Sieben Leben. Stefan Kuntze

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Sieben Leben - Stefan Kuntze


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sich der Wirkung dieser Aufführung nicht entziehen, in der fünf Chöre, das Orchester des Frankfurter Opernhauses und zahlreiche Tänzer den Kampf der Menschenmassen mit dem Mammon und seinem Werkzeug, der Maschine, darstellten. Im zweiten Teil – mit dem Titel Golgatha – wurde vorgeführt, dass die Herrschaft der Maschine und ihrer Besitzer, der Mammonisten, unweigerlich zu Elend und Tod führen muss. Aus der Erfahrung des Krieges wurde sogar der Tod durch Giftgas thematisiert. Im dritten Teil besannen sich die Proleten und standen miteinander auf. Die Maschinenwelt brach zusammen. Der Sozialismus wurde errichtet.

      Für Bruno und Karl lag die Botschaft des Werkes klar und nachvollziehbar auf der Hand: Kapitalismus führt zu Diktatur und Krieg! Der Sozialismus muss auf den Trümmern der alten Welt aufgebaut werden! Dafür mussten sie arbeiten. Das so wortreich und theatralisch beschriebene Elend der Arbeiter war in Gestalt des anwachsenden Heeres der Arbeitslosen, die kaum genug zum Leben hatten, täglich auf den Straßen zu sehen.

      Marianne fühlte sich als Teil der Menschenmenge in der riesigen Halle nicht wirklich wohl. Die Massen als politischer Begriff und als Subjekt der dringend notwendigen Revolution lagen ihr zwar am Herzen, aber nicht die realen Massen in Hallen, auf Plätzen oder in Stadien. Oft hatte sie zur Kenntnis nehmen müssen, dass Massen auf den Straßen Ausgangspunkt körperlicher Gewalt waren, die sie zutiefst verabscheute.

      Der preußische Innenminister hatte sich aus verfassungsrechtlichen Gründen Ende März gezwungen gesehen, das generelle Verbot von Versammlungen und Umzügen unter freiem Himmel aufzuheben. Das führte umgehend zum Wiederaufflammen der Straßenkämpfe. Die dabei zutage tretende Zunahme der organisierten Gewalt der SA-Schlägertrupps nahm die preußische Regierung Ende Mai 1930 zum Anlass, ein generelles Uniformverbot zu verhängen. Das bezog sich in der Realität vor allem auf die Nazis, die mit ihren braunen Hemden, den einheitlichen Schirmmützen, den Reitstiefeln und ihrem Emblem mit dem stilisierten Blitz den Eindruck einer einheitlichen Truppe vermittelten. Diese Verkleidung entsprach ihrem Anspruch, anstelle der Reichswehr der bewaffnete Arm der Bewegung zu sein. Außerdem fühlte man sich in der Gruppe Gleichgesinnter und Gleichgekleideter stark.

      Schon am 16. Juni demonstrierte die SA auf dem Börsenplatz gegen dieses Uniformverbot und die grimmig blickenden Männer wirkten in ihren weißen Hemden und dunklen Hosen nicht weniger bedrohlich und kaum weniger uniformiert als vorher.

      Die SA hatte außerdem mit Unterstützung durch kapitalkräftige Kreise Fahrzeuge anschaffen können. Bereits 1928 wurden die motorisierten Abteilungen der SA zu einem Teil der Propagandamaschine der NSDAP. Im April 1930 war das Nationalsozialistische Automobilkorps entstanden, das dem Obersten SA-Führer unterstellt war. Die Mitglieder stellten ihre Fahrzeuge freiwillig zur Verfügung. Sie fuhren in diesem Jahr häufig mit Dutzenden von Uniformierten auf offenen Pritschen von Lastwagen – manchmal sogar mit Anhänger – laut johlend durch Frankfurt. Das taten sie nach dem von ihnen verspotteten Uniformverbot erst recht, da sie sich darauf beriefen, diese Fahrten seien keine von der Verbotsverordnung erfassten Demonstrationszüge. Eine Entscheidung des bereits seit 1875 bestehenden hessischen Verwaltungsgerichtshofs in Darmstadt hierzu gab es nicht.

      Geholfen hat die polizeiliche Maßnahme ohnehin nichts, da die Männer der SA ab deren Inkrafttreten einheitlich weiße Hemden trugen. Sie beugten sich damit – wenn auch zähneknirschend – der von der Parteiführung seit Neuestem propagierten Legalitätspolitik. Schließlich wollte die NSDAP bis in bürgerliche Kreise hinein anerkannt und gewählt werden.

      Für Adolf Hitler und seinen Schmusekurs mit den bürgerlichen Wählern war die SA im Reich und vor allem in Berlin in dieser Zeit zu einem Problem geworden. Sie war formal eine unabhängige Organisation und strebte eine Machtübernahme durch Gewalt an, weshalb sie den Legalitätskurs Hitlers ablehnte.

      Im August 1930 forderte der Oberste SA-Führer (OSAF) Pfeffer von Hitler, führende Leute der SA auf der Reichstagswahlliste zu platzieren. Als dies verweigert wurde, trat er zurück. Daraufhin ließ sein Stellvertreter Ost in Berlin, Walter Stennes, die Gaugeschäftsführung in Berlin besetzen. Auch in Bayern kam es zu Besetzungen von Parteibüros. Hitler sah sich gezwungen, die Hauptstadt der Bewegung, München, zu verlassen und nach Berlin zu kommen. Am 2. September übernahm er selbst die Führung der SA.

      Trotz der Ereignisse in Frankfurt hatten sich Karl und Bruno nicht entschließen können, dem Reichsbanner beizutreten. Es war es ihnen ein wenig unangenehm, als sie die eindringliche Aufforderung hierzu im Programmheft der Aufführung von „Kreuzzug der Maschine“ im Mai gelesen hatten und ihr nicht Folge leisten wollten: „Du Parteigenosse, Gewerkschaftskollege kennst die heutige politische Situation, in der wir uns befinden. Nationalsozialisten, Kommunisten und wie sie alle heißen, versuchen, deine Organisation zu zerschlagen. Deshalb mußt Du auch der Organisation angehören, die den Schutz des heutigen Saales übernommen hat, die gemeinsam mit der Partei und den freien Gewerkschaften die Abwehrfront gegen den Ansturm der Reaktion bildet. Pflicht jedes Organisierten ist es deshalb Mitglied des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold zu werden. Anmeldung: Frankfurt am Main, Battonnstraße 4-8 II.“

      Karl hasste und fürchtete körperliche Gewalt. Außerdem begann jetzt die Endphase des Studiums und er würde keine übrige Zeit für Treffen und Übungen haben. Mit dem letzten Argument wollte er seine Haltung begründen, sollte er darauf angesprochen werden. Aber tatsächlich war dies nie der Fall, da die SPD-Genossen mit den Studenten in ihren Reihen immer noch etwas fremdelten.

      ***

      Pädagogik und Politik

      Im zweiten Studienjahr fand die Exkursion der Frankfurter Akademie zu pädagogischen Pilgerstätten statt. Die Akademie bot zu Beginn der Sommerferien im August 1930 eine Studienfahrt an, die interessierte Lehramtsstudenten nach Wickersdorf in Thüringen und in die Walkemühle in Nordhessen führen sollte. Karl und die drei anderen nahmen daran teil. Der Begriff Landschulheim, der Bildungsreform und Naturverbundenheit assoziieren ließ, hatte sie neugierig gemacht.

      Seit Beginn des 20. Jahrhunderts waren solche Einrichtungen in großer Zahl gegründet worden. Gemeinsam war ihnen das umfassende Zusammenleben von Lehrenden und Lernenden sowie die Platzierung weitab von Städten, möglichst mitten in der Natur.

      Von der Walkemühle aus war die Gruppe nach dem Abschluss des Besuchs über die weitläufigen Felder und Wiesen des Pfieffe-Tals vorbei an dem Dorf Adelshausen bis zur Fulda gelaufen, deren Verlauf sie in nördlicher Richtung entlang dem großem östlichem Bogen bis zum Bahnhof Melsungen gefolgt waren. Der Zug wurde in etwa einer halben Stunde dort erwartet.

      Vor der Abfahrt fasste der Erziehungswissenschaftler der Akademie, der damals noch in der liberalen Reformtradition stehende Ernst Krieck, das Ergebnis ihrer Exkursion mit knappen Worten zusammen. Er stand mit seiner Studentengruppe auf den knarrenden Holzbohlen des Wartesaals, in dem eine Mischung aus kaltem Zigarettenrauch und altem Bohnerwachs die Nasen reizte, und rekapitulierte die Ergebnisse des Besuchs in der Walkemühle.

      „Ihnen ist sicher aufgefallen, dass Minna Specht, die Leiterin, vom ‚Leben in autoritätslosen Gemeinschaften‘ gesprochen hat. Das ist ein ganz entscheidender Punkt! Die moderne Erziehung besteht nämlich nicht in einer wie immer angelegten planmäßigen Einwirkung der Älteren auf die Jugend. Das ist Vergangenheit aus verknöcherter Zeit. Heute wissen wir, dass Erziehung in der Gemeinschaft gewissermaßen von selbst geschieht.“

      „Wozu studieren wir dann überhaupt Pädagogik?“

      Die Frage war der Kommilitonin Hanna spontan und lauter als beabsichtigt herausgerutscht. Jetzt blickte sie ängstlich zum Professor.

      „Das ist eine sehr gute Frage. Lachen Sie nicht über ihre Kollegin.“

      Karl warf Hanna einen Blick zu, der zwischen Erstaunen und Herablassung changierte.

      „Was meinen Sie, Herr Kuntze?“

      Krieck sprach lauter als vorher. Karl zuckte zusammen. Richtig verstanden hatte er das in den Vorlesungen ausgebreitete Erziehungsmodell des Dozenten zwar nicht, aber ein Aspekt war hängen geblieben.

      „Es gibt mehrere Schichten“, fing er an.

      „Ganz


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