Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Edith Stein

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Aus dem Leben einer jüdischen Familie - Edith Stein


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Arbeit hat, strickt sie und liest dabei. Das war aber zeit ihres Lebens nur eine Erholung. Ich erwähnte schon, daß sie abwechselnd mit ihren Schwestern den großen Haushalt führte und im Geschäft tätig war. Schon mit 8 Jahren war sie so tüchtig, daß die Eltern sie auswärtigen Verwandten im Notfall zur Hilfe schickten. Es war ihr die härteste Arbeit nicht zu schwer, und man schätzte sie so, daß der sonst geizige Onkel ihr zum Dank teure Geschenke machte, z.B. einen Hut, der für eine Dame gepaßt hätte. Mitten im Winter ging sie mit ihm zum Markt und kassierte das Geld ein, während er verkaufte. Es ist sehr charakteristisch, wie dieser Aufenthalt endete: der Onkel ließ sich im Ärger hinreißen, in häßlichen Ausdrücken von ihren Eltern zu sprechen. Das konnte sie nicht ertragen. Sie lief heimlich davon und ließ sich von einem Lastwagen nach Hause mitnehmen.

      Wenn große Wäsche im Haus war, standen die Mägde schon in der Nacht auf. Als meine Mutter 10 Jahre war, wollte sie waschen lernen. Obgleich man sie auslachte, stand sie nachts mit auf und ging mit an die Arbeit. Weil sie sich noch nicht darauf verstand, rieb sie sich die Finger wund, und die beißende Seifenlauge verursachte heftige Schmerzen; aber sie biß die Zähne zusammen und hielt aus, und das nächste Mal war sie wieder mit dabei.

      Wenn neue Angestellte (oft männliche Verwandte) im Geschäft anzulernen waren, wurden sie meiner Mutter anvertraut. In dem arbeits- und kinderreichen Hause ging es sehr fröhlich zu. Es wurde gescherzt, gelacht und gesungen. Besonders, wenn die studierenden Brüder und Vettern zu den Ferien nach Hause kamen, und bei den großen Familienfesten, Geburtstagen und Hochzeiten, war bewegtes, lustiges Leben. Meine Mutter hat als Kind etwas Klavierspielen gelernt; später war keine Zeit mehr dazu, aber ein paar Takte des Straußschen Walzers „Wein, Weib, Gesang“ kann sie noch heute auswendig spielen. An ihrem 70. Geburtstag hat sie noch mit ihrem ältesten Enkelsohn, und das Jahr darauf bei der Hochzeit meiner Schwester Erna mit dem Bräutigam Walzer getanzt.

      Als meine Mutter meinen Vater kennen lernte, war sie 9 Jahre alt. Aus dieser Zeit stammt auch der älteste Brief von ihm. Er und seine Schwestern haben die briefliche Verbindung aufrecht erhalten. In den Briefen der späteren Jahre tauchen allmählich Anspielungen auf, die zeigen, wie sehr sie eine Verlobung wünschten. Die Familie meines Vaters hat auch nach seinem Tode stets eine große Verehrung und Anhänglichkeit für meine Mutter bewahrt. Sie war 21 Jahre, als sie heiratete. Mein Vater war damals in der Holzhandlung S. Steins Witwe in Gleiwitz tätig. Inhaberin der Firma war meine Großmutter Johanna Stein geh. Cohn. Sie war eine ebenso strenge wie zärtliche Mutter. Keins ihrer Kinder wagte ihr zu widersprechen, selbst wenn sie offenkundig irrte. Meine Mutter wurde von ihr sehr geschätzt und durfte es am ehesten wagen, einmal eine abweichende Überzeugung zu äußern. So nahm sie sich um ihren jungen Schwager Leo an, als er der Mutter die „Schande“ antun wollte, Schauspieler zu werden. Sie nahm ihn bei sich auf, als seine Mutter ihn nicht mehr im Hause dulden wollte; und da sie ihn nachts aufstehen und seine Rollen deklamieren hörte, überzeugte sie sich von der Echtheit seines Berufs und suchte zwischen ihm und der Großmutter zu vermitteln. (Er ist später als Lustspieldichter und Bühnenleiter unter dem Namen Leo Walter Stein bekannt geworden. Einige seiner Bühnenwerke — „Die Ballerina des Königs“, „Liselotte von der Pfalz“ — sind sogar ihres nationalen Gehalts wegen für würdig befunden worden, auf den deutschen Bühnen des dritten Reichs aufgeführt zu werden). Meine Großmutter war keine Geschäftsfrau, wie es meine Mutter war. Sie verließ sich auf einen Geschäftsführer, der sie betrog, und ließ sich durch niemanden überzeugen, daß er ihr Vertrauen nicht verdiente. Das bewog meine Eltern schließlich, die geschäftliche Verbindung zu lösen und Gleiwitz zu verlassen. Sie gingen in die Heimat meiner Mutter, um mit der Unterstützung ihrer Eltern ein eigenes Geschäft zu beginnen.

      Es war schon eine sechsköpfige Familie, die nach Lublinitz übersiedelte. Meine Mutter hat 11 Kinder geboren, von denen 4 im Kindesalter starben. Zu den traurigen Erinnerungen, von denen meine Mutter immer wieder sprach, gehörte eine Scharlachepidemie in Gleiwitz. (Solche Epidemien sind in Oberschlesien häufig). Die kleine Hedwig, ein besonders liebes Kind, das schon anfing, der Mutter etwas zu helfen, starb daran. Mein ältester Bruder Paul überstand die Krankheit, aber meine Mutter meint, daß er seitdem verändert war. Er war ein bildschönes, hochbegabtes und lebhaftes Kind. Später wurde er ein stiller, schüchterner, verschlossener Mensch, der sich und seine Gaben nie zur Geltung zu bringen vermochte.

      Die Jahre in Lublinitz waren ein beständiger Kampf mit wirtschaftlicher Not. Für meine stolze Mutter ist es sicher eine harte Demütigung gewesen, daß sie immer wieder die Hilfe ihrer Eltern in Anspruch nehmen mußte. Auch ein Kind, an dem sie mit besonderer Liebe hing, den kleinen Ernst, hat sie hier wieder hergeben müssen. (Die andern beiden Kinder, die ihr starben, waren so klein, daß der Schmerz des Verlustes noch nicht so groß war wie bei den schon etwas herangewachsenen).

      Meine Eltern wohnten in der sogenannten „Villa“, einem netten kleinen Haus mit großem Garten, das den Großeltern gehörte. Es machte meiner Mutter große Freude, selbst Gemüse und Obst zu bauen, und sie hatte dabei eine glückliche Hand. Sie hat damals eine Reihe von Apfelbäumchen gepflanzt, hat aber nicht mehr selbst die Früchte ernten können. Haus und Garten gingen später in den Besitz einer befreundeten Familie über. Als Feriengäste durften wir darin spielen und uns soviel Äpfel holen, wie wir wollten. Meine Mutter erzählte oft eine nette kleine Geschichte aus jener Zeit. Eine meiner Cousinen, damals ein Kind von etwa 3 oder 4 Jahren, besuchte sie, als gerade die Gurken reif waren. Sie schenkte ihr ein paar und legte sie ihr in die Schürze. Das Kind lief voller Freude nach Hause, hielt die Schürzenzipfel fest und rief schon von weitem aufgeregt: „Die Tante Gustel läßt die Gurken wachsen“. Dann breitete sie die Schürze aus und blieb entsetzt stehen: sie hatte alle Gurken unterwegs verloren.

      Bis heute macht es meiner Mutter die größte Freude, selbst zu säen und zu ernten und von der Ernte reichlich andern zu schenken. Sie hält dabei an der alten jüdischen Sitte fest, daß man die ersten Früchte von jeder Sorte nicht selbst ißt, sondern verschenkt. (Allerdings kann sie sich nicht immer entschließen, sie an wirkliche Arme zu geben, wie es eigentlich sein sollte, weil sie dabei mit der großen Liebe zu ihren Blutsverwandten, besonders zu ihren Geschwistern, in Konflikt kommt).

      In jenen Jahren starb meine Großmutter. Meine Schwester Rosa, die damals gerade geboren war, bekam ihren Namen — Adelheid — noch nachträglich hinzu. (Es ist bei Juden nicht üblich, die Kinder nach noch lebenden Angehörigen zu nennen). Drei Cousinen, die im Jahr darauf zur Welt kamen, erhielten ihn als Rufnamen.

      Weil es in Lublinitz nicht möglich war, wirtschaftlich hochzukommen, beschlossen meine Eltern, nach Breslau überzusiedeln. Es geschah wohl auch der Kinder wegen, die man sonst aus dem Hause geben mußte, um sie höhere Schulen besuchen zu lassen. Mein Bruder hatte schon in Oppeln und Kreuzberg das Gymnasium besucht und unter unverständiger Behandlung durch die Verwandten, bei denen er untergebracht war, viel gelitten. Von meinen sechs älteren Geschwistern sind drei in Gleiwitz und drei in Lublinitz geboren. Meine Schwester Erna war bei der Übersiedlung nach Breslau sechs Wochen alt (Ostern 1890). Meine Eltern bezogen eine kleine Mietwohnung in der Kohlenstraße. Das kleine Häuschen, in dem ich geboren wurde, ist jetzt längst abgerissen und ein großes, neues an seiner Stelle erbaut. Ganz in der Nähe wurde ein Lagerplatz gemietet, um ein neues Holzgeschäft zu eröffnen. Die Hauswirtin war ein zänkisches, altes Weib, das sich alle Mühe gab, meiner Mutter das Leben schwer zu machen. Schwere Nahrungssorgen kamen hinzu; das neue Geschäft war mit Schulden belastet und richtete sich nicht so schnell ein. Daß meine Mutter auch in ihrem Eheleben Schweres zu ertragen hatte, darüber hat sie nie ein Wort gesagt. Sie hat immer nur im Ton herzlicher Liebe von meinem Vater gesprochen, und wenn sie heute, nach so vielen Jahrzehnten, an seinem Grab steht, sieht man, daß der Schmerz um ihn nicht erloschen ist. Sie hat nach seinem Tode immer schwarze Kleider getragen.

      Mein Vater starb auf einer Geschäftsreise am Hitzschlage. Er hatte an einem heißen Julitage einen Wald zu besichtigen und mußte eine größere Strecke zu Fuß gehen. Ein Briefträger, der über Land ging, sah ihn von weitem liegen, nahm aber an, daß er sich zum Ausruhen hingelegt habe, und kümmerte sich nicht weiter darum. Erst als er ihn nach Stunden auf dem Rückweg noch an derselben Stelle sah, ging er hin und fand ihn tot. Meine Mutter wurde benachrichtigt und holte die Leiche nach Breslau. Der Ort, wo mein Vater starb, liegt zwischen Frauenwaldau und Goschütz. Nahe dabei ist eine Holzschneidemühle, in


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