Sieben Leben. Stefan Kuntze

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Sieben Leben - Stefan Kuntze


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mein lieber Neffe, kann man dich nun auf die Menschheit loslassen, Du Herr Lehrer? Komm her und lass dich umarmen!“

      Er drückte ihn heftig und klopfte väterlich seinen Rücken. Als sie zwei Stühle freigeräumt und sich gesetzt hatten, langte er seine Pfeife vom Fensterbrett und begann, sie zu stopfen.

      Karl Schröder, der Sohn des Patriarchen Richard, hatte es bedauert, keinen Sohn gezeugt zu haben. Dies war mit Grund dafür, dass er sich intensiv um seinen Neffen kümmerte. Schröder war ein Spross des 19. Jahrhunderts, und in seiner Familie wurden den Mädchen wie selbstverständlich nicht die gleichen Bildungschancen eingeräumt wie ihm, dem einzigen Sohn. Er hatte studieren dürfen, die zwei Schwestern nicht. Irgendwie muss er diese Einstellung verinnerlicht haben, denn auch seine drei Töchter erhielten keine Unterstützung bei ihren Studienwünschen.

      Karl genoss die Aufmerksamkeit dieses Onkels sehr, der so viel mehr zu vermitteln hatte als sein eher schlichter Vater. Schröder verkörperte für ihn seit den Berliner Schülerjahren eine intellektuelle Herausforderung und ein Vorbild an Klarheit.

      „Ich habe sogar eine Stelle in der Karl-Marx-Schule.“

      „Na, wenn das kein gutes Vorzeichen ist.“

      Über den Jan Beek und seinen Anschlag auf den Lokomotivführer Wal Kuntze mochte Karl nicht sprechen. Er hätte nicht gewusst, wie er seine persönliche Betroffenheit in eine sachliche Kritik hätte verpacken können. Das spielte aber keine Rolle, da der Onkel angesichts der Zuspitzung der politischen Situation andere Dinge im Kopf hatte als seine literarischen Reminiszenzen an den Generalstreik von 1920. Er setzte die Pfeife in Gang und begann anschließend zu dozieren.

      „Jetzt muss ich dich aber gleich auf das Laufende bringen. Die politische Arbeit duldet keinen Aufschub. Pass einmal auf!“

      In den Kreisen der Sozialwissenschaftlichen Vereinigung hatte sich seit der Abreise Karls einiges verändert. Schröder und die anderen führenden Köpfe und KAPD-Aktivisten Reichenbach und Schwab hatten bereits 1929 erkannt, dass der Kapitalismus und die bürgerliche Republik sich in einer entscheidenden Krise befanden. Gleichzeitig war ihnen klar, dass die Arbeiterklasse in ihrer derzeitigen Zersplitterung diese Krise nicht für die eigentlich fällige Revolution nutzen konnte.

      Für sie stand fest, dass ein diktatorisches Regime der immer stärker werdenden Nationalsozialisten zu erwarten war und dass dieses keine kurzfristige und sich gewissermaßen von selbst erledigende Angelegenheit werden würde. Dazu genossen die Nazis zu starke Unterstützung durch das Großkapital. Man werde sich auf eine lange Phase der Illegalität einrichten müssen. Hierzu hatten sie akribische Vorbereitungen getroffen.

      Der zweiundzwanzigjährige Karl kam in dieser Situation nicht dazu, viel aus dem eigenen Leben zu erzählen, da der Onkel ihm nach der Begrüßung sofort ein Manuskript in die Hand drückte und erklärte, was zu tun sei. Er zitierte hierbei bewusst Lenins bekannte Schrift von 1902, denn schließlich ging es auch ihm um die Bildung einer Organisation der Avantgarde, die die Geschichte vorantreibt.

      „Also Karlchen, jetzt hör einmal zu! Was tun? Die Zeiten haben sich geändert. Mit Arthur Goldstein und Peter Utzelmann habe ich im letzten Jahr einmal zusammengefasst, worauf es heute ankommt.“

      Auf zwei hektographierten Blättern war die Überschrift zu lesen: „Grundlinien für Gruppenarbeit“. Weiter kam er nicht, denn der Onkel fuhr fort:

      „Wir müssen einen konspirativen Kern von Menschen bilden, die die Idee des Sozialismus bewahren und weitertragen, bis wieder Zeiten anbrechen, in denen an ihre Umsetzung gegangen werden kann. Dazu müssen wir im ganzen Reich kleine Gruppen bilden.“

      „Ja, aber die Proletarier, was ist mit denen?“

      Karl war selber überrascht, als er diese Frage gestellt hatte. Sie lag aber durchaus nahe. Nach den in vielen Vorträgen verinnerlichten theoretischen Grundlagen bedurfte es für die Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft einer revolutionären Situation und eines Subjekts, diese Situation zu nutzen: das waren die Arbeiter! Ohne die Massen des Proletariats war eine Revolution undenkbar! Dieser Satz gehörte zur Grundüberzeugung der Rätekommunisten, gewissermaßen zu ihrem Glaubensbekenntnis.

      „Daran haben wir natürlich gedacht, was glaubst du denn? Hier lies!“

      Die Passage, auf die Schröder hinwies, lautet: „Die Gruppen bezwecken die kollektive Zusammenfassung von aktiven, in unserem Sinne oppositionellen Genossen. Unter aktiven Genossen sind in erster Linie solche zu verstehen, die bereits als Einzelne den oppositionellen Kampf innerhalb ihrer Organisation geführt haben und noch führen. Jede Gruppe braucht, abgesehen von unserem Vertrauensmann, wenigstens einen solchen Genossen, um sich ihre Aufgaben stets klar zu stellen. Ihre politische Bedeutung nimmt allein zu mit der Anzahl der aktiven Genossen.“

      „Wer, meinst du wohl, sind diese aktiven Genossen?“ Schröder sah seinen Neffen streng an.

      „Na ja, ich denke, das sind wir und die anderen von der SWV.“

      „Nein, wir stellen die Vertrauensmänner, die den Kern einer revolutionären Organisation bilden. Das ist der Punkt! Wir wollen aber keine Verintellektualisierung der Organisation, sondern werden arbeitende und arbeitslose Proletarier einbeziehen. Die sind mit den aktiven Genossen gemeint. So wird ein Schuh daraus!“

      „Aha … und wie sollen die Gruppen heißen?“

      „Das wissen wir noch nicht und das ist auch nicht das Wichtigste.“

      Karl hatte ein Thema angesprochen, das nicht leicht zu durchdringen war. Es gab nämlich keinen Gründungsparteitag oder ähnliches und auch keine Abstimmung über Namen und Ziele. Irgendwie war die Organisation auf einmal da! Was Karl allerdings nach dieser Begegnung verstanden hatte, war, dass es den großen Denkern nicht um die Gründung einer Partei im traditionellen Sinn ging. Diese Erkenntnis war nicht neu, da man in seinen Berliner Jahren von 1927 bis 1929 immer von der Notwendigkeit einer Machtübernahme in den Betrieben durch Arbeiterräte gesprochen hatte. Der von der SPD unterstützte Parlamentarismus, an dem sich auch die von Moskau ferngesteuerte KPD beteiligte, war ein Machtinstrument der bürgerlichen Klasse zur Verteidigung der kapitalistischen Wirtschaftsordnung. Soviel hatte er begriffen.

      Aber jetzt ging es offenbar nicht mehr um die Revolution, jedenfalls nicht heute oder morgen. Sie hatten den Plan einer revolutionären Umwälzung aufgegeben oder zumindest auf Eis gelegt. Es ging ums Überleben der Menschen und der Idee! War die Situation tatsächlich so schlimm? Irgendwie hatte er in der Frankfurter Zeit etwas versäumt oder vielleicht nur nicht aufgepasst.

      Die ersten Treffen der neuen und geheimen Berliner Gruppe, die er nach seiner Rückkehr besuchte, fanden in Hinterzimmern von Eckkneipen oder anderen Lokalen statt und waren alles andere als Massenveranstaltungen. Außer Peter Utzelmann und Ernst Fröbel, der als Schneider arbeitete und seit kurzem mit Schröders Tochter Ulla verbunden war, hatte er keine Menschen aus der Arbeitswelt gesehen, die man als Proletarier hätte bezeichnen können.

      Irgendetwas ist ihm damals aufgestoßen. Karl hat im Alter bei Gesprächen über die politische Tätigkeit in den Dreißigerjahren zum Ausdruck gebracht, dass das Konzept der Gruppe in gewisser Weise utopistisch gewesen sei und eigentlich nie eine Chance zur Verwirklichung der Grundidee bestanden habe. Damals war er jedoch begeistert.

      In den Vortragsveranstaltungen der Sozialwissenschaftlichen Vereinigung, die sich weiterhin an Jungsozialisten, Sozialistische Arbeiterjugend und andere linke SPD-Mitglieder wandten, traf er viele junge Leute aus der Gewerkschaft und von den Universitäten, die mit der revisionistischen Politik der SPD und insbesondere der Tolerierung des Brüning‘schen Regierens durch Notverordnungen unzufrieden waren. Dennoch galt für alle Teilnehmer, dass man die größte, nicht von der Sowjetunion gegängelte Organisation der Arbeiterklasse, die SPD, nicht rechts liegen lassen könne und deshalb in ihr aktiv sein müsse.

      Die durch Stimmenthaltung der SPD im Reichstag am 20. März tolerierte Bewilligung einer ersten Rate für den Bau eines weiteren Panzerkreuzers löste bei den jungen Aktiven Wut und Verbitterung aus. Die Diskussionen in der SWV wurden hitziger, und man erlebte heftige verbale Angriffe gegen die Parteiführung.

      „Die


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