Der große Reformbetrug. Udo Schenck
Читать онлайн книгу.einem Septembermorgen im Jahr 2009 nähere ich mich dem Jobcenter Neukölln in der Sonnenallee und erblicke besorgt das ca. 60 bis 70 Meter lange Ende einer Warteschlange aus mehr oder weniger langen, verdrossenen Gesichtern, das aus dem Gebäude des früheren Arbeitsamtes, einem in die Jahre gekommenen Industriebacksteinbau, herausragt und hinter dem ich mich nun notgedrungen anstellen muss. Zum Glück regnet es nicht und kalt sind die Morgenstunden auch noch nicht. Ich muss einige Dokumente abgeben und will mir den Empfang mit einem Eingangsstempel auf den Kopien von diesen Dokumenten, die ich eigens dafür gemacht habe, bestätigen lassen. Außerdem erinnerte ich mich an die Möglichkeit drei Wochen im Jahr den Wohnort verlassen zu dürfen um u. a. Urlaub machen zu können. Dies will ich mir bei dieser Gelegenheit genehmigen lassen. Vielleicht werde ich für eine Woche wegfahren, für länger wird es wohl nicht reichen. Aber wenigstens habe ich dann einmal drei Wochen Ruhe vor dem Jobcenter, so hoffe ich. Ende September, Anfang Oktober, der Altweibersommer, Tucholskys fünfte Jahreszeit ist meistens eine sehr schöne Zeit für Wanderungen in Deutschland. So lange ich dies nicht mehr machen konnte, so sehr freue ich mich nun darauf, auf ein paar stille und sonnendurchflutete Tage, weit weg in einer anmutigen, weiten Mittelgebirgslandschaft, wo ich mal etwas anderes sehen kann und raus komme, aus dem verfluchten Alarmstufe Gelb-Modus (s. Kap. „Leben“ unter den Hartz-Gesetzen - …), vielleicht dorthin wo ich einst meine Diplomarbeit schrieb oder an die Ostsee.
Die Dokumente in den Hausbriefkasten des Jobcenters werfen oder mit der Post senden ist zu riskant. Immer wieder gehen Dokumente und Anträge verloren oder das Jobcenter behauptet einfach die entsprechenden Dokumente nie erhalten zu haben. Neben meinen eigenen leidvollen Erfahrungen höre ich dies immer wieder von anderen, so wie dieser Umstand von Zeit zu Zeit Thema in den Medien ist, vor allem in den Lokalblättern. Noch im vergangenen Jahr konnte man Dokumente und Anträge gegen eine Eingangsbestätigung bei der Poststelle im Hause abgeben, was eine Sache von nur wenigen Minuten war. Ich frage mich warum das heute nicht mehr geht, will man vielleicht die Gewährleistung des Empfangs von Dokumenten hintertreiben? So muss ich mich hier nun womöglich stundenlang anstellen und die Schlange unnötig verlängern um meine Sicherheit zu bekommen und ruhig schlafen zu können.
Es geht nur sehr schleppend voran; die Sicherheitskräfte mit ihrem zackigen, Barett bekröntem Auftritt lassen immer nur ein halbes Dutzend sog. Kunden in den Anmeldungssaal hinein. Die Leute hier draußen sind genervt, einigen ist es zu viel, sie gehen wieder davon. Sonnenallee – welch eine Ironie, dieser Name. Selbst der heutige Sonnenschein vermag nicht über die Tristesse dieser Gegend hinwegzutrösten, einer Mischung aus heruntergekommener Industrie- und Wohngegend, deren Bewohnern die Freudlosigkeit und der Argwohn aus den Augen blicken und den Gesichtern sprechen, desillusioniert, stumpf und manchmal ziemlich roh. So gilt diese Gegend als eine der vielen so genannten Problemgebiete Berlins. Warum befindet sich das Jobcenter gerade hier? – ein Problem zieht wohl doch das andere nach sich.
Nach einer guten halben Stunde gehöre ich endlich zu denen, die hineingelassen werden. Ich stehe nun drinnen in der großen Empfangshalle, noch dicht an der Glastür, durch die ich hinein gelangte. Die Luft ist zum schneiden dick und die Menschenschlange ist mit ihren durch die Absperrbänder geleiteten Windungen so dicht gepackt, so notgedrungen, dass sie kaum mehr als Schlange wahrnehmbar ist. Ich frage mich, was ich mir hier eigentlich antue, wie lange soll ich hier heute wohl noch stehen? Und in noch gedämpfter, eingeschnürter Empörung beginne ich mich ebenso zu fragen was die hier, das Jobcenter, mit den Menschen machen, was das soll, muss das hier so ablaufen? Ein alltäglicher „Ausnahmezustand“, wie mir von anderen Leidensgenossen, mit denen ich beiläufig ein paar Worte wechsle, bestätigt wird. Zum Glück ist meine Ischialgie überwunden, sonst könnte ich hier nicht so lange stehen. Die zusammengestauchte Riesenschlange aus langen, oft müden aber nicht selten bereits siedenden Gesichtern staut sich vor der geschlossenen Front von 12 Anmeldungsschaltern, die in ihrer baulichen Höhe beinahe an ein Bollwerk erinnern. Nur sieben Schalter sind besetzt, mit zumeist auffällig jungen Bediensteten, die deutlich erhöht sitzen. Warum sitzen die so erhöht, damit sie vor der Riesenschlange geschützt sind, oder vielleicht damit sie zu einem herabblicken können, damit man selbst zu ihnen aufschauen muss, wie zu seinem Herren?
Früher, noch vor Einführung der Hartz-Gesetze, als es noch Arbeitsamt hieß war ich schon einmal einige Zeit erwerbslos, da gab es diese Anmeldungsschalter hier noch nicht. Damals wurden die Erwerbslosen noch diversen Berufssparten, wie u. a. Handwerkern, Ungelernten oder Akademikern, zugeordnet um sie gezielt und individuell betreuen zu können. Hatte man ein Anliegen so ging man damals in den entsprechend zuständigen Bereich und zog eine Wartenummer, dessen Anzeige und Aufruf abzuwarten war und setzte sich nieder. Es kam nicht annähernd zu solch langen Warte- und Stehzeiten wie heute, obwohl die offizielle Zahl der Erwerbslosen damals eher noch höher war als heute und die Erwerbslosen, die das Arbeitslosengeld I erhielten, hier mit betreut wurden. Heute werden alle Arbeitslosen unter Hartz IV bzw. die Empfänger des Arbeitslosengeldes II in einen Topf geworfen, weil heute angeblich jede sittlich vertretbar erscheinende Arbeit zumutbar sei. Dass die Vermittlung so effizienter und Kundenorientierter arbeiten soll erscheint sehr zweifelhaft. Aber darauf scheint es nicht mehr so anzukommen. Seit Einführung von Hartz IV heißen die Arbeitslosen bzw. Erwerbslosen nun „Kunden“, sowenig sie aber damit Könige sind.
Habe ich eine Windung der mächtigen Schlange von langen Gesichtern hinter mir gelassen, so begegnen mir auf der jeweils anderen Seite der führenden Absperrungen stets bekannte Gesichter, gleich Landmarken die verraten, dass es doch allmählich voran zu gehen scheint, durch diese elende Wüste hin zum unbedingt Lebensnotwendigen. So dick, verbraucht und schwül die Luft im Saal, so dicht und gespannt das Murmeln und Wabern dieser trägen Menschenschlange, die sich notgedrungen durch ihr Schicksal wälzt. Am Rande der Menschenmassen stolzieren geschwellter Brust ein halbes Dutzend uniformierte Sicherheitskräfte irgendeiner namenlosen, billigen Securityfirma. So mancher von denen hat hier möglicherweise auch schon mal in der Schlange gestanden. Auch die gab es früher, vor den Hartz-Reformen noch nicht, nicht ein einziger von solchen Wachleuten war da zu sehen. Wahrscheinlich dachte man sich in „weiser“ Voraussicht, wird man Gesetze erlassen, die den Druck auf die Erwerbslosen erheblich erhöhen, wird man es wohl häufiger mit einem Aufbegehren seitens dieser zu tun bekommen.
Wann bin ich hier bloß raus? Die Anmeldungsschalter rücken nur in Trippelschritten näher. An manchen wird heftig gestikuliert, laut gehadert und der Kopf geschüttelt. Einige Kunden wenden sich mit noch längeren Gesichtern von den Schaltern ab, als mit denen sie gekommen waren. Wieder anderen sieht man die Erleichterung an, eine Hürde hinter sich gelassen zu haben. Plötzlich dringt aus einiger Entfernung Geschrei und Gekeife von einer jungen blonden Frau heran, das offenbar einem stämmigen Kunden, mittleren Alters gilt, der sich vorgedrängelt haben soll. So zeigt sich, dass diese Menschenschlange eben doch kein einziger, geschlossener Organismus ist, sondern aus einer Vielzahl Individuen besteht, die oft nicht miteinander können, sich nicht einig sind und nur ihren individuellen Vorteil suchen, wie der Vernunft abgewandte Hühner in einem Hühner-KZ (Ausdruck nach Stanislaw Lem, u. a. Sciencefiction-Autor, für Legebatterien), die sich gegenseitig rupfen und nicht wehren können, gegen die, von denen sie eingesperrt wurden. Schon ist ein Trupp Barettbewehrtes Sicherheitspersonal mit sichtlicher Einsatzfreude zur Stelle. Die Sicherheitsleute bauen sich vor den Widersachern auf, es gibt heftige Diskussionen, eine Rangelei, dann ebbt das Gezeter ab um noch einmal anzuheben und dann endlich zu verstummen. So wird der stämmige Mann auf engagiert rustikale Weise von den Wachleuten nach draußen bugsiert.
Ein Platzanweiser in Uniform, vor dem linken Ende der Schalter und dem Kopf der Menschenschlange, dirigiert die Kunden zu gelegentlich frei werdenden Schaltern. Nun sind nur noch fünf Schalter besetzt und die müden, langen Gesichter tröpfeln noch zähflüssiger zu ihnen hin; anscheinend beginnt jetzt schon die Mittagspause oder was auch immer. Endlich stehe ich direkt vor dem Platzanweiser und den Schaltern, und dies nach insgesamt fast eindreiviertel Stunden. Der Platzanweiser weist mich zu einem soeben frei gewordenen Schalter und in dem Bewusstsein es gleich geschafft zu haben und endlich nach Hause gehen zu können, begebe ich mich leichten Fußes dort hin. Über mir sitzt ein rühriger und vielleicht auch ein wenig zarthäutiger und flapsiger junger Mann, der gerade die Schulbänke hinter sich gelassen haben könnte, beseelt von dem Stolz in einem Praktikum die ersten Referenzen erwerben zu dürfen. In seinem Schatten sitzt eine bebrillte und strengmienige