Eine Studentin. Peter Schmidt

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Eine Studentin - Peter Schmidt


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      Carolin schloss auf und schob vor­sichtig – Zen­ti­me­ter um Zen­ti­me­ter – die Tür nach in­nen. Ihre Hand suchte nach dem Licht­schal­ter.

      Vor ihr befand sich der runde Tisch, an dem ihr Ar­beits­kreis tagte. Die Durchgänge zu den beiden hin­teren Räumen waren offen und besaßen keine Türen.

      Sie zuckte unwillkürlich zusammen – doch dann hat­te sie sich auch schon wie­der in der Gewalt.

      Nein, der schat­ten­ar­tige Um­riss im hintersten Raum war kein mensch­licher Kör­per, son­dern nur die ge­wal­tige Trom­mel des Mag­net­re­so­nanz-To­mo­gra­phen.

       Sei nicht albern, Carolin … wir sind hier nicht im Kabinett des Dok­tor Ma­buse …

      Im hinteren Raum gab es keine Fens­ter, auch keine wei­teren Türen.

      An den glatt ver­putz­ten Wän­den ne­ben dem To­mo­gra­phen hin­gen Schau­ta­feln für die Be­die­nung des Ge­räts und Auf­nahmen von ehemaligen Pati­enten. Rechts vor den Kleider­schränken und Regalen der Mit­arbeiter stan­den zwei Ar­beits­ti­sche mit Stüh­len.

      Ihr Blick wanderte nach­denk­lich zur De­cke … nir­gends eine Klappe, nicht einmal ein Um­riss davon, auch keine Lei­ter wie in man­chen Ober­ge­schossen.

      Der Tomograph wog über fünf Ton­nen. Sie erin­nerte sich, dass er sei­ner­zeit we­gen sei­ner ungewöhnlichen Grö­ße und Schwe­re per Kran durch eine pro­viso­rische Öff­nung in der Decke oder Außen­wand ge­hievt wor­den war. Es hat­te so­gar in den Zei­tun­gen ge­stan­den, samt Foto der spek­taku­lä­ren Ak­tion.

      Professorchen hat sich anschei­nend in Luft auf­gelöst, dach­te sie rat­los.

      Carolin nannte das Mädchen, das sie vor Ro­bert in der klei­nen fen­sterlo­sen Kam­mer hin­ter ihrem Schlaf­zim­mer ver­steckte, Lena, weil es sich im­mer noch nicht an sei­nen Namen erin­nerte. Da­für war es so anhäng­lich, als sei sie ihre leibli­che Mutter. Es muss­te ein fürch­terli­ches Ge­fühl sein, nicht zu wis­sen, was mit einem pas­siert war und woher man kam …

      Die andere „Lena“ war die Tochter der Haus­hälte­rin ihrer El­tern ge­we­sen. Das glei­che hell­blon­de Haar, die­sel­ben was­ser­blauen Augen. Wenn die jüngere Lena in der Kü­che am Tisch saß und Son­nen­licht durchs Fens­ter fiel, war Caro­lin im­mer er­staunt über ihre Ähn­lich­keit.

      Was, wenn es einfach nur eine Tochter der äl­te­ren Le­na ist?, dach­te sie. Das wäre aller­dings ein un­glaub­li­cher Zu­fall. Aber es wür­de er­klä­ren, wie­so sie das Mäd­chen bei ih­rem mor­gend­li­chen Lauf­trai­ning am Stau­wehr ent­deckt hatte. Lenas El­tern wa­ren ir­gend­wann auf die an­dere Sei­te des Sees ge­zo­gen, weil sie dort ein klei­nes Haus ge­erbt hat­ten.

      „Wenn du in deinem Zimmer bist und in der Woh­nung eine Män­ner­stimme hörst, dann schließ dich ein und gib kei­ne Antwort“, schärf­te Caro­lin ihr ein. „Das ist dann mein Bru­der Robert. Er wohnt unter uns und ar­bei­tet bei der Kri­mi­nal­poli­zei. Ro­bert müsste dich aus­fra­gen und in ein Heim stecken, wenn man deine El­tern nicht fin­det. Hast du mich ver­stan­den?“

      Lena nickte zwar, aber Carolin war nicht ganz si­cher, ob sie wirk­lich begriff, worum es ging.

      „Vielleicht finde ich ja bald deine Fa­mi­lie.“

      „Und wenn ich gar keine Familie habe?“, fragte Lena.

      „Das ist unwahrschein­lich, oder?“

      „Deine Eltern leben ja auch nicht mehr.“

      „Aber du bist viel jünger. Ir­gendje­mand muss schließ­lich für dich ge­sorgt ha­ben. Ich schaue je­den Tag in die Ver­miss­ten­an­zei­gen.“

      Lena stand vom Tisch auf und um­arm­te sie wie­der. „Ich weiß gar nicht, ob ich hier weg will …“

      „Schon gut“, sagte Carolin und strich ihr übers Haar. „Al­les wird gut. Wenn wir dei­ne Eltern ge­fun­den ha­ben, kommst du mich je­den Tag be­su­chen, ver­spro­chen?“

      Arbeitskreis

      „Religiöser Glaube ist eine Form irra­tio­naler Ge­fühls­ge­wiss­heit, über de­ren Wahr­heits­wert wir keine In­for­ma­tio­nen be­sit­zen“, sagte Pro­fes­sor Hol­lando.

      Er blickte fra­gend in die Run­de …

      Ihr Arbeitskreis bestand aus drei­zehn Stu­den­ten, aller­dings fehl­te An­na Schwartz.

      Deu­tete das schon auf das Ende ihrer Bezie­hung hin? We­gen der Bla­mage in der Dis­kus­sion um Wil­lens­frei­heit? Weil sie eigent­lich ein Dum­mer­chen war?

      Dann gehörten nur noch zwölf Mit­ar­beiter zum harten Kern – wie die zwölf Apos­tel … dachte Carolin. Und Ce­sare Hol­lan­do war ihr Jesus Chris­tus.

      Hollando hatte einige der be­gab­tes­ten Köpfe um sich ge­scharrt – den bleich­gesich­tigen Com­puter­freak Lars Ober­baum, Paul den „Robo­ter“ mit dem Ge­dächt­nis ei­nes Autis­ten und ein ewig hüs­teln­des Bürsch­chen na­mens Sig­mund Reck, dem Hol­lan­do eine steile Kar­riere in der Neu­ro­logie vor­aus­sagte.

      Reck hatte gerade die Frage auf­ge­wor­fen, was wohl die Kirche von Hol­landos bahn­bre­chen­der Ent­de­ckung hielt, schon we­gen der Erb­sün­de. Und wo blieb die christ­liche Mo­ral in einer Ge­sell­schaft, die sich von der Gei­ßel des ne­ga­ti­ven Füh­lens be­freit hatte?

      Christus am Kreuz ohne Schmerzen?

      Stellte das nicht eine zentrale religiöse Tradition in Frage?

      Carolin hätte eigentlich lieber mehr darüber erfahren, wie man den Aver­sio-Gene­tic-Toggle-Switch steu­erte – das The­ma des heu­ti­gen Ar­beits­krei­ses. Und gab es da­bei ge­sund­heit­li­che Risi­ken?

      „Fräulein Mey­ers …?“, fragte Pro­fes­sor Hol­lando. „Ir­gend­wel­che Ein­wän­de?“

      Carolin schüttelte unmerk­lich den Kopf.

      „Heute ganz ohne Kommentar?“ Hollando blickte belustigt in die Runde. „Ein Datum, das wir uns womöglich notieren sollten.“

      „Ihre Charakterisierung religiö­sen Glau­bens als ir­ra­tio­nale Ge­fühls­ge­wiss­heit dürf­te bei streng­gläu­bigen Do­mi­nika­nern aber zu Ir­ri­tatio­nen füh­ren“, sagte Carolin.

      „Dominikaner zu sein bedeutet, dass man über un­er­schüt­ter­li­chen Glau­ben ver­fügt?“

      „Oder Zweifel für sich behält.“

      „Auch eine Antwort, Carolin … meine Ge­wiss­heit be­gann in dem Au­gen­blick zu schwin­den, als ich ent­deckte, dass ich ein Sün­der wie alle an­de­ren bin. Und dass nir­gends ein Schal­ter für Inde­termi­nis­mus zu fin­den ist. Wie steuert man seine Mo­tiva­tio­nen? Wie be­freit man sich von den Ver­lockun­gen des Le­bens?“

      „Hatten Sie denn nicht kürz­lich noch die Meinung ver­treten, man solle aus prak­ti­schen Gründen alle Vor­be­halte der neu­e­ren Hirn­for­schung ge­gen mensch­li­che Wil­lens­frei­heit ad acta le­gen?“

      „In der Tat hilft uns der Glaube manch­mal weiter. Aber sind wir deshalb schon frei? Schauen wir uns doch nur mal ge­nauer die Rea­li­täten an“, fuhr Hol­lan­do fort. „Als Ket­ten­rau­cher fällt es uns un­end­lich schwer, mit dem Rau­chen auf­zuhö­ren. Und die Lust des Kinder­schän­ders ist so stark, dass er selbst um den Preis, be­straft und ge­sell­schaft­lich


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