Die Regeln der Gewalt. Peter Schmidt

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Die Regeln der Gewalt - Peter Schmidt


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mit Angelika und Richard in der Wohnung zusammentraf, bedeutete das, den Plan aufs Neue zu verschieben.

      Bis dahin brauchte er ein Quartier. Es war ausgeschlossen, dass sie schon oben waren. Dann hätte das vereinbarte Zeichen im Fenster gehangen: ein leerer Bastkorb, wie er für Topfblumen gebraucht wurde. Werders betrat eine große Imbissgaststätte. Jetzt, in den Abendstunden, war sie fast leer.

      Er setzte sich an einen Tisch vor der Spiegelrückwand. Der Aufgang zur nächsten Etage befand sich direkt neben seinem Stuhl. Er aß ohne Appetit ein Stück gegrilltes Schweinefleisch im Brötchen. Das Brötchen war zu weich, und die Soße über dem Fleisch schmeckte nach Einheitspampe.

      Er dachte daran, dass Charlotte und Lena es sich in Paris jetzt gut gehen lassen würden, in teuren Restaurants. Nach dem Überfall auf die Bankfiliale hatten sie es sicher verdient. Man brauchte das: einmal auszuspannen und sich – wenn auch nicht völlig, so doch halbwegs – sicher zu fühlen.

      Die Treibjagd gegen sie hatte ein unerträgliches Ausmaß angenommen. Er fragte sich, wie lange sie das durchhalten konnten.

      Wenn sich sein Plan aufging und Charlotte in Paris den geeigneten Spezialisten anwarb, würde das Kesseltreiben bald ein Ende haben. Es würde den größten Rückschlag in der Terroristenfahndung seit dem Bestehen dieser Republik bedeuten.

      Werders blickte unschlüssig über die Tische hinweg. Unangenehme Lage. Sie hatten diese Wohnung, aber es schien ihm zu gefährlich, sie zu benutzen. Er hatte immer dafür plädiert, in der Stadt noch eine Gartenlaube zu mieten.

      Gartenlauben waren unverdächtiger. Niemand wunderte sich darüber, wenn sie wochen- oder monatelang nicht benutzt wurden.

      Er hätte in das Waldstück gehen und den Blechbehälter mit den verschlüsselten Sympathisantenadressen ausgraben können … doch es wurde dunkel. Eine Taschenlampe besaß er nicht. Sie lag oben in der Wohnung, und die Geschäfte waren bereits geschlossen. In einer mondhellen Nacht hätte das Licht vielleicht ausgereicht. Aber das Gewitter hatte eine dichte Wolkendecke hinterlassen.

      Seine Fingerspitzen tasteten in der Leinentasche nach dem Banknotenbündel.

      Das Geld würde reichen. Er entschloss sich, ins Bahnhofsviertel zu gehen. Dort gab es genügend Mädchen, schöne, hässliche, alte, junge … es kam nicht weiter darauf an. Er würde bei einer die Nacht verbringen und sich dann morgens gegen elf in der Nähe der Wohnung aufhalten, um Richard und Angelika zu warnen.

      Wenn Ranke, Wertmüller und Edda Frahm nicht eingesessen hätten, wären sie womöglich ganz anders vorgegangen und hätten die Wohnung gestürmt, vorausgesetzt, sie fühlten sich den BKA-Leuten überlegen – bei gesichertem Rückzug natürlich –, Ranke war darin Spezialist.

      Aber die Zeiten hatten sich geändert; mittlerweile hinterließen sie Leichen in Kofferräumen, statt in Treppenhäusern oder auf Straßen, und zwei Drittel ihrer Aktivitäten beschränkten sich darauf, dem beinahe allmächtigen Fahndungscomputer in Wiesbaden Rätsel aufzugeben (in ihren Gedanken hatte er inzwischen so etwas wie den Stellenwert von Gottvater eingenommen).

      Er blieb vor der Auslage eines indischen Geschäftes stehen. Ein kleines Schaufenster, vollgestopft mit Buddhas aus Messing, Steinpfeifen, Räucherstäbchen, Seidenschals, Schnitzereien und bestickten Lederwaren; an der heruntergelassenen Blechjalousie nebenan lehnte ein hellblondes Mädchen in schwarzer Lederkleidung und roter Strumpfhose; es verfolgte ihn mit spöttischem und zugleich aufforderndem Blick.

      Werders war nicht besonders attraktiv. Zu hager und ausgezehrt; sein langer Hals, die dicht stehenden Augen, die er hinter einer goldgeränderten Brille versteckte, das gescheitelte, schwarze Haar hatten ihm den Spitznamen «Habicht» eingetragen. Seit einem Streifschuss am linken Bein hinkte er manchmal, wenn auch nur leicht und meist bei Wetterumschwung; die Narbe musste Nerven unter der Hautoberfläche in Mitleidenschaft gezogen haben. Manchmal benutzte er sein Hinken, um sich zu verstellen.

      «He, Langer, wie wär‘s.» Sie bewegte obszön ihre Hand vor der Strumpfhose. « Komm mit, ich mach‘s zum halben Preis …»

      Sie stellte sich neben ihn, als er schon weggehen wollte, weil andere Passanten aufmerksam wurden, und umfasste mit einem Arm seine Hüfte.

      «Hast du ‘ne eigene Bude?»

      «Wir können ins Hotel. Bude nur für die ganze Nacht.»

      «Genau was ich suche», nickte er.

      «Fünfhundert.»

      «Sechshundert – wenn du gut bist.»

      «Na hör mal», lachte sie und hängte sich an seinen Hals. «Es ist drüben, zwischen den beiden Stundenhotels, über der Einfahrt zur Autoreparatur. Lass uns vorher noch was trinken gehen, ich kenne eine hübsche Bar.»

      «Meinetwegen. Aber nur kurz.»

      Die Bar lag in einer engen Seitenstraße. Mülltonnen, überfüllte Container und leere Obstkisten versperrten den Gehsteig. Manche Bars sahen eher aus, als bäten sie um Almosen. Ihre blinden Scheiben waren mit rotem Samt verhängt. Das Licht einer halben Leuchtschrift glimmte kläglich in einem Rhythmus, der mehr von den oxydierten, elektrischen Kontakten als vom Zeitgeber diktiert wurde.

      Zwischen den Platten des Gehsteigs war eine blau schillernde Pfütze, wie ausgeflossenes Öl. Was für ein Schmutz …

      Werders verspürte körperlichen Schmerz, wenn er Unrat sah.

      Sauberkeit war noch immer die sicherste Gewähr dafür, halbwegs mit dem Leben zurechtzukommen. Wenn er sich die Hände öfter als andere wusch, dann nur deswegen, weil er schon den Gedanken an klebrige oder infizierte Hände nicht ausstehen konnte.

      Sein Magen drehte sich um, wenn er ungespültes Geschirr im Waschbecken sah. Jede Art von Dreck bereitete ihm physische Pein … und erst recht politischer …

      Noch immer hoffte er, dass es in diesem Staat allein einen großen Besen brauchte, um reinen Tisch zu machen. Nach allen Fehlschlägen der Vergangenheit war es allerdings nur noch eine schwache Hoffnung – eine die mehr glimmte als brannte, wie die Leuchtschrift über der Bar.

      In dem kleinen Raum zwischen der Tür und dem schweren, braunen Filzvorhang mit der Ledereinfassung, an dem zahllose Hände ihren Schweiß hinterlassen hatten, griff sie kurz nach seinem Hosenschlitz.

      «Schon in Fahrt?»

      Er nickte.

      «Gut so.»

      Sie zog ihn zur Theke und ließ sich auf einen Hocker plumpsen. «Wie immer», sagte sie. Und mit einem Seitenblick zu Werders: «Keine Angst, das Zeug geht auf meine Rechnung.»

      Die Wirtin stellte zwei Gläser hin. Es war ein amerikanischer Likör aus Whisky und Früchten. Werders pflegte jede Art von harten Getränken in sich hineinzustürzen. Er war nicht in der Lage, Schnaps oder Likör langsam auszutrinken – er konnte dann nicht mehr damit aufhören, obwohl niemand ihn einen echten Trinker hätte nennen können. Und jetzt war ohnehin nicht die richtige Zeit dazu.

      Er brauchte einen klaren Kopf. Das Licht in der Bar schien aus dem Nichts zu kommen; es hatte einen fahlen blauen Schimmer. Er suchte vergeblich nach einer Lichtquelle.

      «He, wen seh’ ich denn da …?» Sie rutschte von ihrem Hocker. Schon eine Weile hatte sie in das Dämmerlicht einer séparéeartig abgeteilten Tischecke geblinzelt. «Was hältst du von ‘nem flotten Vierer, Langer? Hab da was für uns entdeckt.»

      «Nicht viel, ich würde lieber …» Werders folgte ihrem Blick, als sie zum Tisch ging.

      Dort saß ein ziemlich bulliger Mann in einer abgewetzten gelben Lederjacke. Sein pelziges Haar sah dicht wie das eines Affen aus, seine Handrücken waren stark behaart. Er beugte sich über den Ausschnitt eines hübschen, aber rotgesichtigen Mädchens, das anscheinend zum Inventar gehörte.

      Lummer! Durchfuhr es ihn. Aus Sommers Gruppe. Offenbar hatte der andere ihn beim Eintreten nicht bemerkt, sonst hätte es eine Katastrophe gegeben.

      Werders wartete einen Augeblick


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