Sieben Leben. Stefan Kuntze
Читать онлайн книгу.jetzt begann trotz allem die entscheidende Phase der Prüfungsvorbereitung. Karl hatte durch seine Liebesgeschichte und die politische Arbeit so viel Zeit verloren, dass er sich keine Nebenwege mehr erlauben konnte.
Am 16. November bot sich wieder eine Gelegenheit zum Besuch der Festhalle auf dem Messegelände. Die drei anderen holten ihn aus seinen Prüfungsvorbereitungen und schleppten ihn zu dem Ereignis mit. Das Kulturkartell veranstaltete mit 700 Sängern und 100 Instrumentalisten einen Beethovenabend. Unter den brausenden Klängen der ‚Ode an die Freude‘ wurde eine Begeisterung für diesen Komponisten geweckt, die Karl sein Leben lang erfüllte und ihm im April 1943 in Tunesien eine denkwürdige Begegnung mit einem englischen Offizier bescherte.
Kurz vor Weihnachten bat Marianne, sie zu Einkäufen in die Innenstadt zu begleiten. Sie wollte die erst im April eröffnete Filiale des Kaufhauses Woolworth besuchen und Karl sollte ihr bei der Auswahl eines Schals für ihren Vater helfen. Sie rechnete dabei nicht so sehr auf seinen Geschmack in Kleiderfragen, sondern wollte ihn gewissermaßen als Kleiderpuppe nutzen, um zu sehen, wie das ausgesuchte Stück sich an einem Männerhals machte.
Schon von weitem konnten sie erkennen, dass auf dem Schillerplatz, ganz nah bei dem Denkmal des Dichters, ein Weihnachtsbaum aufgestellt war, der mit hellen Flecken übersät war. Als sie näher kamen, hörten sie lautes Gelächter und Rufen. An der reichlich krumm gewachsenen Fichte hingen als Schmuck handbeschriebene weiße Zettel.
‚Brüning ist der Tod des Arbeiters‘ oder ‚Hitler und Brüning: zwei Seiten der Medaille des Kapitals‘ und ähnliche Parolen waren da zu lesen. Einer der Umstehenden rezitierte die Texte unter dem Gejohle der etwa dreißig Versammelten. Karl erkannte einige von ihnen als Mitglieder der örtlichen KPD.
Von der anderen Seite des Platzes näherte sich ein Trupp Braunhemden im Gleichschritt. Ein Träger mit blutroter Hakenkreuzfahne begleitete den Zug. Karl zog Marianne rasch von der Gruppe der Kommunisten weg. Unter dem Ruf: ‚Tod den Bolschewisten‘ und ‚Deutschland erwache!“ stürmten die SA-Männer auf die kleine Versammlung zu und ehe Zeit zum Überlegen war, kippten sie den Baum aufs Pflaster und zertrampelten ihn mitsamt seinem Schmuck mit ihren Stiefeln. Zum Glück hatte die Frankfurter Polizei mit einem Angriff gerechnet. Sie war mit genügend Beamten umgehend auf dem Platz und konnte die beiden Gruppen trennen, bevor es zu einer der gefürchteten Schlägereien kam.
Am Vorabend von Mariannes 21. Geburtstag, der am 16. Dezember mit den drei Freunden gefeiert werden sollte, erließ der Frankfurter Polizeipräsident wegen der zunehmenden Straßenschlachten ein neuerliches Verbot sämtlicher Umzüge, Demonstrationen und Versammlungen. Es wurde noch am selben Tag durch Auflösung einer Versammlung der Nationalsozialisten im Zoologischen Garten angewendet.
Karl verließ in diesen Tagen Frankfurt mit einer gewissen Bange, was das baldige Examen und sein Verhältnis zu Marianne betraf, freute sich aber auf Eltern und Bruder.
Eine Prüfung
Auf der Reise von Schivelbein, wo Karl mit seinen Eltern das neue Jahr begrüßt hatte, nach Frankfurt legte er einen Zwischenhalt in Berlin ein. Er fand seinen Onkel in düsterer Stimmung.
„Karlchen, schön, dich zu sehen.“
„Guten Tag, was ist mit dir? Du siehst unglücklich aus.“
„Es hat nicht geklappt. Dabei waren wir kurz vor dem Durchbruch.“
„Wovon sprichst du?“
„Mensch, Karlchen, die Revolution wäre möglich gewesen, wenn nicht …“
„Wenn nicht was?“
„Ja, habt ihr denn in Frankfurt gar nichts mitgekriegt?“
Karl bekam ein schlechtes Gewissen. Schließlich hatte er sich im letzten Jahr mehr mit seinem Privatleben als mit Politik beschäftigt. Er ärgerte sich, dass offenbar ein wichtiges Ereignis an ihm vorübergegangen war, wollte das aber nicht zugeben. So hoffte er auf das Mitteilungsbedürfnis des Onkels und wurde nicht enttäuscht.
„Über 130 tausend Proletarier waren auf den Straßen. Die Fabriken standen still. Es fehlte nur ein letzter Stoß und wir hätten die ganze Metallindustrie übernommen.“
„Wie bitte? Wir? Was?“
Jetzt war es doch herausgerutscht und der Onkel würde ihn durchschauen.
„Der Streik im Oktober, mein Lieber.“
Karl Schröder sprach von dem Metallarbeiterstreik, der Berlin für eine Woche in Atem gehalten hatte. Die Regierung Brüning hatte unmittelbar nach der Wahl per Notverordnung eine Lohnsenkung beschlossen und durch eine Zwangsschlichtung bestätigen lassen. Kurzfristig sah es so aus, als würden die Gewerkschaften und die SPD die Lage beherrschen. Die Beteiligung an dem Streik war zunächst riesig groß. Die KPD benützte die Situation, um ihre neu geschaffene Rote Gewerkschaftsopposition in Stellung zu bringen und bekämpfte die sozialdemokratischen Funktionäre der Gewerkschaft als Arbeiterverräter und Sozialfaschisten.
Schröder muss seit Kurzem an seinem neuen Roman gearbeitet haben, der erst zwei Jahre später unter dem Titel „Klasse im Kampf“ erscheinen sollte. Darin schildert er Ereignisse dieses Streiks und beklagt die Uneinigkeit der Arbeiterklasse, die auf mangelnder Einsicht und Bildung beruhe. So könne, heißt es darin, der Faschismus nicht verhindert werden. Es sei eine historische Chance vertan worden, und jetzt müsse man ganz von vorne anfangen.
Von diesen trüben Gedanken erfüllt, gab er seinem Neffen den Rat mit auf den Weg, dass er sein Studium rasch beenden solle, um an der notwendigen Bildung der Proletarier mitwirken zu können.
„Nur ein bewusstes Proletariat kann Träger der Revolution sein, Karlchen, das musst du immer im Kopf behalten! Wir müssen das geistige Rüstzeug dafür stellen!“
Der Januar 1931 wartete mit kaltem und stürmischem Wetter auf. Nach seiner Rückkehr an die Akademie musste Karl alsbald feststellen, dass der unbewältigte Teil des Lernstoffs sich als umfangreicher erwies, als er gehofft hatte. Es blieb nichts anderes übrig, als „auf Lücke zu setzen“. Da ihm die sprachlichen Fächer, der Sport und auch die Sachkunde am besten lagen, beschloss er, im Rechnen nicht alle Gebiete zu erarbeiten. Die Didaktik der Grundrechenarten verinnerlichte er und das Lieblingsgebiet des Professors. Er hoffte, das werde genügen. So verbrachte er die nächsten Wochen am Schreibtisch und in der Bibliothek. Eigentlich fühlte er sich gut gewappnet, als die Prüfungsphase begann. Im März war es soweit.
Die Prüfungskommission erwartete ihn in dem Eckzimmer neben dem ehemaligen Rektorat. Er klopfte und öffnete die Tür. In den Strahlen der Vormittagssonne, die durch die beiden kleinen Fenster in den halbdunklen Raum drangen, bewegten sich Staubwolken in feierlichem Rhythmus, als tanzten sie langsamen Walzer. Außer dem Mathematikprofessor und dem Geographiedozenten, der Protokoll führen sollte, saß im Hintergrund ein Herr im schwarzen Anzug. Der Kragen seines gestärkten Hemdes kam direkt aus dem letzten Jahrhundert. Er beugte sich über einen Aktenordner und beachtete den Eintretenden nicht.
Karl konzentrierte sich auf den Professor, den er als etwas unsicheren, aber äußerst freundlichen Lehrer in den letzten zwei Jahren erlebt hatte.
„Herr Kuntze, guten Morgen! Bitte nehmen Sie doch Platz.“ Der Fremde wurde ihm nicht vorgestellt.
„Guten Tag.“ Karl setzte sich an den abgewetzten, dunklen Tisch und hoffte inständig auf die richtigen Themen. Neben den Grundrechenarten waren vor allem Fragen aus dem Gebiet der erst 1928 von Erich Kranke vorgestellten pragmatischen Mengenlehre genehm. Dieses Lieblingsgebiet des Frankfurter Mathematikers hatte er gepaukt. Die Einzelheiten des Grundlagenstreits in der Mathematik, der unter den Hochschullehrern ausgetragen wurde und sogar zu persönlichen Anfeindungen geführt hatte, waren ihm zwar ein Rätsel geblieben, aber die anschaulichen Anwendungsbeispiele der Mengenlehre hatten ihn fasziniert.
Sein Prüfer räusperte sich und sah ihm in die Augen. Eine gewisse Unsicherheit in seinem Blick war nicht zu übersehen, was Karl irritierte.
„Herr Kuntze, stellen Sie sich vor, Sie stehen vor einer vierten