Bautz!. Widmar Puhl
Читать онлайн книгу.möglicherweise hämischen Behördenaugen zuvor die letzte Unterhose fallen lassen. Diese schlecht bezahlten Menschen zahlen stattdessen Steuern und finanzieren damit Sozialleistungen für andere. Kann man den Beziehern von Sozialleistungen wirklich nicht zumuten, was diesen Steuerzahlern zugemutet wird? Sollten Berufstätige nicht deutlich mehr in der Tasche haben als Sozialhilfeempfänger?
Vor allem bei Alleinerziehenden und Teilzeitbeschäftigten sind auskömmliche Nettolöhne eine Milchmädchenrechnung. Sie berücksichtigen einfach nicht, was das Leben kostet, ganz abgesehen von den happigen Abzügen auch schon bei kleinen Einkommen. Ein lediger Arbeitnehmer mit 1.774 € brutto im Monat hat es sehr schwer, seine Würde zu wahren, wenn er nicht mehr in der Tasche hat als ein Langzeitarbeitsloser mit einem Zwei-Euro-Job in Vollzeit. Die Abgabenlast für kleine und mittlere Einkommen ist unangemessen.
Das macht Wut und Verbitterung bei den Betroffenen verständlich. Wenn wir zu Hause über Armut und Würde reden, dann meistens über solche Fälle in Familie, Nachbarschaft, Freundes- und Bekanntenkreis. Über konkrete Nahaufnahmen regen sich die Menschen auf. Richtige Armut verletzt ihr Gefühl für Gerechtigkeit, auch wenn sie persönlich besser dran sind.
Oder wir reden über Armut, die weit weg ist: Auf unterschiedliche Weise blenden wir Armut aus. Betroffene verdrängen ihre Lage. Nichtbetroffene reden mitleidig über die Probleme der Dritten Welt, lassen sie aber nur selten an sich heran, zum Beispiel nach der Flutkatastrophe in Asien. Andere bedecken ihre soziale Scham mit irgendeinem Feigenblatt nach dem Motto: Die Welt ist in Ordnung, so lange nur in den eigenen vier Wänden, in der eigenen Familie, auf dem eigenen Konto alles stimmt. Schon der Liedermacher Franz Josef Degenhardt hatte für diese Menschen den Rat: „Spiel nicht mit den Schmuddelkindern, sing nicht ihre Lieder! Geh doch in die Oberstadt, mach´s wie Deine Brüder!“
Anscheinend haben ihn viele seiner Zuhörer nicht ironisch, sondern wörtlich und damit falsch verstanden. Denn: Wer es sich leisten kann, lässt seine Kinder behütet aufwachsen und beileibe nicht mit jedem spielen. Sie werden zur Schule und wieder nach Hause chauffiert, zum Sport, zur Nachhilfe und zum Musiklehrer. Da kommen sie nie mit den Schmuddelkindern zusammen, auch nicht im Bus.
Viele Eltern verhalten sich aus Sicherheitsgründen so. Damit geben sie zu, wie dramatisch groß und tief die Kluft inzwischen ist zwischen Oben und Unten. Ein neues Klassenbewusstsein herrscht. Man bleibt wieder gern unter sich und hält sich unkritisch an alte Weisheiten. Eine davon ist heute besonders bitter: „Wer Arbeit will, findet auch welche“. Ja, aber was für eine?
Wir müssen mehr über Armut und Würde reden. Über falsche und echte Armut, über Zumutungen. Über offizielle, um die sich der Staat kümmert, und verdeckte, nach der kein Hahn kräht. Wir müssen auch über die Frage sprechen, wie viel finanzieller Spielraum für wen „angemessen“ ist. Sind alle Bedürfnisse gleichberechtigt? – Wohl kaum. Nur ein Beispiel: Wohlhabende Omas, die ihre Enkel maßlos verwöhnen, fördern damit ein falsches Markenbedürfnis. Die Vorstellung, es gebe einen Anspruch auf Überfluss, ist unangemessen. Und dann gibt es tatsächlich Sozialrichter, die Pendlern sagen, sie könnten an den fälligen Inspektionen sparen. Sichere Autos, eine Haushaltshilfe für Behinderte oder eine menschenwürdige Pflege für Pflegefälle sind aber kein Überfluss. Dafür wäre finanzieller Spielraum angemessen – und nicht Zynismus.
Ängste
Wer verzichtet schon gerne auf das, was er hat? Eigentlich ist sich die Gesellschaft darin einig, dass Leben, Eigentum und Würde des Menschen unantastbar sind. So steht es auch in den Artikeln 1 und 14 des Grundgesetzes. Trotzdem sind in einer Diskussion über Armut und Würde nicht alle Ängste gleichwertig.
Es kann hier nicht um die Ängste von Millionären, Steuerhinterziehern und Schwarzarbeitern gehen. Nicht einmal nur um materielle Ängste, sondern vor allem um die Angst der Menschen vor Degradierung und um einen grassierenden Verlust an Würde und Respekt vor den Mitmenschen.
Was die Nation erregt, ist ja nicht so sehr, dass finanzielle Einschnitte notwendig sind, sondern wie sie gegenwärtig geplant und begründet – oder eben nicht begründet werden. Und dass es gleichzeitig immer noch möglich ist, dass Manager Zig-Tausende entlassen und doch exorbitante Gehälter oder Millionen-Abfindungen bekommen. Der Hinweis auf die Mündigkeit und Eigenverantwortung der Bürger wird zynisch, wenn er nur noch ein Gefühl der Ohnmacht hervorruft. Viele Menschen sind zum Beispiel vollkommen machtlos gegen regelmäßige, teils massive Preiserhöhungen bei Krankenversicherung, Medikamenten, Miete, Heizung, Strom, Telefon, Gebühren oder Fahrkarten für den Nahverkehr.
Wer gut verdient, kann 300 oder 400 € weniger im Monat verschmerzen. Aber für Millionen bedeutet dieser Unterschied den Absturz. Sie können nicht mehr ruhig schlafen, müssen täglich ums Allernötigste kämpfen und sehen kaum noch ein Entkommen aus einem ewigen Kreislauf von Verzicht und Demütigungen. Plötzlich gelten sie etwa bei Banken als unsichere Kantonisten, im besten Fall als geizig und als schlechte Kunden. Sehr schnell nennt man sie dann Spielverderber oder Versager, im schlimmsten Fall unzuverlässige Mieter und Ratenzahler. Diese Demütigungen sind besonders schmerzhaft. Und sie treffen Menschen, die schon viel geleistet haben und vielleicht immer noch leisten, besonders hart.
Wie die Dinge stehen, ist die Angst vieler Menschen berechtigt, dass mit ihnen rücksichtslos und würdelos verfahren wird, weil sie zu einer Risikogruppe gehören – was immer das heißen mag: Arbeitslose, ältere Menschen, Alleinerziehende, Teilzeitbeschäftigte. Sie stehen unter einem ebenso pauschalen wie perfiden Verdacht, sie seien an ihrer Lage selbst schuld. So werden Millionen ausgegrenzt.
Besonders betroffen von Armut und einem drohenden Verlust ihrer Würde sind Arbeitslose über 40 ohne nennenswertes Vermögen. Was steckt dahinter? Die falsche Vermutung, sie hätten sich längst absichern müssen? Kann man sich überhaupt privat absichern gegen ein Risiko, das selbst Versicherungen zu groß wird? Ich kenne einen ehemaligen Unternehmer, der mit Ende 40 einen schweren Schlaganfall hatte und mit bleibenden geistigen und körperlichen Behinderungen leben muss. Er bekommt 280 EURO für seine Pflegestufe 1, 650 EURO Rente wegen Erwerbsunfähigkeit und noch einmal 750 EURO aus einer privaten Berufsunfähigkeitsversicherung – aber nur bis zum Erreichen der Altersgrenze. Dann werden ihm 750 EURO fehlen und er steckt in der Armutsfalle.
Auch Senioren in Pflegeheimen werden immer häufiger behandelt, als wären sie unmündig. Bekommen sie davon nichts mehr mit? Und darf das überhaupt eine Rolle spielen?
Von den so genannten Hartz-IV-Reformen sind 6,3 Millionen Menschen betroffen, 3,5 Millionen Langzeitarbeitslose und 2,8 Millionen Sozialhilfeempfänger. Natürlich haben sie alle Angst, nie wieder eine echte Chance zu bekommen. Doch es gibt auch hoffnungsvolle Modelle und Zeichen dafür, dass sich etwas bewegt. Öffentliche Demonstrationen gegen soziale Missstände wurden zwar schon politisch missbraucht, sind aber aus berechtigten Ängsten entstanden und haben die Aufmerksamkeit auf eben diese Ängste gelenkt. Von Arbeitgeberseite missbraucht wurden die Ängste der Mitarbeiter bei den Sanierungsplänen für Karstadt-Quelle, Opel und Schlecker. Doch die Einsicht wächst, dass Massenentlassungen keine Fehlentwicklungen korrigieren. Sie sind in aller Regel psychologisch verheerend und verantwortungslos.
Jeder siebte der acht Millionen Teilzeitbeschäftigten hätte gern eine volle Stelle. Das sagt eine Studie des Deutschen Gewerkschaftsbundes von 2000. Inzwischen dürften die Zahlen sich eher verschlechtert als verbessert haben. Auch dadurch wächst das Bewusstsein für verdeckte Armut; je schlimmer die Verhältnisse auch zahlenmäßig werden, desto weniger lassen sie sich noch verstecken und wegdiskutieren.
Langsam produzieren zudem wieder mehr Firmen in Deutschland, um Arbeitsplätze zu sichern. Sie stellen gezielt Mitarbeiter über 50 ein, weil sie deren Erfahrung brauchen. Andere kehren zurück, weil in China eben nicht nach deutschen Wertmaßstäben gearbeitet wird. Selbst Konzerne merken manchmal schon, dass es nicht gut ist, wenn zu wenige Menschen gut verdienen, denn dann fehlen irgendwann die Kunden für die eigenen Produkte.
Die Hoffnung stirbt zuletzt. Sie ist wichtig für die Würde der Menschen. Aber man kann sie nicht einfach herbeireden, man muss sie herbei-arbeiten.