Die Regeln der Gewalt. Peter Schmidt

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Die Regeln der Gewalt - Peter Schmidt


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die dicht an einer Schnellstraße oder Autobahn lagen, möglichst mit der Tiefgaragenausfahrt direkt zum Zubringer (aber das war ein seltener Idealfall), und deshalb hatten sie diese hier gewählt – obwohl sie im Stadtzentrum lag und das nächste Polizeirevier nur 500 Meter entfernt war.

      Er musterte die Scheibe der Balkontür in der gelben Hauswand über einer Leuchtreklame für Das weißeste Waschmittel seit der Weberei (wie eh und je ging es in diesem Land mehr um die Weiße der Hemden als um ein reines Gewissen). Es schien, als habe sich der Vorhang bewegt.

      Nach dem Zeitplan war das nicht möglich. Er hatte die Zeiten im Kopf. Seit den Erfolgen Arms waren sie dazu übergegangen, auch das kleinste Stück Papier zu vernichten.

      Arm … dachte er zähneknirschend, eine Fahndungsgruppe, die offiziell gar nicht existierte, weil sie außerhalb der Legalität arbeitete. Anders konnten sie ihnen nicht beikommen … nicht dem harten Kern.

      Angelika plädierte noch immer dafür, Sommer, den Kopf der Gruppe, sofort zu liquidieren. Es war riskant, weil man ihn scharf bewachte – aber was war jetzt nicht mehr riskant? –, und er würde wohl doch einwilligen. Der Beschluss brauchte eine Zwei-Drittel-Mehrheit.

      Richard neigte im Zweifelsfall immer zur Gewalt, auch wenn es riskant war, und Charlotte und Lena waren in Frankreich untergetaucht: sie würden erst nach der vereinbarten Kontaktaufnahme in Frankfurt wieder stimmberechtigt sein.

      Eine echte Zwei-Drittel-Mehrheit betrug seit Birkes Tod 3,33 Personen, dachte er amüsiert. Es entsprach ziemlich genau seiner eigenen Auffassung – seiner Nase, seinem «Gespür»: zu 33 Prozent dafür und 00 Prozent Unsicherheit. Doch das sollte niemanden über seine Entschlossenheit hinwegtäuschen wenn es darauf ankam.

      Werders blickte wieder an der Fassade des Hochhauses hinauf. Dann betrat er das Café neben der Bankfiliale. Er setzte sich in die Nähe des Fensters. Aber nicht an einen Fensterplatz.

      Es genügte, die Balkontür im Auge zu behalten.

      Er zahlte seinen Kaffee gleich. Es war sauberes Geld. Sie achteten jetzt sorgfältiger darauf als noch vor einigen Monaten.

      Der Verschluss der Leinentasche neben ihm war geöffnet … er hatte es oft geübt: seine Hand fuhr mit schlafwandlerischer Sicherheit über den Griff des Browning-FN. Neun Millimeter, genau das richtige Kaliber, um Sommer vom Stuhl hinter seinem Schreibtisch zu reißen.

      Werders hatte ihn nur einmal gesehen, bei einer Pressekonferenz, wo er sich harmlos im Hintergrund hielt. (Er hatte wie unbeteiligt auf einem der Klappsitze am Saalende gesessen, ein beleibter, untersetzter Mann mit dem Gesicht eines Buchhalters.)

      Es war nichts … blinder Alarm! Die Regel schrieb vor, in Verdachtsfällen mindestens zwei Stunden zu warten. Das zermürbte auch den hartnäckigsten Beschatter. Wenn aber doch Sommers Leute oder das BKA dort oben waren, würden sie sich in Geduld üben müssen. Geduld war genau das, was sie nicht hatten.

      Denn Geduld bedeutete Zeit. Und der Druck der Öffentlichkeit wurde stärker. Ihr sogenannter Druck. Was man ihr in der Tagespresse in den Mund legte. Sie glaubte, was sie glauben sollte. Man hielt sie dumm. Gegen eine Maschinerie, die alles dumm hielt, würde man nur mit Gegendruck ankommen können.

      Es war das ehernste, das erste Gesetz, und es blieb gültig, solange noch etwas zu gewinnen war.

      Werders zündete sich genüsslich einen Zigarillo an und bestellte Kakao.

      Auf den Fahndungsplakaten wurde er als Pfeifenraucher geführt. Sie waren so naiv zu glauben, dass jemand, der einmal Pfeife geraucht hätte, nicht so leicht davon ablassen könnte. Aber es bedeutete ihm nichts. Er rauchte ebenso gut Zigarillos oder gar nicht.

      Eine junge Frau betrat das Café. Sie setzte sich an den Tisch gegenüber. Sie zögerte einen Moment lang, welchen Platz sie einnehmen sollte. Als überlege sie noch, welche Schussrichtung die günstigere sein würde, wenn man es vermeiden wollte, die übrigen Besucher des Cafés zu gefährden, dachte er (es war beinahe unmöglich, in ihrer Situation nicht solche Gedanken zu haben).

      Sie legte die Handtasche rechts neben sich, genau wie er. Ihr Gesicht, soweit man es unter der dunklen Brille erkennen konnte, schien ungeschminkt. Sie trug einen dünnen, schwarzen Stoffmantel – dessen rechte Seitentasche ausgebeult war.

      Werders strich sich über die Stirn. Automatisch schob seine Hand sich in den Taschenspalt und blieb auf dem Metall des Abzugs liegen.

      Dann stand er langsam auf. Gewöhnlich war das ein Risiko. Doch die Kellnerin bediente am Nachbartisch. Und er hatte seinen Kakao noch nicht bezahlt. Das brachte sie in die Schusslinie. Er hängte sich die Leinentasche um und ließ seine Hand darin.

      «Ihr Kakao …», sagte die Kellnerin und stellte sich ihm in den Weg.

      Werders zahlte mit der anderen Hand.

      Draußen vor der Tür überblickte er schnell die Straße. Das Gewitter hatte die Stadt erreicht. Regentropfen klatschten auf den Gehsteig. Eine gelbe Straßensprengmaschine fuhr an ihm vorüber, gefolgt von vier Straßenkehrern in leuchtenden Uniformen und einem Lastwagen, der den Müll einsammelte. Werders überquerte in ihrem Schutz die Fahrbahn.

      Vor ihm war die Treppe der U-Bahn-Station. Nicht in die U-Bahn, dachte er! In so einem Rattenloch war Birke umgekommen. Mochte die Frau im Café harmlos gewesen sein oder nicht, es gab nie eine andere Wahl, als seinem Instinkt zu folgen, wenn man überleben wollte.

      Staub, den die Regenböen vor sich hertrugen, wirbelte ihn an, als er das Gitter des U-Bahn-Schachtes umrundete und in einem Supermarkt untertauchte. Er kannte das Geschäft: es besaß einen Ausgang zur anderen Straßenseite.

      Werders läutete dreimal. Es war das vereinbarte Zeichen. Dabei legte er seine Hand auf das Auge des Türspions. Für alle Fälle. «Großer Gott», sagte das Mädchen.

      Ein dunkler Haarschopf über dem mageren Hals erschien im Türspalt. Es schob die Tür weiter auf, und Werders konnte in den Korridor sehen.

      «Sie? – Nicht heute, ich habe Besuch …»

      Ihre dünnen Beine tänzelten nervös. Sie trug eine dunkelblaue Strumpfhose, und Werders bemerkte, dass sie verknittert wirkte und dass sie unordentlich – offenbar hastig – hochgezogen worden war; mit dem Gummiband nach außen.

      «Ein Kerl?», fragte er und zeigte in die Wohnung.

      Sie nickte.

      «Es ist der einzige Platz in der Stadt, den ich noch …»

      «Tut mir leid.»

      «Das könnte Ihnen Ärger einbringen.»

      «Mir nicht. Ihnen!», sagte sie. «Hauen Sie bloß ab.» Dann schlug sie ihm die Tür vor der Nase zu.

      Das also waren die sogenannten Sympathisanten! Das große, graue Heer der Gleichgesinnten. Wenn man sie brauchte, verdünnisierten sie sich. Es standen jetzt fünfzigtausend auf seinen Kopf. Und der Denunziant musste nicht einmal persönlich auftreten.

      Ein Stellvertreter genügte, um die Provision zu kassieren, wie jedes Fahndungsplakat genüsslich mitteilte. Anonymität wurde ohnehin zugesichert. Und natürlich Strafmilderung, falls es sich um jemanden aus dem engeren Kreis handelte.

      Er musste noch froh sein, wenn gleich nicht die Räder von Sommers Wagen unten vor dem Haus quietschten. Ihre einzige Versicherung waren die angedrohten Vergeltungsmaßnahmen. Deshalb achteten er und Angelika sorgfältig darauf, dass sie genauestens ausgeführt wurden. Sie ruhten nicht eher, als bis der Denunziant liquidiert worden war.

      Es war eine unausweichliche Konsequenz bei diesem Spiel.

      Werders ging hinunter und dann ein Stück die regennasse Straße entlang. Er fröstelte. Hotels würde er meiden müssen …

      Seine Papiere waren zwar ausgezeichnet gefälscht und er trug ein halbes Dutzend verschiedener «Identitäten» mit sich herum, nach Belieben einzusetzen, aber es gehörte zu den eisernen Spielregeln, Hotels und Gasthäuser nur im äußersten Notfall aufzusuchen.

      Die


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