Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Edith Stein

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Aus dem Leben einer jüdischen Familie - Edith Stein


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kochte — damals noch eine Kostbarkeit — legte sie jedesmal ein paar Bohnen beiseite und sammelte so die ganze Woche. Jeden Freitag bekam eine arme Frau das Gesammelte. Alle abgetragenen Sachen aus dem eigenen Haushalt und aus denen der verheirateten Töchter wurden sorgfältig ausgebessert, um sie an Arme zu verschenken. Bei diesen Näharbeiten mußten die kleinen Enkelinnen tüchtig helfen. Die Großmutter versammelte sie um sich, leitete sie zur Arbeit an und wachte streng darüber, daß alles mit der größten Sorgfalt gemacht wurde. Von 6 Jahren an mußten die Kinder Säume nähen, die größeren bekamen die langen Nähte anvertraut. Ganze Aussteuern für befreundete Familien wurden in dieser Nähschule gearbeitet.

      In den letzten Lebensjahren führten die Urgroßeltern keinen Haushalt mehr. Das Essen wurde ihnen von den Großeltern gebracht. Das ganze Leben hindurch hatte der Urgroßvater seine Frau zärtlich geliebt, nie geduldet, daß sie eine grobe Arbeit anrührte. In seiner letzten Krankheit wurde er von der Wahnidee geplagt und faßte Verdacht gegen sie, sodaß man sie schließlich aus dem Haus nehmen mußte. Er starb mit 89 Jahren. Seitdem lebte die Urgroßmutter bei ihrer Tochter Adelheid Courant, meiner Großmutter. Sie war schon leidend, als sie herüberzog und ist viele Jahre von ihrem Schwiegersohn und den Enkelinnen mit der größten Liebe und Sorgfalt gepflegt worden — ihre Tochter hat sie lange überlebt. Bis zuletzt war sie geistig völlig rege, sie ließ sich gerne vorlesen — dazu wurden noch die Urenkelinnen angestellt, die am Ort lebten oder zu den Ferien kamen — und folgte mit dem größten Interesse. Sie wurde 95 Jahre alt; sie mußte körperlich sehr viel leiden und fühlte sich auch sehr bedrückt durch die viele Mühe, die sie verursachte. Meine Mutter hat sie immer eine „wahrhaft fromme Frau“ genannt. In der Synagoge und auf dem Friedhof betete sie mit der größten Sammlung und Innigkeit, ebenso am Freitagabend, wenn sie die Sabbatlichter anzündete und die dazugehörigen Gebete sprach. Am Schluß pflegte sie hinzuzufügen: „Herr, schicke uns nicht so viel, wie wir ertragen können“.

      Meine Großmutter, Adelheid Burkhard, war von Kindheit an gewöhnt, viel zu arbeiten. Sie und ihre Schwester Johanna mußten die jüngeren Geschwister hüten. Und weil das kleine Gehalt, das ihr Vater als Kantor hatte, für den Unterhalt der großen Familie nicht ausreichte, mußten sie sehr zeitig aufstehen, um in den frühen Morgenstunden feine Handarbeiten zu machen und dadurch etwas zu verdienen.

      Als die Großeltern heirateten, eröffneten sie eine kleine Kolonialwarenhandlung. Nach der Anschaffung der Waren blieben ihnen als „Barvermögen“ 25 Pfennige. Das Geschäft richtete sich durch den Fleiß und die Tüchtigkeit beider in kürzester Zeit sehr gut ein. Alle Unternehmungen berieten sie gemeinsam, die Bücher wurden immer von der Großmutter geführt; ohne sie zu befragen, hätte der Großvater nichts unternommen. Als das Geschäft sich vergrößerte, wurden die jüngeren Geschwister Burkhard zur Hilfe herangezogen und arbeiteten unter der Leitung ihrer Schwester. Fast jedes Jahr kam ein Kind zur Welt. Das älteste starb als Säugling, die andern 15 sind alle herangewachsen, und die meisten haben ein hohes Alter erreicht. Von diesen 15 Kindern war meine Mutter das vierte.

      Wie die Großmutter ihre eigenen Eltern hoch in Ehren gehalten und ihnen alle Liebe erwiesen hatte, so erntete sie von ihren Kindern die größte Verehrung und Liebe. Alle Töchter wurden vom Alter von 4 Jahren an zur Arbeit angehalten, zur Hilfe im Geschäft, das sich von Jahr zu Jahr vergrößerte, zum Haushalt, den sie später abwechselnd führten, und zu Handarbeiten. Den Anfangsunterricht erhielten die älteren Geschwister in der öffentlichen Schule (meine Mutter von 5 Jahren an in einer katholischen Volksschule). Später begründete mein Großvater für seine vier Ältesten und die Kinder von noch drei andern jüdischen Familien eine Privatschule.

      Meine Mutter wurde schon mit 12 Jahren aus der Schule genommen, um zu Hause zu helfen. Sie bekam aber einige Privatstunden in Deutsch und Französisch. Alle Söhne wurden nach außerhalb, schließlich alle nach Breslau, aufs Gymnasium geschickt; fünf wurden Kaufleute, zwei Akademiker (Apotheker und Chemiker).

      Der Religionsunterricht wurde von dem jüdischen Lehrer in der Schule erteilt. Es wurde etwas Hebräisch gelernt, aber zu wenig, um später selbständig übersetzten und mit Verständnis beten zu können. Die Gebote wurden gelernt, Teile aus der Heiligen Schrift gelesen, manche Psalmen (deutsch) auswendig gelernt. Meine Mutter sagt, daß sie mit der größten Begeisterung diesem Unterricht beigewohnt habe. Es sei ihnen immer eingeprägt worden, daß sie jede Religion achten, niemals gegen eine fremde etwas sagen sollten. Die Knaben wurden, wie schon früher erwähnt, vom Großvater in den vorgeschriebenen Gebeten unterrichtet. Am Sonnabend nachmittag nahmen beide Eltern alle Kinder, die zu Hause waren, zusammen, um mit ihnen Vesper- und Abendgebet zu beten und es ihnen zu erklären. Das tägliche Schrift- und Talmudstudium, wie es in früheren Jahrhunderten als Pflicht jedes jüdischen Mannes galt und bei Ostjuden auch heute noch häufig gepflegt wird, war im Hause meiner Großeltern nicht mehr üblich. Aber alle gesetzlichen Vorschriften wurden aufs strengste beobachtet.

      (Ich lasse nun folgen, was mir aus früheren Erzählungen meiner Mutter und meiner Geschwister in Erinnerung geblieben ist und was ich selbst miterlebt habe).

      Über dem Sofa in unserm Wohnzimmer hängen die Bilder meiner Großeltern. Das feine, zarte Gesicht meiner Großmutter, von einem weißen Häubchen umrahmt, ist sehr ernst und spricht von viel Leiden. Sie starb lange vor meiner Geburt; was ich von ihr weiß, stammt also nur aus Erzählungen. Aber ich glaube, sie innerlich zu kennen und herauszufühlen, welche ihrer Töchter und Enkelinnen ihr besonders gleichen und was vielleicht in mir selbst von ihr herstammen mag. Noch heute klingt ehrfürchtige Scheu aus der Stimme meiner Mutter, wenn sie von ihr spricht. Die Kinder liefen mit ihren kleinen Nöten eher zum Vater als zu ihr. Zu meiner Großmutter ging man, wenn man ernsten Rat brauchte: nicht nur Mann und Kinder und Geschwister, auch viele Freunde. Adlige Damen von den großen Gütern der Umgegend fuhren oft in ihren Wagen vor, um sie zu besuchen und rechneten es sich zur Ehre an, sie als Freundin zu haben.

      Mein Großvater guckt munter und humorvoll auf den Beschauer herab. An ihn habe ich noch eigene Erinnerungen. Er starb, als ich fünf Jahre alt war. Er war ein kleiner, lebhafter Mann. Wenn er uns in Breslau besuchte, zog er aus seinen Taschen für jedes Kind eine Tafel Schokolade. Aber auch die fremden Kinder auf der Straße wußten, daß er immer etwas für sie bei sich hatte. Wenn bei großen Familienfesten Torten mit schönen Verzierungen bereitstanden, holte er die kandierten Früchte herunter und steckte sie uns in den Mund. Er war immer voller lustiger Einfälle und unerschöpflich im Erzählen von Witzen. Als hervorragend tüchtiger Kaufmann hatte er sich aus den kleinsten Anfängen heraufgearbeitet, hatte 15 Kinder großgezogen und immer noch für andere, besonders für arme Verwandte, etwas übrig gehabt. Er lebte im eigenen, geräumigen Hause, umgeben von Kindern und Enkeln, und übte eine unbegrenzte Gastfreundschaft. Nicht nur in dem kleinen Städtchen, wo er wohnte, sondern in ganz Oberschlesien war er hochgeachtet. Das größte Vertrauen genoß er bei den Bauern der Umgebung, die am Sonntag zur Kirche und am Mittwoch zum Wochenmarkt in die Stadt kamen und dabei ihre Einkäufe machten. Einmal brachte ihm ein Bauer Geld zum Aufheben. Der Großvater nahm es und sagte: „Wart, ich will dir einen Schuldschein dafür geben“. Er brachte den Schein, der Bauer betrachtete ihn aufmerksam und gab ihn dann zurück: „Heben Sie mir den mit auf“. Die Erinnerung an den alten Herrn Courant ist heute noch bei denen lebendig, die ihn kannten. Vor zwei Jahren besuchte mich öfters eine Dozentin von der pädagogischen Akademie in Beuthen. Als ich meiner Mutter ihren Namen nannte, meinte sie, die Familie stamme sicher aus Lublinitz. Wir stellten fest, daß ihr Vater tatsächlich dort auf gewachsen, aber schon mit 16 Jahren fortgezogen war. Als ich sie einmal zu einem Spaziergang abholte, kam er herein, um mich als Sprößling der Familie Courant zu begrüßen; das sei ja eine der angesehensten Familien der Stadt gewesen, er könne sich gut an den alten Herrn erinnern.

      In den letzten Jahren war mein Großvater halsleidend (ein Blasenleiden) und suchte öfters das Bad Salzbrunn auf. Ich erinnere mich, daß wir ihn dort besucht haben. Auch an seinen 80. Geburtstag erinnere ich mich, zu dem meine Mutter meine Schwester Erna und mich mitnahm. Es war eins jener großen Feste, wie sie in unserer Familie als Ausdruck kindlicher Liebe und verwandtschaftlicher Zusammengehörigkeit üblich sind; das erste, an dem ich teilnehmen durfte. Im Jahr darauf starb mein Großvater. Er wurde 83 Jahre und war nur wenige Wochen wirklich krank.”

       2.

      Haus


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