Indische Reisen. Ludwig Witzani
Читать онлайн книгу.und gegen die Preiskartelle der Rikschafahrer hatte kein Einzelreisender eine Chance. In ganz Indien war Agra berüchtigt für seine Schmuckhändler, die mit ihren falschen Edelsteinen die Kunden über den Tisch zogen, und keine Stadt wurde so oft von Lebensmittelskandalen erschüttert wie Agra. Unter Travellern ging das Bonmot, dass derjenige, der das versiffte Essen in einem der überteuerten Restaurants der Stadt überlebte, spätestens an einer der dreckigen Spritzen der Ärzte zugrunde gehen würde. Manche behaupteten aber auch, dass es gerade die Wirte aus Taj Ganj waren, die diese Horrorgeschichten lancierten, damit die zahlungskräftige Klientel davon abgehalten wurde, sich in einem der besseren Mittelklassehotels im Süden von Taj Ganj einzuquartieren.
Leider waren bei meiner Ankunft in Agra alle normalen Zimmer des Kara Guesthouses belegt, weil die israelischen Rekruten auf Armeeurlaub in Agra eingefallen waren. So zeigte mir Rajiv eine Schlafgelegenheit im obersten Stockwerk: Der Boden war unverputzt, die Wände befanden sich noch im Rohbau, und wo Fenster hätten sein sollen, waren nur Löcher, durch die ich allerdings einen Teil des Taj Mahal hinter den Dächern der Nachbarhäuser sehen konnte. Elektrizität gab es nicht, und die sanitären Anlagen befanden sich eine Etage tiefer im funktionsfähigen Teil des Gebäudes. Fragend blickte mich Rajiv an, und ich nickte. Ich verfügte immerhin über eine Stirnlampe, mit der ich abends ein wenig würde lesen können, über ein eigenes Moskitonetz, das sich in nahezu jeder Räumlichkeit leicht befestigen ließ, über Ohrenstopfen, die mich vor den akustische Belästigungen der indischen Nacht beschützen würden und alles in allem über einen gesunden Schlaf.
Am ersten Tag meines ersten Aufenthaltes in Agra ließ ich mich mit der Rikscha kreuz und quer durch die Stadt fahren. Zu meiner Entschuldigung muss ich sagen, dass ich damals noch wenig Indienerfahrung besaß und nicht wusste, dass sich aus der Rikschaperspektive fast alle indischen Städte gleichen. Wie Kalkutta, Delhi und Bombay, wie Patna oder Hyderabad erwies sich Agra abseits der weltberühmten Sehenswürdigkeiten als ein brüllendes Chaos aus Staub, Hitze und Blech. Auf meinem Weg zur Yamunabrücke passierte ich aufgerissenen Asphalt, unverlegte Rohre, offene Kloaken, halb zerstörte Fassaden und Stahlschrott, der quer und sperrig über der Fahrbahn lag.
Solche Ansichten sind in Indien nichts Außergewöhnliches sondern nur die Bühne, auf der sich jene hunderttausend Miniaturszenen abspielen, denen das Indienerlebnis seine Intensität verdankt. Eine Rikscha, die wegen Überladung zusammengebrochen war, ein Karren, der in einem offenen Gulli festsaß – auf indischen Straßen nichts Besonderes. Ich sah einen kleinen Jungen, der mit herunter gelassener Hose auf dem Bordstein hockend, seinen kleinen Hund in die Höhe hielt, damit er kötteln konnte, während er selbst eine kleine Wurst in den Rinnstein fallen ließ. Zwei kleine Böcke, von denen man sich fragen mochte, wo das Muttertier abgeblieben war, standen sich inmitten des tosenden Verkehrs Köpfchen an Köpfchen gegenüber und fixierten sich wie Alphabullen. Eingehüllt in knallrote Saris winkten mir zwei junge Mädchen in ihrer betörenden Schönheit zu, und als eine von ihnen lachte, sah ich eine einzige rote Betelwunde. Eine schrecklich zersauste Frau hatte sich lang auf den Bordstein gelegt und ihre Arme ausgebreitet, als wolle sie sichergehen, dass jedermann ihr Leid zur Kenntnis nehme, und sei es auch nur, indem er die Füße heben und darüber hinweg steigen musste.
All das war indischer Alltag, für dessen Anblick niemand eigens nach Agra kam. Die meisten Touristen, die nach Agra kamen, wollten sich lieber an imperialer Geschichte laben, die Anmutungen von Tausendundeiner Nacht erfahren und genau an jener exotischen Projektion partizipieren, auf der Indiens weltweite Werbewirkung beruhte. Die Ursprünge dieser Projektion gehen auf das Mogulreich zurück, das im 16. und 17. Jahrhundert Indien beherrschte und dessen bedeutendste Kaiser Akbar (1556-1605), Jehangir (1605-1627), Shahjahan (1628-1658) und Aurangazeb (1658-1707) ihre Hauptstadt Agra zu einer Stadt ohnegleichen ausgebaut hatten.
An der Mogulepoche scheiden sich in Indien allerdings noch immer die Geister. Die Moslems preisen die Mogulära als den einsamen Höhepunkt indischer Kultur und Gesittung. Für die meisten Hindus waren die Moguln nur die letzte Erscheinungsform einer apokalyptischen Plage, die seit dem zwölften Jahrhundert aus den Bergen Zentralasiens kommend immer aufs Neue über Indien hergefallen waren. Nicht genug damit, dass die moslemischen Heerführer Nordindien erobert und verwüstet hatten: Es waren ihnen andere moslemische Konquistadoren gefolgt, die dann nicht nur die Hindus sondern auch noch ihre gerade erst siegreichen Glaubensbrüder massakrierten - unter ihnen der Schrecklichste von allen, der Mongole Tamerlan, der im Jahre 1398 Delhi in Schutt und Asche legte und einhunderttausend Kriegsgefangene einfach niedermetzeln ließ.
Babur, der erste Großmogul, der den Sultan von Delhi 1526 in der Kanonenschlacht von Panipat besiegte und das nordindische Mogulreich begründete, war ein Nachkomme des Völkerschlächters Tamerlan. Sein Sohn Humayun, der das Reich fast wieder verloren hätte, war ein zögerlicher Melancholiker, der einen ganz unkriegerischen Tod erlitt, als er im Jahre 1556 in seiner Bibliothek in Delhi die Treppe herunterfiel. Sein Nachfolger wurde Akbar, der dritte und bedeutendste Großmogul, unter dem es eine Zeit lang immerhin so ausgesehen hatte, als wäre es möglich, den Antagonismus zwischen Hindus und Moslems zu überwinden. Fatepur Sikri, die gigantische Geisterstadt vor den Toren Agras, war Akbars architektonisches Vermächtnis, und mit diesem Ort wollte ich meine Reise durch die Vergangenheit beginnen.
Eine knappe Stunde dauerte die Busfahrt vom Agra Fort nach Fatepur Sikri. Über dreißig Kilometer führte die Straße nach Westen in ein sanft gewelltes Hügelland durch Dörfer und kleine Weiler, ehe hinter einem letzten Hügel in der Ferne die Silhouette der verlassenen Stadt sichtbar wurde. Die hoch aufragenden Wehrmauern, das Riesentor über der gewaltigen Treppe, die zahlreichen Minarette und die Umrisse der Stadt erschienen mir wie die Kulisse eines Monumentalfilms, und unwillkürlich spähte ich nach den Komparsenhorden, die nach den Anweisungen eines Hollywoodregisseurs gleich mit Holzschwertern und Sandalen zur Schlacht antreten würden. Doch die wuchtigen Mauern von Fatepur Sikri waren keine Fakes, sondern die authentischen Zeugen einer steingewordenen Vergangenheit, die sich als eine Laune der Weltgeschichte bis in die Gegenwart gerettet hatte. Die Inder, die an diesem Tag mit dem gleichen Bus wie ich aus Agra angereist waren, aber blickten gar nicht mehr hoch. Fatepur Sikri hatte für sie den Bereich der Geschichte längst verlassen und war zu einem Stück Natur geworden wie der Fluss, der Hügel oder die weite Ebene, auf der sich die Stadt erstreckte.
In der Nähe der großen Moschee von Fatepur Sikri entstieg ich dem Bus und lief zum Buland Darzawa, dem größten Siegestor Asiens. Über eine weiträumige Treppe stieg ich wie ein Zwerg einem vierundfünfzig Meter hohen Tor entgegen, das in seiner Größe in der Welt nichts Vergleichbares hat. Zusammen mit den beiden kreisrunden Ornamenten über dem Eingangsiwan wirkte das Tor wie ein riesiger Mund, der die Welt verschlang. Zahlreiche Nischen, Seitenstreben und Mogultürme in den verschiedensten Größen bewahrten das monumentale Tor vor jeder Klobigkeit, und der Schein der Nachmittagssonne illuminierte das Gestein mit seinem blutroten Licht.
Nach der Durchschreitung des Buland Darzawa erreichte ich den Innenhof der großen Moschee von Fatepur Sikri, einem der mit 165 Metern Länge und einer Breite von 133 Metern größten Vorhöfe der islamischen Welt. In diesem Hof, an eine der Mauern angelehnt, befand sich das baldachinartige Mausoleum Scheich Saalem Chistis, ein ganz aus Marmor errichteter Bau, dessen Fensterfronten mit Tausenden hauchdünner Ornamente perforiert waren. Der Überlieferung nach soll der islamische Sufi Saalem Chisti, der hier als Einsiedler lebte, dem Großmogul die Geburt des lange ersehnten Thronfolgers vorausgesagt haben. Seinen eigenen Sohn soll er gleich nach dieser Weissagung getötet haben, um auf diese etwas krasse Weise die Umstände für die Prinzengeburt zu verbessern. Als dann Akbars Hauptfrau tatsächlich schwanger wurde und im Jahre 1567 einen Sohn gebar, entschloss sich Akbar an dem Ort, der ihm so viel Glück gebracht hatte, seine neue Hauptstadt zu errichten. Mauern, Tore und Paläste wuchsen in den Himmel, Teiche und Brunnen wurden angelegt oder neu gebaut, ehe der Großmogul im Jahre 1571 mitsamt seinem Hof von Agra nach Fatepur Sikri zog. An alles war gedacht worden – nur nicht an die Wasserversorgung, die sich bald als so unzureichend erwies, dass der Großmogul nach weniger als zwanzig Jahren seine neue Hauptstadt wieder verlassen und nach Agra zurückkehren musste. Zurückgeblieben ist eine Geisterstadt, prachtvoll und grandios wie ein Traum, der zu schön war, um wahr zu sein und der an der schnöden Realität von Bodenbeschaffenheit und Wasservorkommen zerschellte.
Diese eigentliche