DIE SUCHE NACH DER MACHT. Stefan Sethe

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DIE SUCHE NACH DER MACHT - Stefan Sethe


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Informationen filtern, abschwächen oder verstärken, verfügte über diverse Privilegien, übernachtete nur noch in den Spitzenhotels etc. In dieser Position wird man von Journalisten ebenso hofiert wie von Ministern, und ebenso in den Kanzlerbungalow eingeladen wie ins Gästehaus des Staatsratsvorsitzenden der DDR.

      Gedanken zur Sozialen Selbstverantwortung

      Aber was macht man mit der Macht? Ich spürte, dass mir die Kraft fehlen würde, selbst etwas zu verändern, verlegte mich aufs Schreiben, aufs Analysieren, aufs Mahnen. Ich verfasste oft im eigenen Namen, meist aber im Auftrag und unter dem Namen bekannterer Politiker unzählige Kolumnen. Die seinerzeit von mir verfassten Beiträge und Analysen haben an Aktualität und Brisanz kaum eingebüßt. Das spricht allerdings weniger für den Autor, sondern stellt vielmehr unserer Gesellschaft ein Armutszeugnis aus, weil sich die Problemlagen weiter verschärft haben und sich die Unfähigkeit zu Handeln (um Mitscherlich abzuwandeln) zementiert hat. Der Altliberale (war er je ein Liberaler?) Hans-Dietrich Genscher und der Neuliberale Christian Lindner haben kürzlich gemeinsam ein Buch mit dem Titel „Brückenschläge“ herausgebracht. Sie hätten es sich sparen können. Letztlich gibt es im Kern nur wieder, was ich vor 30 Jahren schon in der Neuen Bonner Depesche als liberale „Kampfschrift“ und zur eigenen Standortbestimmung veröffentlichte:

      Mehr Mut zum Liberalismus

      Stefan Sethe - Neue Bonner Depesche; Mai 1984

       Die Wahlen in Baden-Württemberg haben erneut gezeigt. dass die Grüne „Bewegung" in der Tat mehr ist als eine Partei. Kriterien, die üblicherweise für den Erfolg einer Partei ausschlaggebend sind (Geschlossenheit, personelle Identifikationsmöglichkeit, positive Tätigkeitsbilanz, programmatische Stringenz, offensiver Wahlkampf) spielten bei der Stimmabgabe für die Grünen keine entscheidende Rolle. Östliche Gesprächspartner sehen in der Grünen Bewegung bei uns ein typisch revolutionäres Potential. Wenngleich sich die Zielsetzung der Grünen nicht mit marxistischen Maßstäben messen lässt. Das grüne Protestpotential wendet sich nicht in erster Linie gegen die politischen Machtverhältnisse im Grundsatz sondern gegen die Art der Ausübung.

       Dahinter stehen mehr oder minder diffuse Ängste vor der Vernichtung unseres Lebensraumes durch Umweltverschmutzung oder Krieg. Ängste, die tiefer liegen als dass sie sich durch die Umarmungstaktik der SPD, zum Beispiel bei der Abstimmung über die NATO-Nachrüstung, beruhigen ließen. Dahinter steht aber auch eine tiefe Sorge um die Entpersönlichung in unserer Gesellschaft. Die Unzufriedenheit der Übersättigten mit sich selbst wird ebenso auf die „etablierten“ Parteien abgeladen wie die Sorgen, die mit Schlagworten verbunden sind wie: Entmündigung des Bürgers, Bürokratie, Entfremdung vom Staat und vom Nächsten. Die Ungeduld der Jugend trifft zudem auf eine extreme Risikoscheu bei den Älteren.

       Im Grunde geht es um nicht mehr und nicht weniger als um das Aufleben urliberalen Gedankengutes. Versucht man in die Kramladenprogrammatik der Grünen einige durchgängige Linien zu ziehen, so stößt man hinter dem Umwelt und dem Friedensthema unweigerlich auf typische Gesichtspunkte des Liberalismus: Selbstverwirklichung und -bestimmung. Eigeninitiative, Selbstverantwortung und Selbsthilfe bei den Bürgern, dezentrale Demokratie, Autonomie, bürgernahe Selbstverwaltung, überschaubare Produktionseinheiten (kleine und mittlere Betriebe sind zu fördern), Entbürokratisierung.

       Auch die Grünen sind gegen die „Verharzung“ der Gesellschaft, wie es Ralf Dahrendorf nennt, wobei sich allerdings die Liberalen von den grünen Programmatikern durch ihre Leistungs- und Wettbewerbsorientierung unterscheiden.

       Die Gesellschaft, vor allem die Jugend, verlangt immer stärker nach Liberalismus, ohne sich dessen bewusst zu sein, denn Liberalismus hat für viele noch etwas Antiquiertes. Man denkt an den Kampf gegen Absolutismus und kirchliche Willkür, man denkt an den Wirtschaftsliberalismus der 50er Jahre oder den Sozialliberalismus, der, nicht immer zu Recht, mit dem Namen Karl-Hermann Flach verbunden wird. Heute braucht jedoch Liberalismus keine schmückenden Attribute mehr. Der karge, kämpferische Urliberalismus ist wieder gefragt und mehr denn je von Nöten.

       Die Liberalen haben zwar die Bürgerrechte erzwungen, die Bürgerpflichten kamen dabei jedoch zu kurz. Im ausgehenden 20. Jahrhundert ist die Freiheit des Einzelnen und damit die Würde des Menschen nachhaltiger in Gefahr als je zuvor. Heute ist der pure Liberalismus zur gesellschaftlichen Notwendigkeit geworden - nicht als Mehrheitsbeschaffer oder Koalitionskorrektiv - sondern als bestimmende gesellschaftliche Kraft. Der Wahlspruch von 1976 „F.D.P.: Die liberale Alternative" war insofern verfehlt, als es einfach keine vernünftige Alternative zum Liberalismus mehr gibt.

       Freiheit wird zunehmend zu einem Synonym für Verantwortung. In früheren Gesellschaften war der Zwang zur Selbstverantwortung und zur Mitverantwortung für den Familienverband, die Gemeinde, den Hof, den Berufsstand oder die Stadt eine Selbstverständlichkeit. Kein Absolutismus, keine Tyrannei konnten daran etwas ändern. Im Zeitalter des Wohlfahrtsstaates, der Pille, der anonymen Hochhäuser, der Wegwerfgesellschaft ist dieser Zwang nicht mehr gegeben. In gleichem Maße nimmt die Freiheit des Einzelnen ab. Die Krankheitssymptome der Gesellschaft nehmen zu. Wer fragt schon noch als erstes: Wie kann ich mir selbst helfen, wie weit gehen meine eigenen Möglichkeiten?

       Es fehlt an Mut für kühne Würfe. Der Weg des geringsten Risikos ist zwar kurzfristig der sicherste, führt aber langfristig auch am sichersten in die Erstarrung. Die Kreativität des Einzelnen muss wieder in den Vordergrund der Überlegungen rücken. Die Schwerfälligkeit des Staates erstickt die meisten dringend notwendigen gesellschaftlichen Innovationsprozesse.

       Ein Schicksal, das z. B. auch dem Mischnick-Plan für den Familienlastenausgleich droht. Drastische Erhöhung des Kindergeldes bei gleichzeitiger Versteuerung brächte mehr soziale Gerechtigkeit, eine Entlastung der Arbeitsämter und eine unschätzbare psychologische Komponente für die Familienplanung. Der Plan ist ebenso einfach und einleuchtend wie offensichtlich undurchführbar. Ähnliches gilt für die Umlegung der Kraftfahrzeugsteuer auf die Mineralölsteuer oder den Mischnick-Plan zur Alterssicherung.

       Um einmal einen besonders ketzerischen Gedanken aufzugreifen: Ein oder zwei (freiwillige) Sozialjahre für die Schulabsolventen ließen nicht nur das Arbeitslosenproblem in weit erfreulicherem Licht erscheinen, auch der überlastete Sozialbereich könnte aufatmen. Manche Probleme bei der Kranken-, Alten- und Behindertenbetreuung, bei der Waldpflege oder auch bei der Instandhaltung von Gebäuden und Kulturstätten wären einfacher zu lösen. Die Fähigkeit der Gesellschaft zur flexiblen Reaktion, der Mut zum Wandel, zur strukturellen Änderung nimmt jedoch ständig ab, wird überlagert von Leerlauf erstarrter Bürokratie und dem Konkurrenzdenken verschiedenster Institutionen.

       Die Verkrustungen müssen aufgebrochen werden. Das Undenkbare muss wieder denkbar werden.

       Warum ist z. B. Wachstum immer noch ein Fetisch?

       Warum gibt es keine Lohnabschlüsse mit negativen Vorzeichen?

       Warum werden Alternativen zu Kernkraftwerken nur halbherzig entwickelt?

       Warum erzeugt die schlichte Erwähnung des Wortes „Elite“ gleich eine Hysterie?

       Warum ist die Eindämmung des Individualverkehrs so schwierig ?

       Warum wandern die Ideen zur außergerichtlichen Streitbeilegung immer wieder nur in Schubladen?

       Warum kann der defensive Charakter der Bundeswehr nicht noch deutlicher werden?

       Warum haben auch die Liberalen immer noch keinen Plan zur dauerhaften Zukunftssicherung und Reaktivierung Berlins?

      Warum ist die Staatsbürgerschaft der DDR ein Tabu? (zugegeben, hier lag ich verkehrt!)

       Warum sind unsere Vorstellungen zur EG-Reform nicht griffig genug?


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