Der Weg nach Afrika. Helmut Lauschke
Читать онлайн книгу.einen Dornbuschast getreten war. Es hatten sich wässrige Blasen unter der Haut der Fusssohle gebildet, in denen noch drei Dornen steckten. Er öffnete die Blasen im kleinen Op-Raum, fasste mit einer Klemme die Dornenden und entfernte sie, während die Mutter die Hände des auf dem Op-Tisch liegenden Kindes hielt und es tröstete. Der Fussverband war angelegt, als es noch die Spritze gegen den Wundstarrkrampf bekam, und Dr. Ferdinand die erforderlichen Antibiotika im Gesundheitspass eintrug. Ein alter Mann wurde vom Sohn gebracht, der mit einem Panga Buschäste abgeschlagen hatte und sich dabei den linken Zeigefinger amputierte. Der Finger hing noch an einer dünnen Hautbrücke, wo er abgetrennt, das Grundglied gekürzt und der Fingerstumpf mit den überstehenden Hautlefzen gedeckt wurde. Der junge Kollege zeigte ihm das Röntgenbild mit einer ausgekugelten Schulter, und Dr. Ferdinand sah ihm zu, wie er den Arm fasste und den Oberarmkopf durch die logischen Drehbewegungen nach der Kocher'schen Rotationsmethode ins Gelenk zurückbrachte. Dr. Lizette, die nachmittags in der chirurgischen OPD mithalf, kam mit einem Patienten herein, der einen Hauttumor über der linken Wange hatte, der bereits geschwürig zerfiel und den Geruch der Fäulnis verbreitete. Sie fragte, ob da chirurgisch noch etwas zu machen sei. Da der Patient so alt nicht war, bejahte Dr. Ferdinand ihre Frage, um dem Patienten das Leben zu erleichtern, auch wenn dem Tumor die Eigenschaften der Bösartigkeit von weitem anzusehen waren. Er erklärte dem Patienten, dass der Tumor bereits weit fortgeschritten war und im Gesunden ausgeschnitten werden musste, wo dann der grosse Hautdefekt durch ein Transplantat zu decken war. Die Schwester übersetzte ihm die operative Vorgehensweise in seine Sprache, der es dann verstand und in die Operation einwilligte. Dr. Ferdinand konnte ihm trotz des aufwendigen Eingriffs eine Heilung nicht versprechen, ihm aber eine Linderung der Symptome zusagen. Die Schwester übersetzte ihm die vorgetragenen Vorbehalte einer Heilung. Der Patient dachte darüber einen Augenblick nach und änderte seine Meinung nicht. Dr. Lizette setzte seinen Namen auf die chirurgische Liste und ging mit dem Patienten zum chirurgischen Untersuchungsraum zurück.
Dr. junge Kollege reichte ihm das Röntgenbild einer Männerhand über den Tisch, auf dem die Dreiecksfraktur an das Basis des ersten Mittelhandknochens zu sehen war, die den Namen 'Bennett-Fraktur' trug, nach dem irischen Arzt Edward Bennett, der diesen Bruch um die Jahrhundertwende das erste Mal beschrieb. Dr. Ferdinand erklärte das besondere Problem, dass diese Fraktur mit einem Gipsverband nicht zu stellen war und einer operativen Einrichtung bedurfte, in der das kleine Basisfragment durch zwei 'eingeschossene' Drähte am Mittelhandknochen des Daumens gehalten werden musste. So wurde der Patient stationär aufgenommen und sein Name auf die orthopädische Liste gesetzt. Drei Ovahimbafrauen mit freien Oberkörpern und ledernen Lendenschürzen, die Schmuckbänder und -reifen an Armen und Beinen oberhalb der Knöchel trugen, betraten den Raum, der sich im Nu mit einem scharfen Geruch füllte, der von ihrer mit Rinderfett eingeschmierten braunen Haut ausging. Diese Frauen wurden mit einem Ambulanzwagen aus dem zweihundertachtzig Kilometer entfernten Kaokoland im Westen gebracht. Die beiden jüngeren Frauen halfen der alten Frau auf den Schemel, die einen Gehstock in der rechten Hand hielt. Dr. Ferdinand kämpfte vergeblich gegen den scharfen Hautgeruch an, der noch penetranter wurde, als ihm eine der jüngeren Frauen den rechten Fuss der alten Frau fast unter die Nase hielt, was er nicht verriechen konnte. Das von tiefen Rissen durchzogene Schwielenmuster der Fusssohle war ein eindrückliches Abbild des steinig-sandigen Wüstenbodens, dessen Tentakel immer tiefer zwischen das verbliebene, sich auszehrende Buschwerk griffen. Die Fusssohle erzählte die Geschichte vom eimerweisen Wassertragen über weite Entfernungen durch ein langes Leben. Die alte Frau, deren Brüste als leere Hautfalten schlaff herabhingen, betrachtete Dr. Ferdinand ungläubig. Sie traute ihm weit weniger zu als dem traditionellen Medizinmann im Busch, dem 'traditional healer', den sie ihr Leben lang aufsuchte, wenn ihr oder ihren Kindern etwas an der Gesundheit fehlte. Dr. Ferdinand hatte sich einen Handschuh übergezogen und betastete den Fuss mit seinen schrundig zerschundenen, mageren Zehen, von denen der zweite bis fünfte die Zeichen der gestörten Durchblutung hatten, deren Kuppen bereits schwarz verfärbt und beim Betasten hart wie gegerbtes Leder waren. Er konnte ihr da auch nicht viel Hoffnung machen und dachte, dass der 'traditional healer', den sie sicherlich vorher aufgesucht hatte, es schon mit seinen Eingebungen aus Mixturen von gepressten Kräutern, zerkleinerten Wurzeln, fein geriebenem Rinderhorn und Knochenmehl, die zusammen in einem verbeulten Blechtopf, dem der Russ des häufigen Gebrauchs anhaftete, vermengt und mit etwas Wasser bei Einstreuen von Kieselsalz und klein gestückter Baumrinde auf offenem Feuer solange gekocht wurden, bis eine dunkle Brühe daraus entstand, deren Dampf bereits zum Himmel stank. Der kundige Medizinmann mit der langen Tradition und dem Wissen der natürlichen Heilkräfte musste es mit seinen Heilsprüchen schon versucht haben, sonst sässe die alte Frau nicht am Schalter der westlichen Schulmedizin. Dr. Ferdinand schaute sie an, und ihre Augen sagten es ihm voraus, dass da ausser Amputationen nichts anderes zu machen sei.
Die alte Frau mit dieser geprägten Sohle, die von den Tentakeln der Wüste ergriffen und durch die Jahre verzehrt war, war eine stolze Frau, die sich von diesem Doktor nicht mehr an ihren Zehen rumfummeln lassen wollte. Sie rief ihre Töchter, ihr beim Aufstehen unter die Arme zu greifen, nahm selbstbewusst den Stock in die rechte Hand und verliess, ohne zur Seite zu blicken, den Untersuchungsraum auf Nimmerwiedersehn. Dr. Ferdinand war von soviel Stolz tief beeindruckt. Er verstand, dass so etwas Grosses nur in der Wüste wachsen und sich halten kann, weitab von der westlichen Zivilisation mit all den Verkrümmungen und Verkümmerungen, wo das Geld zählte und der technische Fortschritt das Mass der Dinge war. Bei der ausgezehrten Frau war der Mensch nach einem langen Leben im Ringen um Wasser innerlich noch gross und stark, der sich bei der verfetteten westlichen Gesellschaft schon längst im Luxus verabschiedet und zu einem lächerlichen Zwerg verbogen und meinungslos verschrumpft hatte. Es war die Fusssohle mit der eingetretenen Landschaft, die sich einer westlichen Betrachtungsweise entzog, eine westlich ausgerichtete Schulmedizin ablehnte, die ja ohnehin nur noch die Amputation der Zehen oder gar des ganzen Fusses anzubieten hatte. Dafür war sich dieser Fuss zu schade, weil er zum Wasserholen gebraucht wurde. Die alte Frau wusste es, dass es ohne Wasser kein Leben gab, und darum wollte sie den Fuss bis zu ihrem Ende behalten, wofür sie die Vertrocknung der Zehen für den Rest ihres Lebens in Kauf nahm. Sie hatte sich die Entscheidung selbst vorbehalten, dass an ihrer Würde, und dafür brauchte sie noch den Fuss, keiner herumzufummeln hatte. So liess sie sich von den Töchtern äusserlich führen, indem sie innerlich fest blieb und da nicht mit sich reden liess. Die Töchter wiederum kannten den Menschen in der Mutter und widersprachen ihr mit keinem Wort, die geradeaus blickend durch die Tür humpelte, als hätte sie es vorher gewusst, dass die weite Reise zum Hospital sinnlos war und nur unnützes Geld kostete, was sie besser hätte verwenden können. Dr. Ferdinand mit seiner westlichen Ausbildung und Denkweise zog seine Lehre, dass nicht alle Menschen, besonders jene nicht, deren Fusssohle eine solch eingetretene und gegengedrückte Geschichte von der Kostbarkeit des Wassers erzählte, das von weit hergeholt werden musste, der Schulmedizin mehr Glauben schenkten oder ihr das noch zutrauten, was der 'traditional healer' mit seiner grossen Kenntnis der natürlichen Heilskräfte nicht mehr konnte.
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