Eine Studentin. Peter Schmidt
Читать онлайн книгу.Kattunrock bewegte sich ein paar Zentimeter in Richtung Oberschenkel – und dabei bemerkte sie, dass sein Blick ihrer Bewegung folgte und kurz auf ihren Beinen ruhte.
Also schwul ist er schon mal nicht, dachte sie. Alles halb so schlimm …
„Wenn Sie jemand fragte, welche generelle Intention wir Menschen im Leben haben, Carolin, was würden Sie darauf antworten? Gleichgültig, ob wir uns dessen immer bewusst sind oder nicht. Ungewöhnliche Frage, zugegeben. Aber versuchen Sie Ihre Antwort möglichst auf den Punkt zu bringen.“
„Sie meinen einen generellen Nenner? Etwas, dass auf alle Aktivitäten im Leben zutrifft? Nur einen Nenner oder mehrere?“
„Was auch immer Sie als Antwort für richtig halten …“
„Dann würde ich mich für das Positiv- und Negativsein des Lebens entscheiden, im weitesten Sinne. Auch wenn es ziemlich philosophisch klingt und als Definition noch etwas vage wirkt. Man müsste genauer erläutern, worum es sich dabei handelt.“
Hollando lehnte sich zurück – und nickte.
„Ausgezeichnet, Ihre Antwort überrascht mich …“
„Was nicht weiter schwierig war, weil ich weiß, dass Sie als Vorsitzender die Ethikkommission leiten. Da es mich interessiert, habe ich Ihre Publikationen zum Thema studiert.“
„Inzwischen hat jemand anders den Vorsitz. Hab’s aufgegeben, weil es zu viel Zeit kostet. Und Positiv- und Negativsein haben auch mit Moral zu tun?“
„Als Gut und Böse, laut Ihrer Definition. Aber Positiv- und Negativsein im Leben sind natürlich viel mehr, als solche abstrakten Begriffe ausdrücken können – eben auch Glück, Lust, Spaß und Freude, Lebensqualität, Leiden, Schmerz, Trauer und Depression.“
„Und das lernt man an unserer Universität in den Neurowissenschaften?“, fragte er.
„Nein, nur wenn man umfassend informiert sein will.“
„Seltsam vielseitige Neugier bei einer jungen Frau wie Ihnen, oder?“
„Finden Sie? Nicht jedem Gesicht sieht man sofort an, ob es ein Dummerchen ist.“
Hollando wiegte nachdenklich den Kopf. Es sah aus, als versuche er ein Grinsen zu unterdrücken.
„Ich beginne zu verstehen, was Sie damit meinten, Sie seien besser als alle anderen Kandidaten …“
„Für einen Dominikanermönch ist die kritische Analyse unserer gesellschaftlichen Probleme sicher eines der wichtigsten Anliegen überhaupt. Es war also nicht allzu schwierig, mich darauf vorzubereiten.“
Hollando lehnte sich mit verschränkten Armen im Drehstuhl zurück – anscheinend besaß das Ding einen Wippmechanismus – und beugte sich gleich darauf unerwartet nach vorn, die rechte Hand über den Schreibtisch ausgestreckt …
„Nennen Sie mich ab jetzt doch einfach Cesare, Carolin! Auf gute Zusammenarbeit in meiner Arbeitsgruppe …“
Sie verspürte ein leichtes Zittern im rechten Arm, als sie kurz mit den Fingerspitzen seine Handfläche berührte.
„Übrigens liegen Sie ganz richtig und ich bin weiterhin Dominikanermönch und keineswegs abtrünnig geworden“, sagte er. „Auch wenn die Zisterzienser mich freundlich aufgenommen haben, weil ihr Kloster so nahe bei der Universität liegt.“
Ja, ich weiß, dachte sie. Aber nett von dir, das noch mal zu erwähnen. Ganz so, als wären wir bald beste Freunde …
Carolin fand es faszinierend, wie ihr Bruder an seinen Job heranging. Er schien ein wirklich begabter Ermittler zu sein. Falls man es nicht als zwanghafte Detail- und Spurenverliebtheit bezeichnen wollte. Von seinem Hang, alle nur denkbaren Theorien über einen Tathergang zu entwickeln, ganz abgesehen. Er nannte es Möglichkeitenanalyse, ein Begriff, den er in der Wissenschaftstheorie aufgeschnappt hatte. Und der erfolgreichste Ermittler war immer jener, der frühzeitig alle möglichen Abläufe und Motivationen erwog.
Wenn sie beim Frühstück waren, berichtete er ihr manchmal über den letzten Stand seiner Ermittlungen. Er saß nicht etwa in seiner eigenen Wohnung eine Etage tiefer, sondern lieber bei ihr im Halbdunkel unter der Dachschräge.
Seine Hände umklammerten eine Kaffeetasse und von seinem Platz aus, einem Tisch aus der Zeit Martin Luthers, konnte man unten das Seeufer mit der Staumauer und Al's Dorado See-Kiosk sehen. Die Sonne schob sich gemächlich über den Hügel, als arbeite sie alle Parzellen aus Wiesen und Laubwald nach einem festlegten Plan ab.
Eine der vier Frauen ohne Gedächtnis war inzwischen verstorben. Man hatte ihr Auge genetisch abgeglichen. Der Gerichtsmediziner vermutete eine Infektion, die von der Augenhöhle ins Gehirn gelangt war. Die Art, wie das Auge entfernt worden war, deutete dagegen eher auf Gewalteinwirkung hin.
Allerdings schien Roberts Vorgehen gar nicht erlaubt zu sein. Er lud die überlebenden Frauen ohne Gedächtnis der Reihe nach in den Verhörraum – und jagte den Rest des Kommissariats in die Mittagspause, damit es keine Zeugen für seine Verhöre gab.
„Gönnt euch mal ein gutes Essen auf meine Kosten. Wir haben in den letzten Tagen vergeblich Daten gesammelt wie Köter, die an jedem Laternenpfahl schnüffeln. Und was ist dabei herausgekommen?“
Es gab zwar Videoaufnahmen von den Verhören der Frauen. Doch die Filme wurden unter Verschluss gehalten und Robert behielt seine Geheimnisse für sich, falls es welche gab. Nur bei ihr wollte er eine Ausnahme machen.
„Aber du sagst niemandem etwas davon, Carolin?“
„Und warum erzählst du es ausgerechnet mir?“
„Weil ich mit jemandem darüber reden muss.“
„Was passiert denn, wenn man von deinen – na ja, Verhörmethoden erfährt?“
„Es könnte mich in Schwierigkeiten bringen.“
Robert zündete sich eine Zigarette an. Er inhalierte tief den Rauch und blies ihn gedankenverloren zur Decke.
„Großer Gott …“
„Sag nicht dauernd ‚großer Gott’, Carolin. Sag zwischendurch einfach mal ‚lieber Himmel’ …“
„Hast du nicht kürzlich mit dem Rauchen aufgehört?“
„Diese Frauen reden nur, wenn man sie unter Druck setzt. Es ist, als seien sie blockiert – irgendwie umprogrammiert.“
Robert schob seine Kaffeetasse beiseite und ging hinüber zum Schrank.
Das untere Fach war abgeschlossen und er zog einen Schlüsselbund aus der Hosentasche. Hinter der Schranktür befand sich – wie Carolin jetzt erst entdeckte – ein Schließfach.