Mein Weg aus der Ausweglosigkeit. Anton Weiß
Читать онлайн книгу.ihr Getriebe ängstigen ihn und bleiben ihm fremd. Genau das sind wichtige Kennzeichen in der Schizophrenie: Es sind in der Regel Menschen, die Probleme in der Sozialisation haben, die als Kind lieber allein spielen, sich zurückziehen und Einzelgänger sind. Sie fühlen sich fremd in dieser Welt.
Als Introvertierter läuft man Gefahr, von der eigenen Tiefe verschlungen zu werden. Seine Aufgabe ist es, in die Welt hinauszutreten, und das erfordert ein ungeheures Kämpfen.
Als ich mit 40 Jahren eine Depression hatte, wo ich noch überhaupt nichts begriff und mir auch vom Hausarzt Psychopharmaka verschreiben ließ, nahm mich bei der ersten Attacke meine Frau mit auf den Balkon – es war Nacht – und sagte zu mir: „Schau den Sternenhimmel an.“ Intuitiv hat sie genau das Richtige gewusst: Der Introvertierte muss sich hinausbegeben in die Welt, muss offen sein für den anderen Menschen. Es muss die Einheit zwischen Innen und Außen hergestellt werden, nur dann ist der Mensch ganz.
Beim Extravertierten ist genau der umgekehrte Weg richtig. Der Extravertierte lebt in der Welt und fühlt sich in ihr heimisch, aber ihm fehlt die Tiefe, das Leben bleibt oberflächlich. Er muss die Tiefe, das Innen hinzugewinnen.
Dass aus der Introversion Schizophrenie entsteht, scheint mir fast unausweichlich, da mit ihr eine starke Selbstbespiegelung Hand in Hand geht, eine nahezu ausschließliche Beschäftigung mit sich selbst. Ob auch der Extravertierte davon betroffen wird, würde mich interessieren.
Zunehmend merkte ich, wie sehr ich in allem um mich selbst kreiste und mir war von der Religion her klar, dass es genau darum ging, dieses Um-sich-selbst-Kreisen, diese Egozentriertheit, zu überwinden. Es dauerte lange, bis ich mir eingestand, dass ich in meinem Bemühen, den religiösen Weg zur Ichlosigkeit zu gehen und zu lehren, sehr ichhaft war, dass dies meine Weise war, das Ich zu leben und ins Spiel zu bringen. Ich wollte andere bekehren, war überzeugt davon, dass nur religiöses Leben richtiges Leben ist, und entdeckte, dass genau dies die Weise war, in der mein Ich zur Geltung kam. Ich wirkte auf andere missionarisch, beinahe fanatisch. Ich habe es der Liebe zu meiner Frau zu verdanken, dass ich von dieser dem Fanatismus nahen Einstellung befreit wurde, was nur dadurch gelang, dass ich sie in ihrem ganz andersartigen Denken ernst nahm und dadurch gezwungen war, meine starre, fanatische Haltung zu hinterfragen. Ich halte es für äußerst schwierig, einen fanatischen Menschen aus seinem Fanatismus zu befreien. Er ist dermaßen eingeengt in seiner Sicht der Dinge und von deren Richtigkeit so sehr überzeugt, dass wohl nur eine außerordentliche innere oder äußere Erschütterung ihn davon befreien kann.
Ich fühlte mich eigentlich nie wohl in dieser Welt. Wenn ich für mich allein in meinem Zimmer saß und mir über Gott und die Welt und die Menschen und über mich selbst Gedanken machte, war meine Welt in Ordnung, sobald ich aber sozusagen hinaus in die Welt, unter Menschen ging, merkte ich meine Unfähigkeit, mit anderen zu plaudern. Ich konnte tiefsinnige Gespräche führen, wenn sich die Gelegenheit bot, aber wo Menschen locker plauderten und lachten, fühlte ich mich fehl am Platz. Ich beneidete die, die so leichtfüßig durchs Leben gingen, für mich war immer alles ernst und tiefsinnig. Vielleicht lag es daran, dass ich mit 10 Jahren eine Augenkrankheit hatte, die mich vier Monate im Krankenhaus festhielt und durch die ich damit rechnen musste, blind zu werden. Damit musste ich mich auseinandersetzen. Ich glaube aber eher, dass es mein introvertiertes Naturell ist, das es mir so schwer macht, Kontakt zum Außen aufzunehmen. Durch ein Kaufhaus zu gehen war mir lange Zeit eine Qual. Durch die Vielzahl der Eindrücke verlor ich mich selbst, ich wurde richtig aus mir herausgezogen, ich erlebte eine regelrechte psychische Desorientiertheit.
Ich hatte auch immer das Gefühl, dass ich keinen unmittelbaren Kontakt zu den Menschen und Dingen hatte. Früh erlebte ich, dass mir alles durchs Denken vermittelt ist. Ich sah nicht einen Ball, sondern ich dachte, dass ich einen Ball sehe. Mir wurde früh klar, dass ich dadurch auch nicht erlebte. Ich war in meinem Denken eingeschlossen.
Das ist jetzt keine nachträgliche Interpretation aus der Rückschau auf meine Jugendzeit und meinem jetzigen Wissen, sondern ich habe das damals so empfunden und auch geäußert, wobei ich merkte, dass ich eigentlich kaum verstanden wurde.
Ich fühlte mich abgeschnitten vom konkreten Leben, mir fehlte die Unmittelbarkeit zu Mensch und Welt. Wenn eine Schizophrene über ihr Leben berichtet und ihr Buch „Die Glasglocke“ betitelt, dann gibt das treffend meinen früheren Zustand wieder.
Ich kam mir unter den Menschen immer als Fremder vor und fragte mich, ob es den anderen auch so ginge und sie es sich nur nicht anmerken ließen.
Ich studierte Theologie und wurde Lehrer für Religion und Deutsch am Gymnasium. Im Außen verlief mein Leben sehr geordnet, die Unordnung im Inneren war umso größer.
Da war die Sache mit der Musik in meinem Inneren. Ich weiß nicht, wie viele Jahre es schon ging, als mir meine „Krankheit“ so richtig zu Bewusstsein kam. Ich bezeichnete es als Krankheit, auch wenn ich damit nicht zum Arzt gehen musste. Aber ich ging zu meinem Religionslehrer. Einmal, als er Pausenaufsicht hatte, sprach ich ihn darauf hin an. Er war der einzige, von dem ich dachte, dass ich mich ihm anvertrauen könnte. Ich hielt ja immer schon große Stücke auf ihn und glaubte, dass, wenn irgendwer, er es sei, der mir helfen könnte. So versuchte ich ihm zu schildern, was mich plagte. Es war die Musik in meinem Kopf. Völlig gleich, ob es Lieder waren, die ich gehört hatte oder klassische Musik, Opernmelodien oder Schlager, immer wieder drängten sich Musik oder Gesang in mein Gehirn, und zwar gegen jeden Willen und jede Absicht. Es konnten die blödesten Lieder sein wie „Marie, do liegt a toter Fisch im Wasser, den mach ma hi“ oder das „Halleluja“ aus dem Messias, Beethovens 5. Symphonie oder ein Schlager, der gerade im Radio gespielt wurde. Ob ich für die Schule arbeitete oder spazieren ging, immer wieder drängten sich Lieder auf und ich fand kein Mittel, sie loszuwerden.
Auf seine Antwort war ich sehr gespannt: Würde er mir helfen können, kannte er so etwas und fand dafür eine Erklärung und einen Hinweis, wie ich damit umgehen könnte?
„Wenn es religiöse Lieder sind, dann ist es gut, und wenn es dumme Schlager sind, dann ist es schlecht“, war seine lapidare Antwort. Da stand ich nun, und über eines war ich mir sicher: Er hatte keine Ahnung! Ich stand da mit der betrüblichen Erkenntnis: Meine Probleme muss ich selber lösen. Diese Erkenntnis war es vielleicht auch, die mich später, als es mir so schlecht ging, dazu bewog, weder einen Psychotherapeuten noch einen Psychiater ins Vertrauen zu ziehen.
Auch meine Unfähigkeit, mich zu konzentrieren, einfach längere Zeit, d. h. lediglich eine Minute lang nur eine einzige Sache im Bewusstsein zu haben, auf die ich mich konzentrieren wollte, z. B. mein Meditationsbild, eine Fensterrosette von Chartre, belastete mich sehr. Es zeigte mir, dass in meiner Tiefe eine große Unruhe war, ohne dass ich wusste, wie ich dagegen ankämpfen könnte. Es gelang mir nicht, mich auch nur eine einzige Minute auf eine Sache zu konzentrieren, ohne dass unentwegt störende Gedanken in mich eindrangen. Das merkte ich auch beim Zuhören: Ich merkte, dass ich unfähig war, einem anderen ganz einfach zuzuhören, ohne dass ständig störende Gedanken sich einmengten.
Ich sah es auch bei anderen, dass sie nicht gut zuhören konnten, dass sie immer wieder von eigenen Gedanken oder äußeren Ereignissen vom Zuhören abgelenkt wurden.
Ich musste den Menschen auf den Mund schauen, dann konnte ich mich einigermaßen konzentrieren, schaute ich ihnen in die Augen, dann war ich so abgelenkt, dass ich den Sinn des Gesagten kaum erfassen konnte.
Mir wurde dadurch klar, dass ständig im Hintergrund Bewegung war. Wenn ich heute bei C. G. Jung lese, dass er es für möglich hält, dass Träumen nicht nur eine Sache ist, die sich in der Nacht abspielt, sondern dass möglicherweise auch tagsüber ständig im Hintergrund Traumgeschehen abläuft, nur dass das hintergründige Geschehen vom Tagesbewusstsein überstrahlt wird, glaube ich das sofort. Ich glaube auch, dass das Bedürfnis vieler Menschen, sich ständig von Musik berieseln zu lassen, Ausdruck dieses ständigen Hintergrundrauschens ist, das durch Musikhören gebunden wird. Ich hatte meine Musik in mir, ich brauchte keine von außen! Ich litt sehr darunter. Aus heutiger Sicht begreife ich es als unentwegte Tätigkeit des Unbewussten, das ständig aktiv ist und das Leben vorantreibt, im Guten wie im Bösen.
Ich erlebte eine