Die schönste Brücke der Verständigung. Helmut Lauschke

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Die schönste Brücke der Verständigung - Helmut Lauschke


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Schuss Wein versetzte Rotkohl. Während des Essens fragte er sie, ihm ein wenig aus ihrem Leben zu erzählen. Vera: “Ich bin ein Kind aus einer kinderreichen Familie. Geboren wurde ich in Wroclaw, dem einst deutschen Breslau, wo mein Vater als Gruben- und Maschineningenieur im Kohlerevier Katowicach (Kattowitz) tätig war. Ich habe noch drei Brüder und zwei Schwestern. Alle sind jünger als ich. Leider ist mein Vater, er war gerade zweiundfünfzig Jahre alt, an einem Lungenkrebs verstorben. Auch die Professoren von der Uni-Klinik konnten ihn nicht mehr retten. Meine Mutter bezog eine kleine Witwenrente, die zum Leben, ich meine zum Überleben der Familie nicht reichte. So kam es auf mich zu, eine Beschäftigung anzutreten, um Geld für die Familie zu verdienen. Gerne hätte ich studiert, denn ich hatte die Schule mit guten Noten abgeschlossen. Aber der Tod meines Vaters setzte andere Prioritäten. Und so bin ich seit über zwei Jahren an der Rezeption des Hotels “Polnischer Hof”, dem früheren “Fürstenhof” zu Zeiten des polnischen Adels und seines Großgrundbesitzes mit der Lehnsherrschaft über weite Kreise des polnischen Volkes.”

      Boris: “Fräulein Vera, was hätten Sie denn studieren wollen, wenn ihr Vater gesund und noch am Leben wäre?” Vera überlegte einen kurzen Augenblick: “Theater und Ballett. Schon als Kind liebte ich das Tanzen und das Puppenspiel.” Boris: “Das hört sich interessant an, und ich glaube, dass Sie das Talent dazu hätten.” Vera: “Nur genügt das Talent alleine nicht, um es zur Durchführung zu bringen.” Boris: “Ich verstehe.” Vera: “Mein Vater sagte: mein Kind, habe Geduld; erst muss die Familie aus dem Gröbsten sein, die Geschwister müssen einen Schulabschluss haben, um mit guten Chancen ins Berufsleben zu treten. Warte bis ich fünfzig bin, dann habe ich auch das Geld, dass du deinen Traum vom Theater und Ballett verwirklichen kannst. Oft hat Vater seinen Schmerz ausgedrückt, als ihn das Krebsleiden erfasst hatte und nicht mehr losließ, stattdessen ihn verzehrte. Da sagte er, wie leid es ihm tut, dass nun das angesparte Geld für die ärztliche Behandlung und die Apotheke draufgehe und nicht, wie versprochen, für die Ausbildung in Drama und Ballett.” Boris: “Den Schmerz ihres Vaters kann ich nachempfinden. Fräulein Vera, Sie tun mir leid, dass ihre Begabung deshalb nicht weiter zur Ausbildung und zum Tragen kommen kann. Aber vielleicht ergibt sich die Möglichkeit zu einem späteren Zeitpunkt, wenn ihre Geschwister ins Berufsleben gegangen sind und Sie das Geld für das Studium angespart haben.” Vera: “Das wird noch eine Weile dauern, denn noch sind nicht alle aus der Schule heraus. Doch was rede ich, was klage ich ihnen vor? Sie geben ein Konzert, sind auf der Höhe des Ruhmes, da soll ich nicht mit meinen kleinen Dingen dazwischenkommen!

      Entschuldigen Sie, das habe ich wirklich nicht so gemeint.” Boris: “So habe ich das auch nicht aufgefasst, Fräulein Vera. Ich habe doch durch meine Frage den Anlass gegeben, dass Sie mir aus ihrem Leben erzählen möchten. Und das haben Sie getan.” Vera: “Danke, dass Sie mich verstanden haben.” Boris: “Jetzt spiele ich ihnen noch etwas Chopin vor, dann muss ich aber ins Bett, um für morgen fit zu sein.” Vera räumte die Sachen auf dem Tablett zusammen und setzte sich wieder auf ihren Stuhl. Boris hatte sich auf die kurze Bank an den Flügel gesetzt, schaute kurz zu Vera herüber und spielte aus den ‘Préludes’, erst das ‘Allegro molto’ in D-Dur, dann das ‘Lento assai’in h-Moll und zum Abschluss das letzte, das ‘Allegro appassionato-Prélude’ in d-Moll.

      Boris begleitete Vera, die das Tablett trug, aus dem Musiksaal, öffnete ihr die hohe Flügeltür, drückte auf den Lichtschalter, dass der Saal in seine ursprüngliche Dunkelheit versank, schloss die Tür und ging mit Vera den breiten Flur zur Rezeption zurück, wo ein junger Mann mit schläfrigen Augen den ruhigen Nachdienst versah. Vera: “Ich wünsche ihnen eine gute Nacht. Wollen Sie geweckt werden?” Boris: “Ja um acht, das wäre sehr freundlich. Dann sehen wir uns morgen. Gute Nacht!” Er nahm den Treppenaufgang neben der Rezeption, während Vera in Richtung Speisesaal verschwand, um das Tablett in der Hotelküche abzustellen.

      Die Nacht träumte Boris eine Liebesromanze. Er hatte sich in ein Mädchen slawischer Herkunft verliebt, das außergewöhnlich schön und rassisch war. Als Liebhaber hatte er ihr Liebeslieder vorgespielt, die in ihrer Gefühlstiefe und Farbigkeit dem großen Brahms oder Liszt nicht nachstanden. Während er ihr die Liebeslieder vorspielte, wobei es zu ausladenden Arpeggien und rollenden Oktavläufen kam, saß das Mädchen neben ihm auf der Bank vor dem Flügel und schmiegte sich zärtlich an ihn. Ihre Hand fuhr sanft über seinen Kopf und streichelte das rechte Ohr. Dann küsste sie seine rechte Wange. Es war ein beglückendes Spiel im glücklichen Nebeneinander, das nach einem glücklichen Miteinander verlangte. Die Liebeslieder gab es geschrieben nicht. Sie entstanden ad hoc aus dem Augenblick des Empfindens, des Fühlens und Verlangens. Daher war es nicht verwunderlich, dass das Repertoire dieser Lieder unerschöpflich war. Es wäre so ‘ewig’ weitergegangen, war es doch die schönste der Welten, wenn nicht das Telefon geklingelt hätte, das die schönste Welt mit dem erträumten, unerschöpflichen Liebesverlangen und dem nicht weniger großen Liebesliederrepertoire im Nu zum Absturz brachte. “Guten Morgen, es ist acht Uhr”, sagte eine freundliche, junge Männerstimme. “Danke”, erwiderte Boris noch verträumt und suchte, nachdem er den Hörer aufgelegt hatte nach den Traumbelegen, die ihn so weit geführt, ja fast verführt hatten.

      Doch Belege und ihre “Unterlagen” waren weg. Nichts war von ihnen zurückgeblieben oder auffindbar. “Hätte statt der Männerstimme Vera das ‘Guten Morgen’ und die ‘Acht Uhr’ gesagt, dann wäre doch die wunderbare Welt der Liebe und ihrer Lieder geblieben und nicht wie ein Kartenhaus zusammengefallen, eingestürzt und wie vom Erdboden verschwunden.” Das war der Kommentar am Morgen eines wichtigen Tages, dem Tage vor der Aufführung des Brahms-Konzertes, den Boris sich beim Rasieren vor dem Spiegel ins Gesicht sagte, als er aus dem Bett gestiegen und dabei war, unter die Brause zu steigen. Dass die Schlafstunden zu kurz gekommen waren, das spürte er ebenso wie das Verlangen, Vera wiederzusehen. Da war doch etwas Neues in sein Leben getreten, dass es ihn nach einem andern Menschen verlangte, der bisher ausschließlich seine Mutter gewesen war. Er war gerade in seine Hose gestiegen und dabei, sie am Bund zu schließen, als das Telefon läutete und Vera ihm einen guten Morgen wünschte: “Ich wollte nur sichergehen, dass Sie auch geweckt wurden, denn Sie sagten, dass für neun Uhr die Probe in der Philharmonie angesetzt sei.” Boris: “Das ist sehr freundlich von ihnen. Haben Sie denn eine gute Nacht gehabt?” Vera: “Lange konnte ich nicht einschlafen. Meine Gedanken kreisten um die Musik und ihr wunderbares Klavierspiel.Dann sah ich Sie im Traum vor dem großen Himmelsflügel über den Wolken sitzen und hörte die ‘Préludes’ von Chopin. Sie spielten wie ein Engel. Töne und Klänge bildeten ein großes Gebäude der schönsten Bauweise, das von einem blühenden Frühlingsgarten umgeben war, in dem wir uns trafen und einander zulachten. Der Duft, der diesem Garten entströmte, war der Zauberduft der großen Liebe.”

      Boris: “Wie war es mit dem Duft, als Sie aufwachten, Fräulein Vera?” Vera: “Der ist geblieben, den konnte ich auf meiner Zunge schmecken.” Boris: “Dann haben Sie einen starken Traum gehabt mit dem Glück, dass er mit dem Erwachen nicht wie ein Kartenhaus zusammengefallen und wie vom Erdboden verschwunden war. Ich hatte auch einen schönen Traum. Als aber das Telefon um acht klingelte und der junge Mann von der Rezeption das ‘Guten Morgen, es ist acht Uhr’ sagte, war von dem Traum nichts mehr da. Ich habe nach ihm gesucht, aber nicht mehr gefunden.” Vera: “Wir müssen uns wiedersehen. Das ist, warum ich den Duft des Frühlingsgartens noch in meiner Nase habe und ihn auf der Zunge schmecke. Dann müssen Sie mir von ihrem Traum erzählen. Doch erst kommt die Probe.” Boris: “Und dann kommt das Spiel.” Vera: “Ich will Sie nicht länger aufhalten, denn Sie müssen noch frühstücken, bevor Sie in die Philharmonie gehen. Ich wünsche ihnen alles Gute zum Spiel des Konzertes und die Erfüllung ihres Glücks.” Boris: “Vielen Dank. Nach der Probe werde ich Sie entweder an der Rezeption treffen oder Sie anrufen, denn da ist ein Freiraum, ich meine noch ein leerer Raum, was die Erfüllung meines Glücks betrifft.” Vera: “Ich warte auf ihren Anruf. Bis dann!”

      “Brahms, Brahms, Brahms!” Mit diesen Worten, die er sich sagte, ging Boris die Treppe hinunter und in den Früstücksraum, in dem schon einige Gäste saßen und mit dem Schneiden und Kauen beschäftigt waren. Er bestellte sich ein Spiegelei, dem er ein Glas Fruchtsaft und ein Schälchen Müsli aus Korn, Mandeln, gewürfeltem Trockenobst und Rosinen voranschickte. Das Kännchen Bohnenkaffee wurde ihm zur gleichen Zeit mit dem Spiegelei und den zwei angebratenen


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