Sieben Leben. Stefan Kuntze
Читать онлайн книгу.aber danach hätte ich Zeit.“
Er schlug ihr einen gemeinsamen Spaziergang am Nachmittag vor. Bis zu dem Treffen am Brandenburger Tor war er nervös wie schon lange nicht mehr. Das Palaver der Kollegen schien kein Ende zu nehmen, und als er endlich fliehen konnte, musste er sich beeilen. Mit der U-Bahn fuhr er vom Rathaus Neukölln bis Friedrichstadt und hatte Glück, dass der Anschluss Richtung Ruhleben gut klappte. Vom Potsdamer Platz rannte er bis zum Treffpunkt.
Jetzt waren sie im Tiergarten unterwegs und setzten sich auf eine Bank in dem Rondell oberhalb des Gewässers mit der künstlichen Rousseauinsel. Er hatte bislang nicht gewagt, den Arm um sie zu legen.
„Bist du eigentlich noch in der SPD?“ Sie hatte kaum gelächelt, als er erzählte, dass die Geschichte „Mit dem kalten Schlittschuh in der Hand“ hier an diesem Gewässer spielte.
„Ja, aber sag einmal, wie geht es dir eigentlich? Hast du eine gute Stelle und was macht deine Freundin Thea?“
Sie schien es gar nicht gehört zu haben.
„So kann es doch nicht weitergehen. Über 5 Millionen Arbeitslose kommen kaum über die Runden und sogar kleine Geschäfte werden reihenweise geschlossen. Der Goebbels brüllt in den Sälen und auf den Straßen muss man Angst haben vor den Schlägertrupps der SA. Die Regierung schmeißt Geld raus für Schlachtschiffe und deine SPD macht nichts! So sieht es aus. Wenigstens hat der Seydewitz dagegen gestimmt.“
Es gelang ihm nicht, das Gespräch in die gewünschte Richtung zu lenken. Er konzentrierte sich und holte tief Luft.
„Ja, ich bin noch in der SPD, aber wir Jungen haben inzwischen unsere eigene Organisation, die die Partei wieder auf den richtigen Weg bringen wird.“
„Und was wäre der richtige Weg?“ Diesen spöttischen Ton kannte er noch gut, ließ sich aber nicht beirren.
„Marianne, es ist doch klar, dass wir in einer historischen Situation in Deutschland leben. Wir erleben gerade die Todeskrise des Kapitalismus.“
Er hatte diesen Begriff erst vor wenigen Tagen bei einem Auftritt seines Onkels gehört.
„So sieht es aber gar nicht aus, wenn ich sehe, wie die Nazis immer stärker werden. Den Bossen scheint das ganz recht zu sein.“
„Das ist es doch! Die Nazis sind die Knechte des Großkapitals. Die schicken sie nach vorne, um den Parlamentarismus abzuschaffen. Danach wollen sie ihre Ausbeuterherrschaft noch ungehinderter ausüben.“
„Hoho, das sind ja starke Worte. Wer sagt denn so etwas?“
Er ließ den Blick kurz in die Umgebung schweifen und als er keinen Menschen bemerkte, setzte er sich aufrecht und sah ihr gerade ins Gesicht.
„Die Roten Kämpfer sagen das.“
„Wer ist das denn?“
„Ich habe dir doch von meinem Onkel, dem Karl Schröder, erzählt.“
„Ja, der war doch beim Spartakusbund.“
„Das ist ewig her. Später war er in der KAPD, aber jetzt hat er zusammen mit Bernhard Reichenbach und Alexander Schwab die Roten Kämpfer gegründet.“
„Von denen habe ich noch nie gehört.“
„Das ist auch richtig so. Wir sind nämlich eine Geheimorganisation.“
„Das ist aber interessant. Was ist denn euer Ziel?“
„Wir lehnen den Parlamentarismus ab, weil er ein Herrschaftsinstrument der Bourgeoisie ist. Es gilt, die Macht in den Betrieben zu übernehmen und landesweit eine Räteregierung zu bilden. Das geht nur über eine echte Revolution.“
„Das sagt die KPD auch. Ich dachte übrigens, für eine Revolution braucht es die Massen des Proletariats. Habt ihr die hinter euch?“
Er war sich nicht sicher, ob in der Frage wieder dieser spöttische Unterton mitschwang.
„Natürlich geht es nicht ohne die Arbeiter, aber so lange die in der SPD bei der Aufrechterhaltung der Herrschaft des Kapitals mitmachen oder in der KPD nach Stalins Pfeife tanzen, müssen wir die Besten und Fähigsten zusammenbringen, um eine wahrhaft revolutionäre Organisation zu schaffen.“
Sie sah ihn mit einem merkwürdigen Ausdruck an.
„Ich muss jetzt leider gehen, aber was du da sagst, klingt interessant. Du muss mir mehr davon erzählen.
Karl lehnte sich vorsichtig zurück. Es würde ein weiteres Zusammentreffen geben. Vielleicht wurde etwas aus dieser Beziehung. Der Abschied auf dem U-Bahnsteig war für seinen Geschmack viel zu kühl, aber er wanderte zufrieden zurück.
Wenige Wochen später, an einem frischen Apriltag, stand Karl also in der Friedrichstraße. Eine kalte Nachmittagssonne beschien die Rücken der Menschen, die sich vor dem Geschäft drängten. Er zögerte. Es war ihm peinlich, vom Elend anderer zu profitieren, aber er hätte sich sonst keinen solchen Luxusartikel leisten können.
Vorsichtig zwängte er sich durch den Pulk von Mantel- und Hutträgern, der sich vor dem Eingang gebildet hatte, über dem ein riesiges Transparent hing, das auf die heutige Auktion hinwies: „22.000 Mk Miete ist unerschwinglich deshalb Total-Auflösungs-Ausverkauf!! Die ausgezeichneten Preise haben keine Gültigkeit mehr. Wir akzeptieren jedes nur mögliche Angebot!!“
Zehn Minuten später verließ er das Geschäft. Seine rechte Hand versicherte sich alle paar Minuten in der Manteltasche, dass das kleine Säckchen noch da war. Einen Bernsteinanhänger in Tropfenform hatte er erwerben können und hoffte inständig, er würde ihr gefallen. Er stellte sich vor, wie gut er zu ihren graugrünen Augen passen würde und konnte das vereinbarte zweite Rendezvous kaum erwarten.
Sie hatte vorgeschlagen, gemeinsam das Pergamonmuseum zu besuchen. Bereits eine halbe Stunde vor der vereinbarten Zeit lehnte er an der Mauer zur Spree vor dem bombastischen Mittelteil des U-förmig angeordneten Museumsgebäudes, das mit den kahlen, hohen Außenwänden an einen Hochbunker erinnerte.
Gerne hätte er mit ihr hier draußen eine Zeit lang gesessen, aber sie wollte sofort hineingehen, als sie endlich mit gebührender Verspätung aufgetaucht war. Staunend wandelten sie durch die riesige Prachtstraße mit den glänzenden blauen Kacheln und den goldenen Drachen auf das Ischtar-Tor von Babylon zu.
Als sie im nächsten Saal auf den Stufen des Pergamonaltars standen, gelang es ihm, das Päckchen aus seiner Tasche zu ziehen und ihr mit feierlicher Miene zu überreichen.
„Was ist das denn?“
„Ein kleines Geschenk zur Erinnerung an die Studentenzeit.“
„Karl, das sollst du doch nicht.“
Er errötete und wandte sich ab, während sie das Band um die Schachtel löste, das Säckchen öffnete und die Kette herausnahm.
„Oh, der ist aber schön! Du hast dich daran erinnert, dass ich Bernstein liebe. Du bist ein ganz Aufmerksamer!“
Jetzt war die Röte in seinem Gesicht nicht mehr zu übersehen, aber das war ihm egal und wenn sich nicht so viele Menschen um sie herum auf den Tempeltreppen aufgehalten hätten, hätte er sie geküsst. Sie legte sich die Kette um den Hals und ließ es geschehen, dass er ihren Nacken streichelte, während er an dem Verschluss arbeitete. Sie löste sich aber rasch von ihm und wollte den Museumsrundgang fortsetzen.
Erst als sie vor den klassizistischen Säulen der Vorhalle des Alten Museums im Lustgarten saßen, kam sie zur Ruhe und begann eine Unterhaltung, die sie trotz der überwältigenden antiken Kultur und der frischen Aprilsonne sofort wieder auf die aktuelle Politik brachte.
„Wie ist das nun mit deinen Roten Kämpfern? Was habt ihr konkret vor?“
„Psst, nicht so laut, man weiß nie.“
„Jetzt stell dich nicht so an! Ihr müsst schließlich Mitkämpfer gewinnen und dazu sollte man über euch sprechen.“
„So einfach ist das nicht. Alexander Schwab und mein Onkel wissen, dass