Eine Studentin. Peter Schmidt
Читать онлайн книгу.fragte Hollando. „Haben Sie darauf angesichts Ihres ja nimmermüden Wissensvorsprungs womöglich eine plausible Antwort?“
Carolin zuckte die Achseln und starrte Anna Schwartz herausfordern an.
„Ich glaube, Kommilitonin Schwartz hat sich gemeldet und möchte etwas dazu sagen …“
„Anna?“, fragte Professor Hollando.
„Oh, ich … nein …“, stammelte Anna errötend.
„In dem Fall – wenn es keine weiteren Wortmeldungen gibt – würde ich hier wieder unseren großen deutschen Philosophen Immanuel Kant bemühen wollen“, sagte Carolin.
Hollando nickte ihr aufmunternd zu.
„Wir wissen nicht, wie die Welt an und für sich beschaffen ist – das sogenannte ‚Ding an sich’“, fuhr sie fort. „Wir befinden uns laut Karl Jaspers – dem berühmten Existenzphilosophen und Psychiater –, sogar in einer unaufhebbaren Subjekt-Objekt-Spaltung.“
„Das ist ein Fachterminus des Philosophen, oder?“
„Damit ist gemeint, Gegenstand und Beobachtung können hinsichtlich ihrer tatsächlichen Übereinstimmung niemals wirklich verifiziert werden. Es ist prinzipiell unmöglich, aus der Beobachterposition herauszutreten und hinter den Vorhang zu schauen, denn wahrnehmen können immer nur Beobachter.“
„Ausgezeichnet, Carolin. Und weiter?“
„So bleibt nur noch die Möglichkeit, dass wir uns aus praktischen Gründen so verhalten, als besäßen wir Willensfreiheit.
Die Idee der Freiheit, die in Kants Hauptwerk Kritik der reinen Vernunft für die theoretische Vernunft nicht beweisbar war, wird nun als fundamentales und notwendiges Postulat der praktischen Vernunft angesehen.
Kant drückt das in seiner Kritik der praktischen Vernunft so aus: Der Wille ist ein Vermögen, nur dasjenige zu wählen, was die Vernunft unabhängig von der Neigung als praktisch notwendig, das heißt, als gut, erkennt.“
„Oder etwas einfacher ausgedrückt? Für den Alltagsverstand?“, fragte Hollando.
„Wir tun gut daran, im wohlverstandenen Eigeninteresse alle Vorbehalte der neueren Hirnforschung gegen menschliche Willensfreiheit aus praktischen Gründen ad acta zu legen“, sagte Carolin. „Weil sonst unser ganzes gegenwärtiges Rechtssystem zusammenbricht.
Dem Mörder kann man dann nicht mehr vorwerfen, er sei verantwortlich für seine Tat. Er ist lediglich ein Opfer der Umstände, die er nicht selbst zu verantworten hat.“
„Inwiefern, Carolin?“
„Wegen unbekannter neuronaler Prozesse. Es scheint ihm nur so, als habe er Wahlfreiheit, weil er ja beide Möglichkeiten sieht – zu morden oder nicht zu morden. Der Ursprung der Motivation, die jeweilige Neigung, bleibt immer in gewissem Sinne mysteriös und lässt sich nicht weiter hinterfragen.“
„Ich bin Ihnen sehr dankbar für diese Klarstellung, Carolin. Sie zeigt allen unser ganzes theoretisches Dilemma und den einzig denkbaren Ausweg daraus …“
Carolin lehnte sich zufrieden zurück. Sieg nach Punkten!, dachte sie. Damit ist Anna aus dem Spiel und als kleines Dummerchen ausgeknockt …
Nach diesem Kraftakt gönnte sie sich erst einmal eine Auszeit.
Sie atmete tief durch und ging den Weg zwischen den Hochhaustürmen der Universität, dem Zisterzienserkloster und dem Haus ihrer Eltern hinunter zum Fluss.
Das Wetter war winterlich, aber ein seltsam flirrendes Licht wie sonst nur im späten Frühjahr schob sich von den Hügelkämmen über den Stausee zum Flussufer. Darüber die unwirkliche Bläue des Himmels.
Carolin war froh, wieder draußen in der Natur zu sein und ihren geistigen Kraftakt erst einmal hinter sich gebracht zu haben. Das alles war zwar wichtig, aber auch anstrengend, und es erforderte viel Energie, die sie jetzt eigentlich eher dafür brauchte, C. H. dazu zu bringen, genau das zu tun, was sie wollte …
Unten an der Brücke fiel ihr ein, dass sie vergessen hatte, ihn danach zu fragen, ob er Robert bei seinem rätselhaften Fall mit den Frauen ohne Gedächtnis als Profiler helfen könnte.
Sie wählte Hollandos Nummer und er nahm sofort ab.
Stelldichein
„Wenn Sie mit mir heute Abend essen gehen?“, fragte Hollando. „Zum Beispiel ins Parea? Liegt ganz in der Nähe oben auf dem Hügel … vielleicht ein Surf ’n’ Turf, das ist eine Spezialität mit Scampi und Kapern?“
„Hört sich verlockend an“, sagte Carolin. „Und wie komme ich zu der unverhofften Ehre?“
„Sie wissen, dass ich schon lange kein operativer Fallanalytiker mehr bin. Keine Ahnung, ob ich Ihnen helfen kann. Aber Sie haben mich während unserer Diskussion im Seminar neugierig gemacht …“
„Mein Bruder Robert sagt, dass der polizeiliche Meldedienst alter Art so gut wie tot ist und durch neue Analyseverfahren wie Täterprofiling und Täterprognosen ergänzt werden muss. Und genau auf dem Gebiet sollen Sie ja mal führend gewesen sein? In Roberts Fall geht es um vier Frauen, die auf rätselhafte Weise ihr Gedächtnis verloren haben. Eine ist inzwischen verstorben.“
„Und Sie glauben, das wäre das richtige Thema für einen kurzweiligen Abend im Parea?“
„Der Täter hat der Verstorbenen ein Auge herausoperiert und es an einer dünnen Kunststoffschnur über den Altar von St. Maria Magdalena gehängt. Ziemlich abgedreht, oder? So etwas passiert doch nicht ohne besonderen Grund?“
„Oh, dieser Fall, ja … ich habe davon in den Zeitungen gelesen.“
„Glauben Sie, dass durch Profiling Schlussfolgerungen möglich wären, in irgendeiner Weise auf den Täter zu schließen? Auf seine Schwächen und Motive? Auf seine Sicht des Lebens? Vielleicht sogar auf seine Identität?“
„Sie meinen, auch für Prognosen, wie er sich weiter verhalten wird?“
„Zum Beispiel, ja.“
„Seltsamer Zufall, das Parea liegt von St. Maria Magdalena gar nicht weit entfernt …“
„Auch die Frauen wurden alle in der näheren Umgebung aufgegriffen, unten am Fluss oder Stausee. Als gäbe es da irgendeine seltsame Affinität zum Wasser. Das macht es alles nur noch mysteriöser …“
„Ich weiß wirklich nicht, ob ich Ihrem Bruder helfen kann. Versprechen Sie sich also nicht zu viel. Aber sei’s drum. Darf ich Sie mit dem Taxi abholen lassen?“
Carolin