Sieben Leben. Stefan Kuntze

Читать онлайн книгу.

Sieben Leben - Stefan Kuntze


Скачать книгу
Himmelswillen! Jetzt war die Situation eingetreten, die ihn in den letzten Nächten als Alptraum heimgesucht hatte. Genau dieses Thema hatte er in seiner Vorbereitung komplett ausgespart. Er hatte keine Ahnung, was er antworten konnte und spürte, wie das Blut erst absackte und anschließend seinen Kopf heiß werden ließ.

      „Ich lehne Bruchrechnen für die Grundschule ab!“

      Der Satz war draußen, bevor er hatte nachdenken können. Es war, als ob er sich selber zuhörte. Auf dem Gesicht des Professors breitete sich Erstaunen und so etwas wie Schreck aus. Er blickte kurz zu dem schräg hinter ihm aufrecht sitzenden Herrn, dessen Gesichtsausdruck große Überraschung verriet.

      „Na ja, wir sind ja hier im preußischen Frankfurt für Reformdiskussionen und Neues offen, auch wenn …“ Er zögerte kurz und nahm einen neuen Anlauf: „Nun gut, schildern Sie mir bitte die wichtigsten Axiome der Mengenlehre und ihre Anwendbarkeit in der Grundschule.“

      Gewonnen! Karl hätte fast gelacht, nahm sich aber zurück. Er war klug genug, nicht sofort loszusprudeln und sein Wissen im Eiltempo auszubreiten, sondern begann zögerlich.

      Er bestand die Prüfung insgesamt mit gutem Erfolg. Erst bei der Abschlussfeier erfuhr er von Bruno, dass die fremden Herren in den Prüfungsräumen Beamte des preußischen Kultusministeriums waren, die die Erfolge der jungen Akademien im ganzen Land unter die Lupe nehmen sollten.

      Nach der Prüfung saßen die vier Freunde zusammen und wunderten sich, wie rasend schnell die gemeinsame Zeit verflogen war. Thea und Bruno reisten am nächsten Tag in Richtung Heimat. Marianne gestand dem trotz gutem Examensergebnis betrübten Karl noch eine gemeinsame „Freundschaftsfahrt“ zu, das heißt eine der so geliebten mehrtägigen Wanderungen, die sie von Bad Orb in den Spessart und in eine einsame Jugendherberge mitten im Wald führte. Wieder wurde es Nacht, bis sie ein Quartier fanden, und leider war dies alles andere als einladend. Eine Jugendherberge in einem heruntergekommenen Schloss. Erst nach langem Klingeln erschien der mürrische Herbergsvater und brummte, dass eigentlich geschlossen sei. Er ließ sie schließlich hereinkommen.

      Sie mussten jeweils allein in den ansonsten leeren Schlafsälen für Jungen bzw. Mädchen nächtigen. Alles andere wäre unmoralisch und angesichts ihres Alters auch noch ein Verstoß gegen den Kuppeleiparagrafen des § 181 des Reichstrafgesetzbuches gewesen. Ob Marianne dies Alleinsein recht war? Sie schreibt darüber: „Mir war es schrecklich unheimlich in diesem bös verzauberten Schloss.“

      Vielleicht war sie aber froh, dass sie einander nicht wieder näherkommen konnten. Was hätten sie in dieser Waldeinsamkeit getan, wenn es wieder Probleme gegeben hätte?

      Zurückgekehrt nach Frankfurt trennten sich ihre Wege. Der Ausflug in die Ferne war vorübergegangen, und Karl hätte gern mehr als die Lehrbefähigung nach Berlin mitgenommen, aber Marianne blieb eisern.

      „Wir müssen erst richtig zu uns kommen und unser Leben neu sortieren, mein Lieber. Da würde eine Beziehung uns zu sehr vom Außen abschließen. Du wirst das irgendwann verstehen.“

      Das wollte er gar nicht und wusste auch nicht, was sie eigentlich meinte und wie er das mit dem Sich-selber-Finden anstellen sollte. Zunächst musste er allerdings in Berlin eine Unterkunft und seinen Onkel finden. Die ersten Tage konnte er bei Schröders wohnen und so erfuhr er aus erster Quelle von dem neuesten Projekt und der Gruppe, die sich ‚Rote Kämpfer‘ nannte. Das sei, so verstand er seinen Onkel, gewissermaßen der innere Kreis der Sozialwissenschaftlichen Vereinigung. Natürlich würde er als sein Neffe dazugehören.

      Die Lehrbefähigung besaß er zwar und war dennoch darauf gefasst, angesichts der angespannten Arbeitsmarktsituation glücklich sein zu müssen, wenn er nach einer unbezahlten Hospitantenzeit eine armselig entlohnte Stelle als Schulamtsbewerber in Berlin bekommen würde. An eine richtige Lehrerstelle war ohnehin nicht zu denken. In Pommern wären seine Chancen noch schlechter gewesen. Außerdem fühlte er sich seiner Heimat definitiv entfremdet.

      So endete das erste Leben des Karl Kuntze in wirtschaftlicher und persönlicher Ungewissheit. Das einzige, was feststand, war, dass er nicht zurück in die Provinz gehen, sondern in Berlin am Nabel der Welt bleiben wollte.

      Das zweite Leben (1931 bis 1934) Rote Kämpfer

      Karl war nach Berlin zurückgekehrt, und er lebte wieder allein. Seinen 22. Geburtstag hatte er nicht groß feiern können, da er inzwischen berufstätig war. Als Absolvent der staatlichen Akademie hatte er tatsächlich eine Stelle als Schulamtsbewerber bekommen und war angesichts der auf fast 5 Millionen gestiegenen Zahl der Arbeitslosen froh, überhaupt Beschäftigung zu finden. Verlangt wurde eine volle Lehrertätigkeit, was den Berufsanfänger viel Zeit kostete. Mit den gegenüber hauptamtlichen Lehrern geringeren Bezügen, die infolge per Notverordnung angeordneter Kürzung der Beamtengehälter um 6 % noch weiter reduziert ausbezahlt wurden, konnte er sich einen bescheidenen Lebensunterhalt sichern.

      Zufrieden mit seiner Situation war er, weil er an der Volksschule der „Karl-Marx-Schule“ eingesetzt wurde, über deren Leiter, Fritz Karsen, er im Studium viel gehört und den er als Ikone der Schulreform begriffen hatte. Die Überwindung der Dreistufigkeit in den öffentlichen Schulen war eines der Anliegen der von Karsen vertretenen Bildungsrichtung. Hier an dieser Schule, so hoffte Karl, werde er viel von dem realisieren können, was er in der Akademie und bei der Exkursion über moderne Erziehung gelernt hatte. In seinen Erinnerungen schreibt er zu dem Klima in der Schule:

      „Etwa die Hälfte des Kollegiums war in der SPD und die andere Hälfte in der KPD organisiert. Stundenlange Diskussionen über den richtigen Weg zum Sozialismus und zu einer freieren Erziehung gehörten in den Konferenzen neben der intensiven Schularbeit zum täglichen Brot.“

      Karl war inzwischen ein stattlicher Mann. Mit einer Körpergröße von über 1,80 m und der sportlich-schlanken Figur hatte er nicht nur Marianne beeindruckt. Von seinem Vater hatte er die hohe Stirn geerbt, die durch den an beiden Seiten des Kopfes etwas zurückspringenden Haaransatz einen ganz eigenen Schwung ausstrahlte. Die dunklen, fast schwarzen Haare kämmte er meist nach hinten, sodass diese dynamische Linie verstärkt zur Geltung kam.

      Seine dunkelbraunen Augen blickten freundlich-zurückhaltend in die Welt. Bei Diskussionen hörte er viel zu, mischte sich aber vehement ein, wenn er Ausführungen anderer skeptisch beurteilte.

      Er hätte nach seinem Umzug gerne Marianne wiedergesehen. Eine Adresse hatte sie ihm zwar nicht gegeben, aber er kannte ja die Wohnung der Boses in der Hasenheide, wagte jedoch nicht, sich dort zu melden. Viel Zeit für das erwünschte Privatleben hätte er allerdings nicht gehabt, da ihn die Arbeit voll ausfüllte.

      Nach der Ankunft in Berlin hatte er wieder Kontakt mit seinem Onkel aufgenommen. Er bewunderte diesen klugen und eloquenten Mann und war ihm gegenüber zugleich etwas befangen, weil er oft meinte, dessen hohen Ansprüchen nicht genügen zu können. Außerdem schmerzte es ihn trotz aller Hoffnungen auf eine Beziehung zu Marianne, dass Inge Schröder sich einem anderen Mann zugewandt hatte. Sie hatte ihn an der Wohnungstür nur kurz begrüßt. Die inzwischen fünfzehnjährige Ulla empfing ihn mit einem strahlenden Lächeln. Was für ein feiner Kerl sie doch ist, dachte er und schämte sich sofort. Sie war noch ein Kind.

      „Grüß dich, Karl. Schön, dass du wieder in Berlin bist. Ich hab leider gar keine Zeit. Vater ist in seinem Arbeitszimmer. Du kennst dich ja aus.“

      Nach diesen Worten war sie durch den langen Flur gehuscht und in ihrem Zimmer verschwunden. In ihrem Blick war noch die Enttäuschung zu erahnen, dass der Vetter sich beim letzten Aufenthalt in Polzin vor einem Jahr nur mit ihrer ältesten Schwester beschäftigt hatte. Sie war zwar damals noch sehr jung gewesen, aber was machte das schon? Nie hatte er bemerkt, wie sehr sie ihn bewunderte und liebte, und jetzt war es zu spät. Ulla wollte gern einen Mann heiraten, aber der geliebte Vetter war gedanklich weit weg und mit einer anderen Frau liiert, hieß es. Sie hasste die Unbekannte.

      Den Onkel fand Karl in seinem Arbeitszimmer an dem vor dem Erkerfenster stehenden Schreibtisch, der noch voller zu sein schien als vor zwei Jahren. Karl Schröder fuhr sich mit der Hand durch die dichten Haare und holte tief Luft. Er verbarg seine Freude


Скачать книгу