheblich erleichtert. Dr. Bernstein hatte aufgrund der Steilwand, die er erklettern wolle, ausgerechnet, dass der Aufstieg etwa einen Tag in Anspruch nehmen würde. Er wollte eine Pause einlegen, wenn die Sonne zu stark auf die Felswand brennt. Nach seiner Berechnung benötige er etwa eineinhalb Liter Wasser pro Tag und wollte nicht mehr als fünf Liter mit nach oben schleppen. Dr. Ferdinand fragte ihn, ob es nicht gefährlich sei, den Berg allein zu besteigen. Wenn ihm was zustossen sollte, könnte ihm keiner helfen. "Hier gibt es keinen, der mit mir gehen würde", meinte Dr. Bernstein, der die Gefahr der Alleinbesteigung nicht von der Hand wies. "Aber auf dem höchsten Berg will ich gestanden haben, bevor ich das Land verlasse."
Dr. Witthuhn hatte ein Telefonat, wahrscheinlich mit seiner Freundin in Windhoek, beendet, als er mit strahlendem Gesicht ins Wohnzimmer zurückkehrte und Mozarts 'Zauberflöte' auf den Plattenteller legte. Dazu holte er drei gekühlte Dumpies aus der Küche und stellte sie auf den Tisch. Dr. Ferdinand hätte schon Interesse an der Bergtour gehabt, doch wollte er zum bereits bestehenden Alltagsrisiko nicht noch ein weiteres Risiko auf sich nehmen in einer Zeit, wo das Hospital im Argen lag, und es soviel zu tun gab.
Das Telefon läutete, Dr. Witthuhn ging in sein Schlafzimmer, legte den Hörer auf, kam zurück und teilte mit, dass zwei Patienten ins Hospital gebracht wurden, die chirurgisch versorgt werden müssten. Die Ouvertüre war beendet und die Bierflasche geleert, als Dr. Ferdinand den beiden einen guten Nachmittag wünschte, die Sandalen in die Hand nahm, die Tür offen stehen liess, durch das stehende Wasser im Vorgartens stapfte, sah, dass der Kofferraumdeckel noch hoch geklappt war, das Gittertor der Einfahrt so liess, wie es war, als er gekommen war, und sich auf den matschigen Weg zum Hospital begab. Die Wachhabenden am Dorfausgangs waren sonntäglich gestimmt und liessen den Matschgänger passieren, ohne ihn nach dem Ausweis zu fragen, und da die Sperrschranke aufgerichtet stand, setzte er den Weg barfuss auf Strassenmitte fort. Er trat in Pfützen auf dem Vorplatz, wusch sich draussen den Sand von den Füssen, wie er es die vergangene Nacht getan hatte, zog die Sandalen über und betrat die Wartehalle im 'Outpatient department', wo die Patienten, ein Erwachsener und ein Kind, auf zwei Tragen lagen.
Der Erwachsene war ein etwa vierzigjähriger Mann, der sich das rechte Fussgelenk gebrochen hatte, dessen Fuss nach aussen abgeknickt war. Das Kind war ein fünfjähriges Mädchen, das stark abgemagert war, seit Tagen keinen Stuhl absetzte, einen aufgetriebenen Bauch hatte und seit zwei Tagen erbrach. Das Abtasten des Bauches war besonders im Rippenwinkel unter dem Schwertfortsatz des Brustbeins schmerzhaft, dass der Verdacht auf einen verschluckten Fremdkörper aufkam. Beide Patienten wurden geröntgt. Das Fussgelenk des Patienten wies eine kombinierte (bimalleoläre) Innen- und Aussenknöchelfraktur auf, und bei dem Mädchen fanden sich Steine im Magen, die den Magenausgang nicht passieren konnten. Damit wurde die Diagnose eines Magenausgangsverschlusses bestätigt. Die Mutter sagte, dass das Mädchen seit zwei Tagen nichts zu sich genommen habe. Die Operation war unvermeidlich, und die Mutter folgte der Schwester, die das Mädchen auf der Trage zur Kinderstation brachte, um den Tropf anzuhängen und die weiteren Vorbereitungen zu treffen.
Dr. Ferdinand setzte die Operation für fünf Uhr an und informierte die Schwestern im 'theatre' und den Kollegen, der auf der Kinderstation Dienst tat und mit Kindernarkosen vertraut war. In der Zwischenzeit stellte Dr. Ferdinand die Fraktur auf der Liege im Gipsraum, wobei er den Patienten in einer Kurznarkose schmerzfrei machte und den Fuss in einem dick gepolstertem Unterschenkelrundgips ruhigstellte. Der Patient erwachte aus der Narkose und wurde zum orthopädischen Männersaal gefahren, wo das Bein auf einer Schiene hochgelagert und die Schmerzbehandlung fortgesetzt wurde. Dr. Ferdinand führte noch einige Wundversorgungen an Patienten aus, die mit Schnittverletzungen an Händen und Beinen eingetroffen waren. Dann eilte er zum Op-Haus, da es schon kurz vor sechs war, und er sich verspätet hatte. Er hängte Hemd und Hose über den Haken im Umkleideraum, zog sich das Grüne über und ging zum 'theatre 3', wo das Mädchen auf dem Op-Tisch lag. Der Kollege begann mit der Narkose, während Dr. Ferdinand sich die Hände wusch, den Op-Kittel übergezogen bekam und sich die Handschuhe überstreifte. Die junge Schwester hatte die Haut des Mädchens desinfiziert und den Körper mit sterilen grünen Tüchern abgedeckt.
Das abgemagerte Mädchen mit den elf Steinen im Magen
Dr. Ferdinand begann die Operation und setzte den Mittelschnitt vom Rippenbogenwinkel bis zum Nabel. Das Mädchen hatte kein Fett unter der Haut, so dass er die Faszienblätter zwischen den Muskeln mit dem Skalpell durchtrennte. Nach Eröffnung des Bauchfells führte er Daumen, Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand in die Bauchhohle und fühlte die Steine im Magen. Er machte einen kleinen Schnitt vor dem Magenausgang und holte mit der Klemme elf Steine heraus. Die Finger tasteten den Magen ab, dass kein Stein zurückgeblieben war. Dann wurde die Magenöffnung durch Naht geschlossen und die Bauchdecke in ihren Schichten vernäht. Das Mädchen erwachte aus der Narkose, als der Verband aufgelegt und mit Pflasterstreifen fixiert war. Es wurde vom Op-Tisch auf die Trage gehoben und in den Aufwachraum gefahren.
Dr. Ferdinand zog sich im Umkleideraum um und übergab die Plastiktüte mit den elf Steinen der besorgten Mutter, die vor der Tür des Op-Hauses auf den Arzt wartete. Sie bedankte sich und sah nachdenklich auf die Steine in der Tüte, weil sie es nicht fassen konnte, dass ihre Tochter die Steine und dann noch so viele geschliuckt hat. Arzt und Mutter stimmten überein, dass es der Hunger war, warum die Steine in den Magen kamen, weil es keine Zeichen für eine seelische Störung gab. Dr. Ferdinand begleitete die Mutter zur Kinderstation. Sie folgten schweigend dem operierten Mädchen auf der Trage, jeder mit den eigenen Gedanken, wie es zum Steineschlucken kommen konnte. In der Station hob er das Mädchen ins Bett und schrieb seine Notizen zur weiteren Behandlung ins Krankenblatt.
Dann ging er noch einmal zum 'Outpatient department' zurück, wo keine weiteren Patienten auf ihn warteten. Er trat den 'Heim'-weg an, nahm die Sandalen hinter der Ausgangstür wieder in die Hand und stapfte durch den Matsch des Vorplatzes und der Strasse. Ein kräftiger Regen setzte ein, als er den Kontrollpunkt am Dorfeingang noch nicht erreicht hatte. Er war klitschnass, als er ihn erreichte und auf der Strassenmitte die runtergelassene Sperrschranke leicht anhob, darunter durchging und die Schranke in die Kerbe zurücklegte, während die beiden Wachsoldaten sich unter das Blechdach des Kontrollhäuschens gestellt hatten, um dem Wasserguss, der im Nu bis auf die Haut ging, zu entgehen. Ein vorbeifahrender 'Casspir' spritzte ihm den Matsch trotz langsamen Fahrens ins Gesicht, dass der Sand an den Augen und Ohren rieb.
In der überdachten Veranda der Wohnstelle zog er die verdreckte Kleidung vom Körper und stand nackt vor dem Mückengitter, als der Abend die Nacktheit ins Dämmrige gesteckt hat. Er ging hinein und stellte sich unter die Brause, zog sich dann bloss die Unterhose an, schnitt in der Küche zwei Scheiben vom Graubrot, das dem Namen 'Brot' wegen seiner geschmacklosen Pappigkeit keine Ehre machte, bestrich die Scheiben mit Margarine und ass sie mit Appetit. Mehr gab der kleinformatige Eisschrank nicht her, und er hatte den ganzen Tag noch nichts gegessen. Dazu trank er den kalten Kaffee vom Morgen, der die Tasse noch dreiviertel füllte. Er hielt die Tagesmahlzeit im Wohnzimmer ab und schaute in den giessenden Regen über dem Platz mit den wenigen Bäumen, hörte lachende Männer- und kichernde Frauenstimmen aus dem nahen Gegenüber des beleuchteten Gästehauses, das sich seit einigen Monaten den Vornamen 'International' zugelegt hatte.
Dr. Ferdinand sass noch eine Weile in der Unterhose im Sessel mit dem Blick in den regnerischen Abend und machte sich seine Gedanken beim Rauchen der Zigarette dazu. Dann knipste er das