Die Philosophie des Denkens. Johannes Schell

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Die Philosophie des Denkens - Johannes Schell


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letzten Grunde das ganze geistige Streben der Menschheit“... Erst „wenn wir den Weltinhalt zu unserem Gedankeninhalt gemacht haben, erst dann finden wir den Zusammenhang wieder, aus dem wir uns selbst gelöst haben.“ (Rudolf Steiner: Philosophie der Freiheit. 15. Auflage Dornach 1987, S. 28)

      Ich zitiere jetzt schon diese etwas weiterführende Stelle, um die Bedeutung unserer Beobachtung abzuschließen. Bringen wir die beiden genannten Pole ins Spiel miteinander, dann entsteht der von Rudolf Steiner angegebene Zusammenhang unmittelbar aus der Sache selbst, wenn man das menschliche Erkenntnisbedürfnis als beobachtbaren Tatbestand miteinbaut. Wenn wir den Begriffspol weiter im Auge behalten, stoßen wir auf ein viertes Phänomen, das uns deutlich gegenübertritt, ohne dass wir jetzt schon in der Lage wären, Genaueres darüber zu sagen. Mit der Herstellung begrifflicher Relationen tauchen wir in ein Element ein, in dem wir uns gleichsam zu Hause fühlen: es erzeugt tiefe, gemeinhin unreflektierte Befriedigung, die ihre Wurzeln in einem „Evidenzerlebnis“ hat, das außer einem Philosophen niemand bezweifeln kann, mit anderen Worten: wir beruhigen uns im Element der Wahrheit, wenn wir das Glück haben, dass sie plötzlich erscheint, selbst dann, wenn wir irren, ohne es zu wissen. Nur hier erfahren wir mit absoluter Unmittelbarkeit, was im genauen Sinne des Wortes die so oft berufene „Selbstverständlichkeit“ überhaupt ist. Wir erleben sie logisch und psychisch, als Klarheit und Sicherheit, als existentielle Heimat, mit der wir uns verwachsen fühlen. Und wer den Wahrheitsbegriff als eine chimärische Täuschung ablehnt, gibt sich alle Mühe, ihn mit Hilfe logischer Argumentationen als persönliche Überzeugung wieder in sein Bewusstsein hereinzuholen und die gewollte innere „Befriedigung“ wiederherzustellen. Und wer sogar die gewöhnliche Logik noch als Subjektivum denunziert, tut das Gleiche auf eine etwas kompliziertere Weise, falls er seine Sicherheit behalten will. Sie werden gemerkt haben, dass wir hier bereits auf das früher so genannte „Junktim“ stoßen, und zwar ganz empirisch, aber ohne die Absicht, es jetzt schon untersuchen zu wollen. In unserer vierten Beobachtung begegnen wir einem Fixpunkt des Denkens, der durch keine geistige Operation zu beseitigen ist.

      All das besagt natürlich nicht, dass wir irgend etwas darüber ausmachen könnten, was „Wahrheit“ ist. Die berühmte Pilatusfrage bleibt unbeantwortet, und Sie dürfen sich keine Hoffnung machen, dass ich in der Lage wäre, eine Antwort zu geben, wie sie gewöhnlich gewünscht wird. Aber wir werden über die „Wahrheit“ einiges zu sagen haben, das über den Zweifel ein wenig hinausführt und das Vertrauen in das Denken wieder herstellen dürfte.

      Zur Verdeutlichung dieses Problems wollen wir den bekannten Gegenpol zur Wahrheit noch einmal abtasten: ich meine unsere Erfahrungen mit den „Dingen“ der Innen- und Außenwelt des Menschen, die in völlig rätselhafter Gestalt an uns herantreten und so gar nichts Evidentielles an sich haben, wenn wir keine Begriffe produzieren, um sie, wie man sagt, zu begreifen. Es spielt dabei keine Rolle, ob es sich dabei um seelische Vorgänge oder „bewusstseinstranszendente“ Phänomene der Außenwelt handelt. Wir können jetzt schon sagen, dass Brentano im Irrtum war, wenn er glaubte, dass Innenwahrnehmungen evident seien. Sie sind nicht einmal unmittelbar, sondern mit Begriffen durchsetzt, wenn sie uns überhaupt ins Bewusstsein treten sollen.

      Demselben Fehler ist Schopenhauer erlegen, wenn er den „Willen“ als essentiellen Weltgrund hypostasiert, ohne die konstituierende Aufgabe der Begriffe zu berücksichtigen. Ich wiederhole noch einmal die beiden Elemente, die sich zunächst anbieten, wenn wir die ersten Beobachtungen machen: wir nehmen zwei voneinander unterscheidbare Sphären wahr: (1) das Reich der Begriffe, das dann, aber auch nur dann vorhanden ist, wenn wir es selbsttätig hervorbringen, und (2) die immer vorgegebenen „Dinge“ der Innen- und Außenwelt, an deren Zustandekommen wir nicht den geringsten Anteil haben. Und wir stellen fest, dass beide Sphären in dauernder Wechselwirkung stehen. In der ersten Wahrnehmungsweise vermittelt das eigene Tun das schon erwähnte Gefühl der geistigen „Befriedigung“, ein sog. „Wahrheitserlebnis“, dem wir unsere Sicherheit verdanken, in der zweiten Wahrnehmungsweise entsteht das Erlebnis eines absolut Anderen und damit die Rätselhaftigkeit des vorgegebenen Weltinhalts, das platonische „Staunen“, das erst in begrifflichen Relationen seine Aufhebung findet. Mehr lässt sich hier noch nicht sagen, oder man bemüht wieder die Relikte der überholten „Bewusstseinsphilosophie“, die mit voreilig produzierten Begriffen wie „Vorstellung“, „Evidenz“, „Bewusstsein überhaupt“ u.a. gearbeitet hatte. Wir stehen - und mehr gibt unsere Beobachtung noch nicht her - zwei Phänomenen gegenüber, die wir der Genauigkeit halber so bezeichnen wollen: Befriedigendes Selbstgetanes und Unbefriedigendes Nichtselbstgetanes. Erlauben Sie mir eine solche unschöne Formulierung. Sie hat die Aufgabe, einen Zusammenhang zu fixieren, der den Charakter einer notwendigen Korrelation haben könnte, die auf einen gemeinsamen Hintergrund hinweist. Rudolf Steiner hat zum ersten Mal in diese Richtung gedacht. Unser Problem ist nicht leicht zu erfassen. Es sei nur noch vermerkt, dass es völlig verfehlt wäre, bereits Begriffe wie „Subjekt“ oder „Objekt“ hier anwenden zu wollen.

       7. Der Inhalt unseres Bewusstseins

      Mit den genannten vier Beobachtungen, die jeder macht, der behutsam vorgeht, haben wir Fixpunkte entdeckt, die sich wie Inseln inmitten eines Meeres ausnehmen, die ein Seefahrer mehr oder minder zufällig findet und die er vorsichtig und versuchsweise anlaufen möchte. Doch dieser Vergleich bedarf der Erweiterung. Wir müssen voraussetzen, dass dieser Seefahrer seine Entdeckungsreise mit überlieferten kartographischen Skizzen begonnen hatte, d.h. so etwas wie eine „Vorinterpretation“ seiner Wege in Händen hielt, aber mit dem Gefühl des Misstrauens und mit der bewussten Absicht, eine gründliche Überprüfung vorzunehmen. Er benützt also nicht die Daten der Karte als absoluten Wegweiser, sondern nur als problematische Anhaltspunkte, d.h. er bedient sich einer im Laufe des Lebens erworbenen Fähigkeit, die es ihm erlaubt, mit seinem Kartenmaterial umzugehen, wie er es für angemessen hält - oder in philosophischer Sprache: er setzt nicht fertige Begriffe voraus, und seien sie noch so geheiligt, er wendet sich an die Quelle aller Begriffe, nämlich an die Denktätigkeit selbst, um notfalls Korrekturen vorzunehmen oder neue Begriffe zu bilden, wenn es die Sache verlangt. Dabei kann es ihm passieren, dass er mehrfach von vorne anfangen muss, ohne einen anderen Rückhalt als eben diese Fähigkeit selbst. Dieser Vorgang rückt das Denken in ein anderes Licht als bisher. Was nur psychologisch von Bedeutung schien, erlangt eine epistemologische Qualität, die uns noch zu schaffen machen wird. Wir müssen uns von dem ererbten Trauma lösen, dass unser Denken nur aus Begriffen besteht, die man lediglich zu analysieren braucht, um eine Philosophie zu begründen. Aber Begriffskritik und -analyse reichen nicht aus. Was wir untersuchen müssen, ist das Denken als begriffsproduzierende Tätigkeit, die immer dem einzelnen Begriff vorausgeht. Vielleicht gelingt es uns dann, auch das schwer lösbare Problem der sog. „Vorinterpretation“ besser in den Griff zu bekommen, als das unter den konventionellen Auspizien der Hegelschen Begriffsdialektik, der Sprachanalyse und der Erkenntnislogik bisher möglich gewesen ist. Das Denken ist nun einmal ebensowenig die Summe seiner Begriffe, wie eine Mutter die Summe ihrer Kinder. Und der zweite Fehler wäre (ich wiederhole es), wenn man das Denken als Tätigkeit kurzerhand in die „empirische Psychologie“ abschieben würde, also in jenen Bereich, den man erkenntnistheoretisch für irrelevant hält. Ich glaube, das Gegenteil dartun zu können.

      Mit den Phänomenen, die wir bisher beobachtet haben, mit diesen „Inseln“ des Bewusstseins, die wir auch Kristallisationspunkte nennen können, sind wir auf so etwas wie festes Land gestoßen, allerdings ohne zu wissen, was uns im einzelnen erwartet. Wir besitzen einen Anfang, der wenig Anfängliches enthält. Es ist bloß eine Situation, in der wir uns befinden, die sicher vieles vorweist, aber gewiss kein Absolutum, kein kategoriales Urgestein, auf dem wir eine dauerhafte Bleibe errichten könnten. Situationen sind erfahrungsgemäß in ständigem Wandel begriffen. Uns bleibt also vorläufig die einzige Möglichkeit, im Sinne Rudolf Steiners: die „gegenwärtige“ geologische Schicht, auf der wir gerade stehen, als Ausgangsbasis zu betrachten und zu erforschen, in welchem Zusammenhang sie steht, stand und stehen wird.

      Langsam wird es nun Zeit, das „naive“ Bewusstsein aufzugeben und uns an das „philosophische“ Denken heranzutasten. Obwohl die Grenzen hier fließend sind, nähern wir uns behutsam dem Extremfall des „Denkens über das Denken“, den wir dadurch vorbereiten, dass wir die Rückwendung auf unsere eigene Verfahrensweise immer gründlicher vorzunehmen gezwungen sind. Was ist nun der „Inhalt“


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