Mondschattenland. Wolfgang Bendick

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Mondschattenland - Wolfgang Bendick


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los und wollten gerade einsteigen, da tauchte ein neuer Türke auf, diesmal geschniegelt und gestriegelt, mit Goldzähnen an Stelle der Zahnlücken, mehrere goldene Ringe mit dicken Steinen an den Fingern. In einer Hand hielt er eine Gebetsschnur, in der anderen eine Zigarette. Ohne die Gebetsschnur hätte man ihn für einen sizilianischen Mafioso halten können. Wir spürten unter der Haut, dass sich da etwas anbahnte! Wir versuchten ihn zu übersehen, doch das kam schlecht bei ihm an. Er sprach auch etwas Deutsch, doch nutzte er diese Kenntnisse nicht, um die seit Kemal Atatürk und Kaiser Wilhelm des Zweiten bestehende Freundschaft dieser zwei Völker zu bestätigen, sondern um uns zu erklären, wir schuldeten ihm umgerechnete 100 DM. Wir waren platt. Haben doch unsere Pannenhelfer nichts gewollt, und dieser Typ will jetzt abkassieren! Er erklärte uns, er sei hier der große Chef, noch über der Polizei. Er ist hier die Obrigkeit. Er ist der Besitzer des Traktors, er ist der Besitzer der Ländereien und der Leute. Wir sehen, mit Logik können wir ihn nicht widerlegen, also machen wir einen auf arm. Wir erklären ihm, dass wir kein Geld haben. Er meint, für Benzin müssen wir ja auch bezahlen. Ich antworte, dass wir Leute mitnehmen, die uns das Benzin bezahlen. Die Schiebetür ist offen. Darin liegt noch alles, wie wir es hineingeworfen hatten, Kleidung, Ersatzteile, alles durcheinander. Er sieht ein paar Schuhe, die uns mein Vater mitgegeben hatte, zum Eintauschen. Sie gefallen ihm. Ein alter Anzug meines Vaters, gerade seine Größe. Und ich hatte gedacht, wir könnten das mal als Putzlappen nehmen. Völlig aus der Mode! Er wühlt in dem Durcheinander rum und fischt noch ein blau-weiß gestreiftes Hemd hervor und ein paar Krawatten. Er vergisst in seinem Eifer sogar das Beten und die Zigarette. Er schlüpft in die Jacke, hängt sich die Krawatten um den Hals. Das erinnert mich daran, wenn wir Kinder früher mit dem Vater zum Ausverkauf gingen. „Das passt ja bestens!“, sagte er immer und kaufte. Auf unser „ja, aber das ist doch viel zu groß!“, antwortete er jedes Mal, „da wachst ihr noch rein!“ „Das ist doch gar nicht mehr modern!“, warfen wir ein. „Das ist zeitlos, sowas kann man immer tragen!“ Zufriedener als wir Kinder es damals gewesen waren, zieht unser Großbauer von dannen.

      Es dunkelt. Wir steigen in das Auto und fahren bis zu einer Tankstelle, deren Leuchtreklame wir nicht weit entfernt sehen, um die Batterien aufladen zu lassen und wegen eines Reglers zu schauen. Die Leute, eine junge Familie, sind sehr nett. Sie laden uns zum Tee ein. Später sitzen die Kinder, zwei Mädchen, so 10 und 12 Jahre alt, bei uns im Bus. Ich spiele auf der Mundharmonika, Doris auf ihrer Blockflöte, sie singen. Doris malt mit ihnen Wasserfarben-Bilder. Der Tankwart kennt eine Werkstatt, wo man uns am nächsten Tag einen neuen Laderegler einbaut. Leider ist das einer für einen VW-Käfer, also unterbemessen. Wir klemmen vorsichtshalber eine Batterie ab, um sie als Reserve zu haben. Bei der Weiterfahrt wird er heiß und fängt an, nach verbranntem Plastik zu riechen, wie sein Vorgänger. Erst später in Trabzon finden wir einen LKW-Regler, der dann ohne Probleme seine Arbeit macht.

      Auf unserer Karte ist hier eine Nebenstrecke eingezeichnet, die nach Sivas abzweigt. Wir beschließen, sie zu nehmen. Sie führt durch eine urtümliche Gegend. Winzige, mittelalterliche Dörfer säumen sie, die Frauen tragen zum Teil noch Schleier. Doch ist sie dermaßen steil und eng, und zudem stellenweise mit dicken Kieselsteinen gepflastert, dass uns nach einer Stunde das Auto leidtut und wir umdrehen. Wir fahren also weiter am Schwarzen Meer entlang bis Trabzon. Es gibt hier stellenweise Badeorte, die sich sehen lassen können. Weiße Strände, Palmen, Hotelbauten. Es gibt nicht nur arme Türken, die für sich und ihre Familie in Deutschland das Überleben erarbeiten. Es gibt auch reiche. Einen hatten wir ja gestern erst kennen gelernt!

      Ararat

      Ab Trabzon geht es steil bergauf. Zwei Bergketten sind zu überwinden, um nach Erzurum zu gelangen. Oft fahren wir hinter einem der vielen LKWs. Vor lauter Staub und Auspuffdreck kann der Fahrer kaum einen Blick auf die wilde Landschaft werfen. Auch der Beifahrer ist beschäftigt, zu erkunden, ob ein Überholmanöver möglich ist, oder zu erraten, wie sich jenes Fahrzeug verhalten wird. Wir wechseln uns im Fahren ab. Anfangs sind die steilen Hänge noch mit saftig grünem Wald bedeckt. Weiter vom Meer wird dieser schmächtiger, die Baumgrenze ist nicht sehr hoch. Reißende Flüsse bahnen sich tief unten in den Schluchten ihren Weg, gespeist von Bächen, die oft in Wasserfällen auf die Straße rieseln. Wo kein Teer ist, haben sich tiefe Pfützen gebildet, die bei jeder Passage noch tiefer werden und die heißen Bremsen zum Dampfen bringen. Dunkle Tunnelröhren, undurchsichtig vor Abgasen, verschlingen uns. Die Lichter der Entgegenkommenden erkennen wir erst im letzten Moment, gleich zwei kleinen Orangen. Wasser rieselt von der Decke, ab und zu ein paar Steine. Unsere Reifen machen sich gut. Erst zwei Plattfüße auf der ganzen Reise! Ich habe sie bei der ersten Gelegenheit wieder geflickt. Man kann nie wissen… Irgendwo oben im Gebirge halten wir für die Nacht. Jemand gibt uns zu verstehen, dass wir da nicht bleiben können. Zu gefährlich. Wir können aber neben einer nicht weit entfernten Kaserne unser Nachtlager aufschlagen. Immer wird von kurdischen Rebellen gesprochen, wenn es mal nicht armenische sind… Die Soldaten, meist junge Wehrpflichtige, bringen uns etwas zum Essen. Dann bringen sie Tee. Ich spiele auf meiner Mundharmonika. Sie holen ein paar Zupfinstrumente und singen und tanzen uns was vor. Irgendwann macht ein Übergeordneter dem Ganzen ein Ende. Sonst wäre es wohl die ganze Nacht so weitergegangen. Außerdem wurden sie langsam zu übermütig und fingen an, zweideutige Bemerkungen zu machen.

      Am Vormittag fuhren wir weiter. An einem Pass machten wir Halt und schauten auf die Berge, manche leicht mit Schnee bezuckert. Rundum reihten sich eine Kette hinter die andere, bis zu Horizont. Wir legten uns in die Sonne, die hier oben angenehm war, solange wir im Windschatten blieben. Wir dachten, wir sind hier oben die einzigen Menschen. Doch nicht lange. Bald stand eine zerlumpte Kinderschar um uns herum und beäugte uns. Sie machten uns Zeichen, die wir als Zündhölzer interpretierten. Wir gaben ihnen welche. Sie versuchten sie und steckten den Rest in die Taschen, nachdem sie sich eine Weile mehr im Spaß um deren Besitz gebalgt hatten. Klar, dass die Kleinen keine abbekommen hatten. An Ruhe und Bergblick war nicht mehr zu denken. Wir gaben jedem noch ein Bonbon, obwohl sie nach Zigaretten gefragt hatten, und den Großen jedem einen Kugelschreiber. Damit malten sie sich auf die Hände und versuchten sich auch an den Steinen und am Auto. Wir dachten, jetzt könnten wir mehr oder weniger unauffällig abhauen. Als wir dann eingestiegen waren, umlagerten sie noch eine Weile das Auto. Ich musste laut hupen und plötzlich anfahren, damit sie aus dem Weg sprangen. Kaum waren wir ein paar Meter weg, da bückten sie sich und schon flogen die ersten Steine. Aber wir waren schneller. „Endlich Ruhe!“, dachten wir. Doch wer stand schon an der nächsten Kurve, die Hände voller Steine? Unsere freundliche Kinderschar. Sie hatten eine Abkürzung genommen. Der Steinregen ging los, doch verfehlten uns die meisten. Wir drückten die Hände fest an die Scheibe, um zu verhindern, dass sie springt, oder um sie gleich hinaus zu drücken, falls sie in kleine Scherben zerplittern sollte. Schon rannten die ersten die nächste Abkürzung hinunter. Ich gab Vollgas, um ihnen zuvorzukommen. Dann auf sie zu, im letzten Moment bremsen und hupen, um ihnen Angst zu machen. Das gelang. So erwischten wir die Steine nur von hinten. Nach drei, vier Kurven hatten wir sie endlich abgehängt. Doch was machten sie jetzt? Wir schauten den Hang hoch und erschraken. Sie fingen an, kleinere Felsen den Hang hinunter zu rollen. Diese hüpften, sich immer wilder drehend in immer größeren Sprüngen fächerartig den Hang hinab. Manche verrollten ins Leere, andere zerschellten an größeren Blöcken, ein paar erreichten die Straße. Mir gelang es knapp, ihnen auszuweichen. Erst, als die Piste flacher wurde, waren wir aus dem Gefahrenbereich. War das böse Absicht? Ich glaube nicht. Denn auch wir hatten früher auf Bergtouren mit der Schulklasse denselben Unsinn gemacht. Aus purer Freude, die Steine hüpfen zu sehen und in das Unterholz krachen zu hören. Und auch, weil es uns die Lehrerin ausdrücklich verboten hatte, und aus Angeberei vor den anderen.

      Am Abend kamen wir in Erzurum an, ungefähr in 2000 Metern Höhe gelegen. Es ist die größte Stadt Anatoliens, der Osttürkei. Bis zum ersten Weltkrieg gehörte das Gebiet zu Armenien. Hier fand der erste Genozid des zwanzigsten Jahrhunderts statt. Fast unbemerkt von der restlichen Welt. Doch das wissen noch nicht einmal die meisten Türken. Ein Besuch im Hamam, im Basar. Wir probierten von dem übersüßen Gebäck, kauften in den Bäckereien heiße Fladenbrote, rissen sie auf und bestrichen sie mit Rosenblätter-Marmelade. Die Rose schien die Basis von allem zu sein. Man fand sie in der Seife, im Tee, als Parfüm. Der LKW Verkehr war enorm. Ging hier doch die Transitstrecke nach


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