Die schönste Brücke der Verständigung. Helmut Lauschke
Читать онлайн книгу.“aufbrach” und in verschiedenen Höhen im Legato ausmodulierte. Das Abwechseln der Meißelschläge mit den Legatobindungen, das ging durch den ganzen Satz, als gelte es, die losgelösten “Steine oder Bruchstücke” als neue Bauelemente für die neuen Bögen (“Brückenbögen”) zu verwenden, sie miteinander zu “verleimen” und die zurückgebliebenen Brüche “aufzufüllen”, um die Risse zu schließen. Wiktor Kulczynski hatte am Vortrag bis auf einige technische Dinge, die Crescendi und Decrescendi genauer zu beachten, nichts auszusetzen. Er war vom Klaviervortrag beeindruckt und ließes Boris mit Worten wissen, dass er nur selten solch einen vollendeten Klaviervortrag gehört habe, worauf das Orchester seine Zustimmung mit klopfenden Bögen und trampelnden Füßen gab. Die Geste berührte Boris, der mit einem Lächeln dem Orchester dankend zunickte. Nun war Wiktor Kulczynski ins Schwitzen geraten und trocknete das Gesicht mit dem Taschentuch.
Der Vortrag des ‘Andante’, dem folgenden Satz, empfand er als den Höhepunkt bei der Probe. Boris selbst war ergriffen, weil er es sich nicht erklären konnte, dass es hier schon beim ersten Mal so ein enges, bis ins Detail abgestimmtes Zusammenspiel gab. Darüber freute er sich sehr und bewunderte die hohe Musikalität, die das Warschauer Philharmonische Orchester unter seinem Dirigenten hervorbrachte. Der Dirigent strahlte über sein verschwitztes Gesicht, und die Orchestermitglieder gaben sich ein gegenseitiges Lächeln. Aus Freude an der Sache und mit Zustimmung aller wurde der Satz noch einmal gespielt. Es war ein makelloser Vortrag und eine ergreifende Botschaft. Hier war die Seele des Tonschöpfers “mit Händen zu greifen”. Am Ende des Satzes klatschte Boris seine Bewunderung der Philharmonie und seinem Dirigenten zu. Hier merkte Wiktor Kulczynski an, dass mit dem ‘Andante’ die Warschauer Philharmonie ihre tiefe Ergriffenheit vom gewaltigen Geist dieser Tonschöpfung zum Ausdruck bringt und dem großen Komponisten seine Unsterblichkeit bezeugt.
Nach einer kurzen “Stimmungs”-Pause ging es an den letzten Satz, dem ‘Allegretto grazioso’. Boris ging es leicht von der Hand, als hätte er nie etwas anderes gespielt. Auch das Zusammenspiel mit dem Orchester war vollendet, als hätten sie es schon tausendmal zusammen gespielt. Wieder gab es die “Meißelschläge” und die gebundenen Bögen, die einander abwechselten. Da kamen die Achtel im Martellato auf dem Klavier, und die Sechzehntel im Orchester wurden zu unterschliedlich langen Bögen gespannt. Wurdendie Stimmen im Orchester “gemeißelt”, dann brachte das Klavier die rollenden Legatobögen. Es war Ausdruck des Lebens in seiner Vitalität und Farbigkeit. Die eingeschobenen lyrisch-verhaltenen und heiter-offenen Passagen weiteten den Raum zu nachdenklich-erinnernden Reflexionen und verliehen dem Allegretto den Charme einer liebenswürdigen Leichtigkeit. Es sprühte, als würde ein Feuerwerk entzündet; es blühte, als stünde ein neuer Frühling ins Haus. Von Hoffnung wurde allemal “gesprochen”. Ihr wurde im Schlussteil im ‘un poco più presto’ Taktmeter die Zuversicht dazugegeben. Nun rollten in der rechten Hand die martellierten Triolen über die gestreckten, arpeggierten Oktaven und Dezimen in der linken Hand, bis das verbindende Legato des Friedens kam, das weite Bögen, schließlich über mehrere Oktaven zog. So wurden Hoffnung und Zuversicht miteinander verfugt und “festgetönt”. Sie wurden im Schlussakkord des B-Dur mit der Fermate gesichert, verankert und festgemacht, als stünde der Himmel mit der Erde im Einklang, wären die Sterne greifbar, wäre der Himmel bereits auf Erden.
Wiktor Kulczynski ordnete eine Pause von dreißig Minuten an, die er dazu nutzte, ein informatives Gespräch mit Boris zu führen. Die Mitglieder des Orchesters verließen die Bühne, um sich im Foyer eine Zigarette anzustecken und im kleinen Getränkeladen außerhalb der Philharmonie eine Tasse Kaffee oder ein Erfrischungsgetränk anderer Art zu beschaffen. Kulczynski: “Herr Baródin, ich möchte ihnen mein Kompliment aussprechen.Ihr Spiel hat mit sehr gut gefallen. Das ‘Andante’ habe ich noch nie so schön spielen gehört wie von Ihnen. Da haben Sie den ganz hohen Standard nicht nur erreicht, Sie haben ihn mit ihrem Spiel übertroffen. Darf ich fragen, wann Sie zuletzt das Brahms’sche Konzert gespielt haben?” Boris: “Es war vor einem dreiviertel Jahr, als ich es in der Carnegie Hall in New York unter Bernstein gespielt habe. Dann habe ich es im Leipziger Gewandhaus unter Sir Solti gebracht.” Kulczinski: “Ich gehe davon aus, dass auch diese beiden großen Dirigenten von ihrem Vortrag begeistert waren.” Boris: “Bernstein schlug mir mit einem breiten Lachen und der Bemerkung auf die Schulter: “Boris, it was a great performance”. Sir Solti machte es auf seine feine Art; er lächelte mir zu, gab mir die Hand und sagte: “Brahms würde sich freuen, von einem Pianisten so gut verstanden worden zu sein. Ich gratuliere ihnen zu ihrem Spiel.” Kulczynski: “Den beiden kann ich mich nur anschließen, denn ihr Vortrag hatte Weltklasse. Sie wissen, dass Brahms für uns Polen nicht so leicht zu spielen ist wie Mozart, Tschaikowsky oder Mendelssohn Bartholdy, weil er ganz deutsch im Beethoven’schen Sinne geschrieben hat. Aber Sie haben uns mit ihrem Spiel ganz eingenommen, haben uns mitgerissen, haben uns den guten Brahms auf ihre Weise lieben gelehrt. Das ist ein Verdienst, das ihnen zukommt, wofür ich, auch im Namen der Philharmonie, ihnen meinen Dank ausspreche.” Boris: “Nun übertreiben Sie aber, Maestro Kulczynski. Denn selten habe ich ein so inniges Zusammenspiel mit einem Orchester erlebt wie mit der Polnischen Philharmonie.” Kulczynski: “Sehr freundlich von Ihnen. Doch, das darf ich sagen, wir haben uns auf ihr Kommen gefreut und uns auch gründlich vorbereitet.” Boris: “Das habe ich mit großer Freude vernommen und gespürt.”
Kulczynski: “Lieber Baródin, im Saal sitzt meine Schwester. Sie war sehr gespannt, ihr Spiel zu hören und würde sich sehr freuen, Sie persönlich kennenzulernen. Würden Sie das tun und mir die Ehre geben, Sie meiner Schwester vorzustellen?” Boris: “Das tue ich gern. Es ist mir eine Ehre.” Er drehte sich dem Saal zu und sah in der fünften Reihe eine alte Dame in dunkler Bekleidung und schneeweißem Haar. Sie gingen die sechs Stufen herab und auf die fünfte Reihe zu.
“Lydia”, sagte Wiktor Kulczynski, als sie die fünfte Sitzreihe erreichten, “darf ich dir Herrn Baródin vorstellen? Das ist meine Schwester Lydia Grosz.” Boris verbeugte sich vor der Dame, als sie ihm ihre Hand entgegenhielt und sie sich die Hände gaben. “Ich freue mich, Sie kennenzulernen”, sprach sie in fehlerfreiem Hochdeutsch, “ich habe viel von ihnen gehört und in den Kritiken über Sie gelesen.” Boris: “Hoffentlich waren Sie dann nicht enttäuscht.” “Nein, ganz im Gegenteil, Sie sind ein großartiger Pianist, davon konnte ich mich heute morgen persönlich überzeugen. Selten habe ich das Brahms-Konzert so eindrucksvoll erlebt wie bei ihrem Spiel. Ich habe das Konzert noch von Kempff, Horowitz und Goulda gehört. Denen stehen Sie nicht nach. Das ist bei ihren jungen Jahren eine Leistung, die Anerkennung verdient!”. Wiktor Kulczynskistrahlte beim Kompliment seiner Schwester, auf deren Urteil er offensichtlich großen Wert legte, Boris an: “Nun hören Sie es von meiner Schwester, die sehr kritisch ist und in ihren jüngeren Jahren selbst eine hervorragende Pianistin war.” Boris sah der Dame hilflos in die Augen, denn ihm fiel eine bessere Antwort nicht ein: “Vielen Dank! Das ist sehr freundlich von Ihnen.” Lydia Grosz: “Herr Baródin, ich würde Sie gerne zum Tee in meinem Haus einladen. Wäre es ihnen möglich, zwischen fünf und sechs bei mir zu sein? Dann können wir uns ein wenig unterhalten. Ich habe erfahren, dass Sie im Polnischen Hof sind. Ich wohne in der Pilsudski-Straße 17. Diese Straße führt direkt zu ihrem Hotel. Wenn Sie aus dem Hotel kommen, sind es etwas vierhundert Meter.” Boris hatte eigentlich vorgehabt, sich mit Vera zu treffen, wusste aber nicht, ob sie am Abend frei hatte: “Es wäre mir eine große Ehre, Sie in ihrem Hause besuchen zu dürfen.” Lydia Grosz: “Dann sehen wir uns zwischen fünf und sechs.”
Das Orchester versammelte sich auf der Bühne, um die Probe wieder aufzunehmen. Auf dem Programm stand Tschaikowsky’s Fünfte in e-Moll, Opus 64. Wiktor Kulczynski hatte sich aufs Podium begeben und blätterte in der Partitur. “Nehmen wir uns nun die Fünfte vor. Es ist ein großes Werk, das uns Polen ins Herz geschrieben wurde. Konzertmeister, ich darf um das ‘A’ bitten.” Der junge Konzertmeister mit den dunkelbraunen Augen und dem langen, zurückgekämmten schwarzen Haar strich den Bogen über der A-Saite rauf und runter. Er hatte zuvor den Saitenton mit dem ersten Fagott abgestimmt. Kulczynski: “Nun bitte alle das ‘A’. Bei den Celli ist das ‘A’ zu tief. Bitte noch einmal stimmen”, worauf der Konzertmeister noch einmal und so lange über die leere A-Saite strich, bis die Saiten aller Streichinstrumente gleichmäßig gestimmt waren. Kulczynski: “Danke. Nun wollen wir beginnen. Beachten Sie die Lautzeichen mit den