Jenseits der Todesschwelle. Hubertus Mynarek
Читать онлайн книгу.Die Sache lässt sich auch historisch und philosophisch belegen. Denn nur für den konventionellen, traditionalistischen Atheisten und seinen Gesinnungsbruder, den konventionellen und traditionalistischen Christen, sind Atheismus und Unsterblichkeit ein sich ausschließender, unüberbrückbarer Gegensatz, ein unauflösbarer Widerspruch. Wer Atheist ist, so die gängige, eben konventionelle Meinung, der kann ja an keine Unsterblichkeit der Seele, an kein Fortleben nach dem Tod glauben. Für den ist mit dem Tod alles aus. Und der konventionelle Christ ist überzeugt, dass es ohne Gott keine Unsterblichkeit geben kann, weil nur er ewiges Leben zu schenken vermag.
Die Religions- und Philosophiegeschichte allerdings belehrt uns eines Besseren und Richtigeren. Allerdings wissen nur wenige, dass der Glaube an die Unsterblichkeit der Seele gar keine christliche Errungenschaft ist, sondern aus der antiken „heidnischen“ Religiosität und Philosophie stammt. Und für die war der Monotheismus, der Glaube an einen einzigen, alles beherrschenden und bewirkenden Gott keineswegs selbstverständlich. Einige Strömungen z. B. der antiken griechischen Philosophie hielten von der Größe des Menschen so viel, dass sie ihm, seiner Vernunftseele, sogar Unsterblichkeit zutrauten, ohne dass ihm diese ein Gott schenken musste.
Die antike hebräische Religion – und aus der kam das Christentum, das ja zunächst eine jüdische Sekte war – kannte ursprünglich gar keine Unsterblichkeit der Seele. Zur Zeit Jesu glaubte ein Teil der Juden, auch Jesus selbst, an die Auferstehung der Leiber. Der Mensch, so dieser Glaube, stirbt ganz und gar und wird am Jüngsten Tag, am Tag des Weltgerichts, wieder auferweckt, sozusagen zu neuem Leben von Gott erschaffen. Eine Unsterblichkeit der Seele, die der Auferweckung durch Gott nicht bedürfe, lag diesem Glauben völlig fern.
Erst Humanismus und Renaissance und dann die aus ihnen erwachsende philosophische Aufklärung des 17. und 18. Jahrhunderts knüpften wieder an die „heidnisch“-antiken Überlegungen zur Unsterblichkeit der Seele an. Zwar hatten christliche Theologen des Mittelalters wie Thomas von Aquin, Bonaventura und viele andere ebenfalls die Unsterblichkeit der Seele zu beweisen versucht, aber auch sie standen dabei übermächtig unter dem Einfluss der antiken griechischen Philosophie, unterschieden sich jedoch von dieser dadurch, dass sie die Garantie für die Unsterblichkeit der menschlichen Seele durchweg von der Existenz Gottes abhängig machten.
Halten wir also fest: Die Unsterblichkeit der Seele ist eine Idee, die nicht aus dem Christentum oder anderen monotheistischen Religionen stammt. Sie ist wegen ihrer Attraktivität von diesen Religionen übernommen worden. Ursprünglich, da antikem, „heidnischem“ Geist entstammend, ist diese Idee nicht notwendig an die Existenz eines personalen Gottes gekoppelt gewesen. Somit kann einer Atheist sein und trotzdem die Idee der Unsterblichkeit der Seele vertreten, ohne dass man ihm deshalb den kleinsten Widerspruch in seinem Denken nachweisen könnte.
So stellt sich die Sache historisch und logisch dar. Faktisch aber ist es heute doch wohl so, dass die große Mehrheit der Atheisten an keine Unsterblichkeit der Seele, kein persönliches Fortleben nach dem Tode glaubt. Die herrschenden Großkirchen haben die dem Christentum zunächst fremde Idee der Unsterblichkeit der Seele so massiv usurpiert und in Beschlag genommen, dass viele Atheisten schon aus diesem Grunde mit dieser Idee nichts am Hut haben wollen. Sie fürchten, dass die Akzeptanz dieser Idee sie schon wieder zu halben Christen machen würde. Logisch notwendig aber ist diese Befürchtung nicht. Wer vielmehr sehr groß und sehr hoch von den Möglichkeiten des menschlichen Geistes denkt, der darf auch irgendeine Art des persönlichen Fortlebens über den Tod hinaus als möglich annehmen, ohne deshalb mit Gott und Christentum in Verbindung gebracht werden zu müssen.
Es gab ja auch prominente Atheisten, große Aufklärer innerhalb des sogenannten christlichen Abendlandes, die sehr entschieden, sehr logisch-rational das Dasein eines Gottes widerlegten, aber an eine Fortsetzung ihrer eigenen Existenz nach ihrem leiblichen Tod glaubten bzw. eine solche Existenz für möglich hielten. Meist gingen sie von dem Grundgedanken aus, dass all unsere Begabungen, Entwicklungs- und Entfaltungsmöglichkeiten, unsere schöpferischen Potenzen im Laufe eines menschlichen Einzellebens unmöglich verwirklicht oder gar voll ausgeschöpft werden können. Aus derartigen Erwägungen heraus haben so unterschiedliche Denker und Charaktere wie die großen Aufklärer Voltaire, Lessing und David Hume, aber auch Goethe, Kant und Schopenhauer ein Fortleben des menschlichen Geistes nach dem Tod als sinnvoll bezeichnet und gefordert (postuliert). Viele Denker, die an keinen persönlichen Gott glaubten, verknüpften ihre Überzeugung von einem Weiterleben mit dem Reinkarnationsgedanken, also der Lehre von der Wiederverkörperung bzw. Seelenwanderung, unter anderem Plato, Pythagoras, Seneca, Paracelsus, Giordano Bruno, Jakob Böhme, Lessing, Voltaire, Herder, Schelling, Hegel, Novalis, Schlegel, Jean Paul, Carus, Brentano, Gustav Theodor Fechner, Leibniz, Goethe, Schiller, Kant, Schopenhauer, Nietzsche, Rudolf Steiner, C. G. Jung. Auch große Schriftsteller des 19. und 20. Jahrhunderts wie Tolstoi, Victor Hugo, Ibsen, Strindberg, Balzac, Flaubert, Rabin Dranat Tagore, Peter Rosegger, Gottfried Keller, Rilke und viele andere bekannten sich zur Idee der Reinkarnation. Der entschiedene Anhänger der reinen Vernunft, der radikale Kritiker kirchlichen Dogmenglaubens, der Aufklärer Voltaire sieht in der Reinkarnation nichts Unvernünftiges, Widersinniges, Widersprüchliches: „Die Lehre von der Wiederverkörperung ist weder widersinnig noch nichtssagend … Zweimal geboren zu werden ist nicht wunderbarer als einmal.“1 Nach Schopenhauer ist die Idee der Wiederverkörperung, „der Mythos von der Seelenwanderung so sehr der gehaltreichste, bedeutendste, der philosophischen Wahrheit am nächsten stehende, dass ich ihn für das Non plus Ultra der mythischen Darstellung halte“2 (also für das, was in dieser Hinsicht nicht mehr überboten werden kann).
Drittes Kapitel
Unsterblichkeit und Atheismus
Einer der bedeutendsten Atheisten des 20. Jahrhunderts, der Neo-Marxist Ernst Bloch, sieht ebenfalls zwischen Atheismus und Unsterblichkeit keinen Widerspruch. Jedenfalls gehört seiner Überzeugung nach zu einem vollentfalteten, alle Perspektiven einbeziehenden Atheismus auch die Inanspruchnahme der Möglichkeit des Fortlebens über den irdischen Tod hinaus: „Es gibt ein Gefühl, das im Menschen lebt: ich kann nicht vergehen. Ich bin wie die Hand, die einen Handschuh regiert. So stecke ich in meinem Leib. Ich verliere einen Finger, ich verliere mein linkes Bein, mein rechtes Bein, und ich bin ungestört immer noch derselbe. Wieso soll ich nicht auch das noch überstehen, dass das Herz nicht mehr schlägt? Äußerlich bin ich dann eine Leiche. Ist aber das, was die stärksten Verletzungen meines Körpers, vielleicht sogar ohne irgendeinen psychischen Effekt, überwindet und die stärksten Schicksalsschläge überwindet, ist das nicht etwas so Starkes und Merkwürdiges und Transzendierendes – nicht Transzendenten, es überschreitet ja selbst Grenzen –, dass man sagen kann: dies Licht müsste zu brennen beginnen, dies Licht müsste angezündet werden, das unreflektiert in jedem Menschen oder doch in den allermeisten Menschen zu brennen bereit steht.“3
Es ist also hochinteressant und klingt zunächst auch paradox: Der Atheist und Materialist Bloch, der jeden Gott- und Geist-Überbau negiert, schließt die Möglichkeit des Fortlebens, der Unsterblichkeit des menschlichen Seelenkerns keineswegs aus, obwohl dies doch bisher praktisch alle Varianten des Atheismus und Materialismus seit der Antike durchgehend getan haben. Bloch will durchaus konsequenter Materialist sein, bekennt sich zur höchsten Entwicklungsstufe des Materialismus, dem dialektischen, obwohl er den Materiebegriff viel weiter fasst als alle orthodoxen Anhänger des »Dialektischen Materialismus« im Rahmen des Leninismus-Stalinismus und obwohl diesen sein Diktum, man könne beim Idealisten erfahren, was Materie ist, geradezu wie eine Blasphemie erscheinen muss.4
Es ist nach Bloch noch gar nicht heraus, was der Mensch eigentlich ist, sein soll, sein wird. Daher kann auch Unsterblichkeit sein Attribut sein oder werden.
„Wichtig, dass gar nicht gesagt werden kann, was der Mensch ist, weil er eben am stärksten drängend von allem, was es gibt, sich nicht hat, sondern wird … indem gerade sein Anfang noch nicht heraus ist, deshalb auch nicht dasjenige, worauf er zielt.“ Das in uns „Steckende keimt oder möchte keimen, wenn es könnte und die Umstände bereits danach wären … Hier also ist etwas derart unabgeschlossen, dass wir nicht einmal wissen, ob wir Menschen sind“, jedoch wissen können, dass das Humane einen „noch ungelungenen, unvereitelten