Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Edith Stein

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Aus dem Leben einer jüdischen Familie - Edith Stein


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Lagerplatz hatten wir damals in der Rosenstraße; er grenzte an den Hof unseres Wohnhauses. Um meiner Mutter den Weg abzukürzen, ließ der Hauswirt, Herr Böse, meiner Mutter ein Pförtchen in die Mauer machen. Das ging so lange, bis Herr Böse mit der Inhaberin des Lagerplatzes in Streit geriet. Frau Olschowka war eine leidenschaftliche Polin (Viktor, der zugehörige Ehegatte, spielte eine untergeordnete Rolle). Zum Zeichen, daß zwischen den feindlichen Nachbarn jeder Verkehr abgebrochen sei, mußte das Pförtchen zugemauert werden. Die Leidtragende war meine Mutter: sie mußte nun einen ganzen Häuserblock herum von der Jägerstraße nach der parallelen Rosenstraße gehen. Aber bald verfiel Herr Böse auf einen Ausweg, um seiner Feindin ein Schnippchen zu schlagen: es wurde zu beiden Seiten eine Leiter an die Mauer gestellt, und nun kletterte meine Mutter oftmals am Tage hinüber und herüber.

      Später brachte der findige Wirt noch eine Verbesserung an. Er ließ einen Ausschnitt in die Mauer machen — es könne ihm ja niemand vorschreiben, wie hoch sie sein müsse —, sodaß nun eine Leiter mit wenigen Stufen genügte. Für uns Kinder war das Hinüberklettern natürlich ein Vergnügen. Aber für meine Mutter, die damals etwa 50 Jahre alt war, war es mühsam, besonders im Winter, wenn die Stufen glatt und vereist waren. Von den Fenstern unserer Wohnung konnte man auf den Holzplatz hinunterschauen. Ehe Erna und ich zur Schule gingen, waren wir oft stundenlang allein in der Wohnung. Wir hatten dann strenge Weisung, niemanden Fremden hereinzulassen. Wenn wir uns keinen Rat wußten, konnten wir vom Fenster aus die Mutter rufen. Wir waren sehr gewissenhaft und hätten eher noch in Gegenwart meiner Mutter als in ihrer Abwesenheit etwas Verbotenes getan. Manchmal war mein Bruder Arno vormittags zu Hause. Dann kochte er für Mama eine Mehlsuppe zum 2. Frühstück. An schönen Tagen durften wir auf dem Holzplatz spielen. Es war ein Paradies für Kinder, in den schulfreien Stunden waren nicht nur wir alle dort, sondern auch die Spielgefährten aus dem kinderreichen Haus, aus der Schule und aus der Verwandtschaft. Platz war für alle da. Meine Mutter gab die Parole aus: „Aufs Wort folgen und nicht stören! Sonst könnt ihr machen, was ihr wollt“. Das einfachste Vergnügen war, eine Wippe zu bauen. Es wurde ein Brett über einen Holzblock gelegt; je ein Kind setzte sich rittlings auf ein Ende, und dann schnellte man abwechselnd in die Höhe. Das konnte man stundenlang fortsetzen, ohne es satt zu bekommen. Herrlich konnte man Versteck spielen. Es gab viele Holzstöße, hohe und niedrige. Was unter der Witterung leiden konnte, war in Schuppen untergebracht. Manche waren mehrstöckig; es führten Treppen hinauf, und drinnen war es dämmerig, man konnte sich in einen heimlichen Winkel zurückziehen, träumen oder Geschichten erzählen. Wir durften auch Holz Zusammentragen und Häuser bauen. Manchmal wurden wir auch zum Helfen angestellt, Waggons abzuladen oder Felgen und Speichen zu regelmäßig gebauten hohen Türmen aufeinanderzuschichten. Kinder, die sich zu beschäftigen wußten, hatte meine Mutter immer gern da. Störenfriede dagegen wurden fortgeschickt. Unnachsichtig war sie gegen Angeberei. Wenn man zu ihr kam, um sich über ein anderes Kind zu beklagen, wurde einem sofort das Wort abgeschnitten: „Klatschen will ich nicht hören“. Oft wurde dann erzählt, wie es ihr Lehrer in solchen Fällen gehalten hatte. Er gab beiden Kindern eine Ohrfeige, dem einen für die Unart, dem andern fürs Klatschen.

      Ein Liebling meiner Mutter und einer der treuesten Stammgäste auf dem Holzplatz war ihr Neffe Ernst Courant. Er war nur einige Wochen jünger als ich, wurde mir aber oft zur Beaufsichtigung anvertraut. In den Schulferien mochte er lieber zu uns kommen als verreisen. Er konnte mit uns oder auch allein stundenlang spielen. Wenn wir brav waren, bekamen wir manchmal ein paar Pfennige geschenkt und durften uns beim Bäcker nebenan „Dreierkuchen“ kaufen. Beim Umgehen mit dem ungehobelten Holz jagten wir uns oft einen Span in die Finger; dann sprangen wir zu einem unserer Arbeiter und ließen ihn mit dem Taschenmesser herausholen.

      Das Verhältnis meiner Mutter zu ihren Arbeitern war ein durchaus patriarchalisches. Zu Weihnachten wurden sie mit Geld, Lebensmitteln und Kleidern für die Kinder beschenkt. Das Geld bekamen sie aber nicht bar in die Hand (damit es nicht vertrunken würde), es wurden Sparkassenbücher für sie angeschafft und die Geschenke regelmäßig eingezahlt. Jahrelang hatten wir einen jungen, besonders tüchtigen Arbeiter, den meine Mutter sehr gern leiden mochte. Er hatte schon vorher in andern Holzgeschäften gearbeitet, war den meisten Kunden bekannt und wurde von allen mit seinem Vornamen — Hermann — genannt. Er stand ganz allein und hatte niemanden, der sich um ihn kümmerte. Auch er trank gern etwas zuviel und ging immer sehr zerlumpt und abgerissen herum. Meine Mutter gab sich große Mühe, einen ordentlichen Menschen aus ihm zu machen. Er war ein bildhübscher Bursch und sah blühend und kräftig aus, war aber lungenleidend. Schließlich mußte er ins Krankenhaus gehen; er hatte lange nicht daran glauben wollen und hoffte bis zuletzt, daß er bald wieder anfangen könnte zu arbeiten. Meine Mutter besuchte ihn jeden Sonntag und nahm ihm die besten Kräftigungsmittel mit. Sie betrauerte ihn sehr, als er starb.

      Ein anderer, der mit ihm zusammengearbeitet hatte, blieb noch viele Jahre bei uns. Meißner war sehr unfreundlich und ließ sich wenig sagen. Aber er arbeitete tüchtig und meine Mutter hätte auf seine Ehrlichkeit geschworen. Darum behielt sie ihn immer wieder und war auch für ihn und seine vielen Kinder sehr besorgt. Sie ließ ihm regelmäßig durch einen Geschäftsfreund aus Polen ein besonderes Mittel gegen sein Asthma kommen. Seine erste Frau half öfters bei uns im Haushalt. Sie war sehr sauber und ordentlich, sehr auf ihre Kinder bedacht, aber nicht ganz ehrlich. Eines Tages wurde bei uns ein Bügeleisen vermißt. Meine Mutter hatte keinen Zweifel, wo es steckte, und fing es sehr schlau an, es wiederzubekommen. Sie sagte zu dem Ehemann, seine Frau hätte sich unser Bügeleisen geborgt; er solle sie doch erinnern, daß sie es wiederbrächte. Daraufhin war es bald wieder zur Stelle. Für die Kinder war es ein großes Unglück, als sie diese Mutter verloren. Der Mann heiratete bald wieder, die zweite Frau behandelte seine Kinder unmenschlich, und er wußte sie nicht dagegen zu schützen. Ein kleines Mädchen hatten wir einmal ein paar Tage bei uns im Haus, weil, es bei der Stiefmutter seines Lebens nicht mehr sicher war. Es wurde dann im Kinder-Obdach untergebracht. Seit der zweiten Verheiratung war der Mann auch im Geschäft nicht mehr zu brauchen. Sich alles Brennholz für den häuslichen Gebrauch mitzunehmen, hatte er immer als sein gutes Recht angesehen. Er hatte es offen getan und meine Mutter hatte es geschehen lassen. Als sie aber erfuhr, daß er heimlich vor und nach der Geschäftszeit für seine Rechnung aus unserm Lager Bretter verkaufte, mußte sie ihn entlassen.

      Dagegen ist sein langjähriger Arbeitsgefährte Siedel bis zu seinem Tode bei uns gewesen. Er stammte aus dem schlesischen Gebirge; ein hagerer, langer Mensch, auch lungenschwach. Er war still, fleißig und solide; nur wenn seine Frau ihn von Zeit zu Zeit antrieb, Lohnaufbesserung zu verlangen, trank er sich erst etwas Mut an und verlangte dann barsch sein Buch (zur Entlassung); da man schon wußte, was das bedeutete, kam es immer schnell zu einer gütlichen Einigung. Als wir unser Wohnhaus kauften, zog er mit seiner Familie als Hausmeister in die Giebelwohnung ein. Die Frau war sehr tüchtig in aller Hausarbeit, ihren beiden Kindern eine sehr zärtliche Mutter und eifrig bemüht, etwas „Besseres“ aus ihnen zu machen; der übrigen Welt gegenüber nahm sie ihren Vorteil energisch wahr und verfügte dazu über eine scharfe und geschwinde Zunge. Der Mann ging still wie ein guter Geist im Hause umher, um überall nach dem Rechten zu sehen. Wenn er in aller Früh aufstand, ging er mit den Schuhen in der Hand die Treppe hinunter (um niemanden, vor allem nicht seine Frau, im Schlaf zu stören) zur Heizung. Tagsüber arbeitete er wie früher auf dem Holzplatz. Er starb in unserem Hause. Die Frau rief uns zu Hilfe, als der Todeskampf kam. Mein Bruder Arno und ich gingen mit ihr (wir beide standen während des Krieges im Dienst des Roten Kreuzes); ich habe ihm die Augen zugedrückt.

      Der Holzplatz war das Reich meiner Mutter. Bis der Achtstundentag gesetzlich eingeführt wurde, war das Geschäft geöffnet, solange es Tag war. Nur zu einer kurzen Mittagspause kam sie (und kommt sie noch heute) nach Hause. Eine kleine Holzbude war, so lange das Lager auf der Rosenstraße war, das „Kontor“. Als er nach der Elbingstraße auch noch auf einen gemieteten Platz verlegt wurde, kaufte man ein etwas größeres, transportables Holzhäuschen. Schließlich konnte es meine Mutter wagen, einen großen eigenen Lagerplatz, der ihr angeboten wurde, zu kaufen. Dort wurden ein fester, gemauerter Schuppen und anschließend ein Kontor gebaut. Einen großen Teil des Tages war meine Mutter aber immer im Freien. Sie ging mit den Kunden umher, um die gewünschten Waren auszusuchen, vermaß und berechnete, was ausgesucht war; sie war zugegen und legte mit Hand an, wenn Wagen ausgeladen und die neuen Sendungen ein geräumt wurden; und wenn ein Handwagen mit Brettern — von einem


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