Sieben Leben. Stefan Kuntze
Читать онлайн книгу.brandete auf. Der Jungsozialist aus Dresden, der vielen schon in der letzten Woche aufgefallen war, hatte im Anschluss an den Vortrag Schröders über die Notwendigkeit der illegalen Arbeit und des Kampfes in Zeiten wie diesen das Wort ergriffen. Als er an seinen Platz neben Karl zurückkam, wandte der sich an ihn.
„Da hast du aber Recht, Genosse. Es ist wirklich nicht zu glauben, was die SPD in ihrer Blindheit veranstaltet. Wann wachen die endlich auf?“ Und nach einer kurzen Pause: „Wie heißt du eigentlich und wo kommst du her? Ich habe dich hier noch nicht gesehen.“
„Ich komm aus Dresden. Ich bin der Helmut Wagner.“
Jetzt erst fiel Karl die Dialektfärbung seines Nachbarn auf, die er bei dem öffentlichen Redebeitrag nicht erkannt hatte.
„Freut mich, ich bin Karl Kuntze aus Berlin. Ich muss kurz einmal raus. Hier ist die Luft zu stickig.“
„Du ahnst gar nicht, wie Recht du hast. Hier herrscht dicke Luft. Ich komme mit. Viel verspreche ich mir von dieser Diskussion sowieso nicht.“
Sie standen auf dem Hof des Parteilokals und rauchten eine Zigarette miteinander.
„Weißt du eigentlich, was die SPD mit uns jungen Sozialisten vorhat?“
„Was wird das schon sein? Sicher nichts Gutes!“
„Sie nennen es ‚Organisationsreform‘, aber es geht darum, die Jungsozialisten an die Kette zu legen.“
„Wie das?“
„Im letzten November haben wir bei der Kundgebung in den Autohallen unseren jungproletarischen Ordnerdienst eingesetzt, um die Nazis abzuwehren und da haben uns doch tatsächlich die Typen vom Reichsbanner angegriffen. Stell dir das vor: die eigenen Leute!“
Karl hatte von dieser Auseinandersetzung gehört, weil in der Folge die SPD-Führung alle Berliner Ortsgruppen der Jungsozialisten per Dekret aufgelöst hatte. Die Maßnahme wurde damit begründet, sie seien zur Partei in der Partei geworden.
„In Leipzig wird in der nächsten Woche eine Reichskonferenz abgehalten. Da werden wir diesen Anschlag auf die linke Jugend abwehren! Du musst einmal unsere Zeitschrift lesen, den ‚Roten Kämpfer‘, da schreiben alle wirklich Fortschrittlichen, worauf es jetzt ankommt.“
Karl dachte kurz an seine ersten Begegnungen mit dem Onkel und an dessen festen Glauben an die Revolution.
„Meinst du wirklich, wir können die Revolution schaffen, bevor die Faschisten die Macht übernehmen?“
„Aber klar doch! Ja, die Nazis haben bei den Septemberwahlen einen gewissen Erfolg gehabt, aber was sind schon 18 Prozent? Schau dir doch einmal an, wie viele Deutsche links gewählt haben. Das waren fast 40 Prozent. Es wäre doch zum Lachen, wenn wir da nicht weiterkämen.“
Die linke Mehrheit, der Traum aller Fortschrittlichen! Karl war sich nicht sicher, ob er den Optimismus des Genossen teilen konnte, aber er bewunderte die Entschlossenheit des fünf Jahre Älteren.
„Vielleicht hast du ja Recht. Wirst du in Leipzig dabei sein?“
„Das ist klar wie Kloßbrühe. Wir werden die Parteibosse vorführen, das kann ich dir versprechen! Denk dran, wir werden die Roten Kämpfer sein!“
Eine neue Partei
Bernhard Reichenbach lebte seit 1925 in Düsseldorf und arbeitete bei einer Krefelder Firma als Prokurist. Sein Engagement in der SWV hielt er aufrecht und war als Vortragender auf Schulungsabenden im Ruhrgebiet tätig und natürlich stand er in laufender Verbindung mit den Berliner Genossen.
Er berichtete im November 1930 Schröder und Schwab von einer Zeitschrift, die ein ideales Diskussionsforum für sozialistische Gedanken biete. Unter der Überschrift ‚Marxistische Arbeiterzeitung‘ wende sich dieses von Studenten in Bochum herausgegebene Blatt mit dem Namen ‚Der Rote Kämpfer‘ an die interessierte Öffentlichkeit.
Reichenbach war davon überzeugt, dass die kommunistische Zukunft von den Jungen gestaltet werde. Die Unzufriedenheit mit der SPD und ihrer Rolle im Reichstag war mit Händen zu greifen. Diese Menschen müsse man erreichen. Nichts anderes versuchten sie schließlich in der SWV seit vielen Jahren.
Er schickte ein Exemplar der Nr. 1 des „Roten Kämpfer“ an Schröder, in der das Ziel der Schrift formuliert wird: „Der Rote Kämpfer will dazu beitragen, das Proletariat zu befreien von den Täuschungen und Verhüllungen bürgerlichen Denkens und bürgerlicher Gesinnung. Damit werden die Voraussetzungen geschaffen zur Veränderung der bürgerlichen Wirksamkeit und des bürgerlichen Staates, zur entschiedenen Bekämpfung des Faschismus und zur Entfaltung eines einheitlichen proletarischen Klassenbewusstseins.“
In Köln hatte sich mittlerweile ein Diskussionskreis gebildet, der Studenten, Jungsozialisten und Proletarier aus der Sozialistischen Arbeiterjugend zusammenbrachte.
„Ich sage euch, die wollen die SPD wieder auf den richtigen Weg, den der Übernahme der Macht in den Betrieben und der Bildung einer Räteregierung führen!“, schrieb Reichenbach begeistert nach Berlin. Im Februar 1931 übernahm der Kölner Kreis, dem inzwischen auch Hans Mayer angehörte, die Zeitschrift. Sie wurde von den unterschiedlichsten Personen als Forum teils scharfer Kritik an der SPD und ihrer Politik genutzt.
Für diese überwiegend rätekommunistisch denkenden Menschen war schon das Verhalten der SPD-Minister bei der Bewilligung des Geldes für den Panzerkreuzer A nach der Wahl 1928 eine Provokation gewesen. Als nun aber die SPD-Fraktion im Reichstag am 20 März 1930 durch Stimmenthaltung die Verabschiedung des Wehretats ermöglicht und damit die Mittel für ein zweites Kriegsschiff bereitgestellt hatte, ging ein Sturm der Entrüstung durch die Partei. Die neun Abgeordneten, die unter Führung des Sprechers des linken Flügels, Max Seydewitz, gegen den Fraktionszwang und gegen den Etat gestimmt hatten, wurden gefeiert.
In dieser aufgeregten Situation fand am Osterwochenende die von Wagner angesprochene Reichskonferenz der Jungsozialisten in Leipzig statt, auf der vor allem er selber die Parteiführung fundamental angriff.
„Die SPD betreibt geradezu eine Entdemokratisierung, um ihren reformistischen Kurs gegen jede sozialistische Vernunft durchzusetzen. Im Grunde stellt das eine Entpolitisierung des Proletariats dar. Sie setzt alle Mittel ein, um von oben nach unten durchzuregieren!“
Als der tosende Beifall etwas abgeebbt war, fuhr er fort: „Wir jungen Proletarier und unsere Freunde sind Ausdruck des erwachenden revolutionären Kampfwillens der Arbeiterklasse, und wir werden nicht ruhen, bis wir in dieser Partei wieder eine revolutionäre, marxistische Politik durchgesetzt haben!“
Schröder las beim nächsten Treffen der Gruppe in Berlin Passagen aus diesem Referat vor, das in der Nummer 6 des „Roten Kämpfer“ abgedruckt war.
„Ihr werdet sehen, was die SPD auf dem nächsten Parteitag Ende Mai hierauf zu erwidern hat! Ich denke aber, dass dieser junge Heißsporn Helmut das Maul ziemlich voll nimmt. Wir sollten es uns nicht vollständig mit der Partei verderben.“
Der Parteitag der SPD fand vom 31. Mai bis zum 5. Juni 1931 statt. Die Diskussionen standen zunächst im Zeichen der Abrechnung mit der so genannten „Seydewitz-Gruppe“, wie die neun Abgeordneten genannt wurden, die gegen den Wehretat gestimmt hatten.
Unter dem harmlos klingenden Tagesordnungspunkt „Beschluss des Kasseler Parteitages über die Organisation von Jungsozialisten-Gruppen“ wurde schließlich auch das Verhältnis zu den Jungsozialisten diskutiert.
Das zugehörige Referat mit dem Titel „Partei und Jugend“ hielt der Reichsvorsitzende der SAJ, Erich Ollenhauer. Es wurde eine Abrechnung, wie sie nicht einmal Karl Schröder sich hatte vorstellen können. Die Jusos hätten komplett und auf der ganzen Linie versagt und ihre Funktion als Mittler zwischen Partei und Jugend verfehlt. Sie gefielen sich in sektiererischen Positionen und trieben eine Parteispaltung voran, ja, sie seien mit ihrem parteifeindlichen Blatt „Der Rote Kämpfer“ geradezu kommunistische Wühlarbeiter. Das war starker Tobak.
Noch heftiger kam es