Indische Reisen. Ludwig Witzani
Читать онлайн книгу.jugendlicher Rikschafahrer, der mit der ihm angeborenen Dauerpfiffigkeit alle Stadien der Besichtigung und Buchung genau verfolgt hatte, fuhr mich zum Basarviertel zurück - nicht ohne vorher noch eine Ehrenrunde um den Busbahnhof zu drehen, als wolle er mich seinen Kumpels als einen Blöden vorführen, den er erfolgreich ausgenommen hatte.
In der Innenstadt war der Andrang der Demonstranten inzwischen etwas abgeklungen, und ich beschloss, den Sri Krishna-Janmabhoouni-Tempel zu besuchen. Das weiträumige und verschachtelte Gebäude war in seiner heutigen Gestalt ein Neubau, denn im Laufe der Jahrhunderte war der heilige Ort wie so viele Plätze in Indien immer wieder von den Moslems geschändet worden – natürlich auch vom Großmogul Aurangazeb, von dem es mir mittlerweile so vorkam, als hätte er den größten Teils seines langen Herrscherlebens damit verbracht, Hindutempel zu zerstören. Ihre eigene Moschee aber hatten die Moslems in Mathura gottlob nicht auf den Ruinen des Janmabhoouni-Tempels sondern daneben erbaut, sonst wäre womöglich in Mathura eine ähnlich brisante Situation entstanden wie in Ayodhya. Trotzdem war das Polizeiaufgebot beachtlich, ich musste alle meinen Taschen ausleeren, den Reisepass vorlegen und meine Fototasche an einer Gepäckaufbewahrung abgeben, ehe ich den Tempelinnenhof betreten durfte.
Innerhalb des Tempelbezirks fand sich hinter verschachtelten Zugängen, hinter Nischen und Treppen der Eingang zur vermeintlichen Kerkerzelle, in der Lord Krishna vor über fünftausend Jahren geboren worden sein soll. Das Gedränge war unbeschreiblich, immer neue Familien drängten sich mit robuster Ellbogenarbeit an mir vorüber, sodass ich nur einen kurzen Blick auf einen geschmückten Raum werfen konnte, dessen Leere wie ein Gefäß erschien, in das sich jedwede religiöse Fantasie ergießen konnte. Buddhisten hatten es gut, denn der Erleuchtete war auf den Wiesen von Lumbini an der frischen Luft geboren worden, da gab es keinerlei Gedränge.
Dass Krishna ausgerechnet in einer Kerkerzelle geboren worden sein soll, erklärt die Überlieferung durch die Angst des Tyrannen Kamsa, dem geweissagt worden war, dass das achte Kind seiner Schwester Devaki ihn dereinst töten würde, sodass er die bedauernswerte Devaki samt ihrem Gatten in den Kerker warf und alle Kinder, die sie gebar, kurzerhand töten ließ. Im Falle des kleinen Krishna aber soll dies misslungen sein, da anstelle des Babygottes den Häschern ein ordinäres Sklavenkind untergeschoben wurde, was sich aus heutiger Sicht allerdings etwas merkwürdig anhörte. Jedenfalls wurde der junge Krishna aus Mathura herausgeschmuggelt und in das benachbarte Vrindaban gebracht, wo er als vermeintlicher Hirte eine unbeschwerte Kindheit verlebt haben soll. Die Mordanschläge seines Onkels, der schließlich doch dahinter gekommen war, dass Krishna lebte, überstand der Götterknabe mit immer größerer Bravour, ehe er schließlich nach Mathura zurückkehrte, König Kamsa tötete und die Stadt befreite.
Nachdem ich den Tempel verlassen hatte, lief ich quer durch die Altstadt, vorbei an Garküchen und Märkten, passierte lange Menschenschlangen, in denen die Leute nach dem Segen von Gurus anstanden, deren Namen ich noch nie gehört hatte. Ich besuchte Zelte, in denen vegetarische Gerichte an Bedürftige ausgegeben wurden, verlief mich zweimal und musste schließlich eine Fahrradrikscha mieten, die mich endlich an das Vishram Ghat an der Yamuna brachte.
Dafür, dass das Vishram-Ghat ein indienweit bekannter Pilgerplatz war, sahen die Treppen reichlich heruntergekommen aus. Die Affen zankten sich um herumliegende Essensreste, Unrat lag in den Ecken, und die kleinen Hunde erledigten ihr Geschäft ungeniert auf den Treppen. Winzige Plätze mit nischenartigen Ausblicken auf den Fluss, schräge Wände, verrostete Glocken, Tempelfragmente und Torbögen erhoben sich über den lang gezogenen Treppenstufen, die in die Yamuna führten. Gelbe Wände, rosa Kapitele, rote Stufen und Mauerschäden, die wie weiße Tupfer wirkten, verliehen dem Ort eine Anmutung bizarrer Fremdartigkeit, bei der man sich nicht gewundert hätte, wenn im nächsten Augenblick ein doppelköpfiges Monster aus dem Wasser empor gestiegen wäre. Doch doppelköpfige Monster tauchten an diesem Tag aus dem Wasser nicht auf, stattdessen marschierten ganz normale indische Männer und Frauen entweder mit einem Handtuch um die Hüften oder voll bekleidet in den Fluss hinein, tauchten ihre Köpfe in das Wasser und machten glückliche Gesichter.
Unter den Pilgern, die im ständigen Wechsel kamen, badeten und wieder gingen, war mir eine Familie aufgefallen, von denen sich nur Vater und Mutter entkleideten, während der erwachsene Sohn keinerlei Anstalten machte, sich auszuziehen. Auf eine einladende Geste des Vaters hin, schüttelte er nur den Kopf und setzte sich in die Sitznische neben mich, während seine Eltern in den Fluss stiegen. Der junge Mann hatte eine scharf geschnittene Nase, schräge, dunkle Augen und einen sehr hohen Haaransatz. Zuerst musterte er mich neugierig aus den Augenwinkeln, ehe er mir sein Namaste entbot. Schnell kamen wir ins Gespräch, sein Englisch war exzellent, und ich entnahm seinen Darlegungen, dass er Vikram hieß, ein Student aus Delhi war und dass er Ingenieur werden wolle. Zweimal im Jahr sei es seine Pflicht, seine Eltern in dem familieneigenen Auto zu Pilgerfahrten nach Mathura und Vrindaban zu chauffieren - einmal einige Tage während des Holifestes und im August zur Feier von Krishnas Geburtstag.
Und warum baden Sie nicht? wollte ich wissen.
Vikram zuckte mit den Schultern.
Ist Ihnen nicht warm genug? setzte ich nach.
Warm genug ist mir schon, erwiderte Vikram und blickte mich an. Aber ich hänge an meiner Gesundheit. Sie haben doch bestimmt schon davon gehört, wie verschmutzt die Yamuna ist.
Ja, gab ich zu. Ist es denn wirklich so schlimm?
Noch viel schlimmer, gab Vikram zurück. Was Sie hier sehen, ist nicht das Wasser der Yamuna, sondern es sind zum größten Teil Abwässer. Das frische Wasser aus den Bergen wird durch die Staudämme im Norden umgeleitet, es gelangen nur geringe Wassermengen nach Süden, die sich mit allem anreichern, was die Leute über Hunderte von Kilometern in den Fluss werfen.
Gibt es denn keine Kläranlagen?
Viel zu wenige. Und die meiste Zeit des Jahres arbeiten sie nicht. Es ist hoffnungslos.
Aber die Leute demonstrieren doch dagegen, wandte ich ein. Ich habe heute Morgen Demonstranten gen Delhi ziehen sehen.
Das wird folgenlos bleiben, gab Vikram zurück. Dafür werden die Politiker zu gut von den Wirtschaftsbossen geschmiert. Sogar hier in Mathura gibt es Farbfabriken und Zinkproduzenten, die ihren Dreck einfach in den Fluss leiten.
Wieder waren neue Pilgergruppen am Vishram Ghat eingetroffen. Sie waren dabei sich zu entkleiden, als Vikrams Eltern ihr Bad beendeten und die Stufen hoch kamen.
Wissen ihre Eltern, wie verschmutzt die Yamuna ist? fragte ich.
Natürlich wissen sie es, aber es spielt für sie keine Rolle. Sie glauben felsenfest daran, dass ihnen die Verunreinigungen der Yamuna nicht wirklich etwas anhaben können. Mein Vater sagt: Genauso wie die Yamuna den Pilgern, die in ihm baden, die Sünden abwäscht, so wird sie auch die Kraft besitzen, sich von allen Verunreinigungen zu befreien.
Wir schwiegen und blickten auf den Fluss. Im Licht der Nachmittagssonne wirkte das Wasser samtig und einladend, ich roch auch nichts, aber Schwermetallbestände waren geruchslos. Vikrams Eltern hatten sich inzwischen abgetrocknet und die Kleidung gewechselt. Nun winkten sie ihren Sohn heran und nickten mir zugleich freundlich zu.
Vikram erhob sich. Ich muss weiter. Ihnen noch eine gute Reise – und tun sie sich einen Gefallen: Baden sie lieber nicht in diesem Fluss.
Ich blieb noch eine Stunde in meiner Nische sitzen und beobachtete den abendlichen Badebetrieb. Die Kunde von der Verunreinigung der Yamuna tat ihrer Attraktion als Badestätte keinen Abbruch. Der Augenschein war friedlich und einladend, aber wie heißt es sinngemäß in der Bhagavad-Gita: Zum Wesen des Unheils gehört, dass es sich verbirgt.
Als ich schon bei Anbruch der Dunkelheit meine Unterkunft in der Vorstadt erreichte, kam der Hauseigentümer herunter und teilte mir mit, dass der Strom im ganzen Viertel abgestellt worden sei. Da könne man nichts machen. Gute Nacht.
In meinem Zimmer setzte ich meine Stirnlampe auf, verriegelte sorgfältig die schwere Türe von innen und überprüfte den Verschluss der Fenster zu Hof und Bad. Das Wasser, das aus der Dusche kam, war nicht der Rede wert,