Preis des aufrechten Gangs. Prodosh Aich
Читать онлайн книгу.Nach der Bahnreservierung gehe ich mit Mr. Metha zur Post und telegraphiere unsere Ankunftszeit in Jaipur. Mr. Metha will uns unbedingt zum Bahnhof begleiten. Wir werden es bald wissen und schätzen lernen, warum er so stur gewesen ist. Das Arrangement mit unserem vielen Gepäck, mit den hastigen Gepäckträgern und das in Marathi, hätte ich kaum fertiggebracht. Es ist nicht eine freundliche Geste. Es ist Fürsorge. Während wir ihn herzlich und dankbar verabschieden, kribbelt in mir die Sorge hoch, daß wir in Ahmedabad, der Hauptstadt des Bundesstaates Gujerat, umsteigen müssen. Die dortige Landessprache Gujerati verstehe ich auch nicht. Wie gesagt, ich bin Kalkuttaner. Kalkutta ist etwa 2000 km östlich von Bombay. In Westbengalen. Meine Muttersprache ist Bengali. Nun fahren wir von Bombay nach Nordosten. Fast eine gerade Linie von Bombay nach Delhi. Ahmedabad ist etwa in der Mitte. Aber das Umsteigen ist unausweichbar. Die Eisenbahn in Indien hat eine unterschiedliche Schienenbreite. Breite, mittlere und enge, mit ebenso unterschiedlichen Geschwindigkeiten und Leistungsfähigkeiten. Eine Hinterlassenschaft der Kolonialzeit.
Die indische Eisenbahn wird von den „Entwicklungssoziologen“ viel besungen, als eines der positivsten Erbteile der Kolonialzeit. Über die unterschiedlichen Schienenbreiten erfährt man nichts. Eine Erwähnung würde ja auch nach einer Erklärung verlangen. Also bleibt sie unerwähnt. Dieses nicht Erwähnen verfälscht die Kolonialgeschichte. Dabei ist eine Erklärung dafür einfach. In der Phase des Raubkolonialismus ist alles zu den Häfen geschleppt worden zum Abtransport. Zunächst mit den dort vorhandenen Transportmitteln. Die wachsenden Mengen an Raubgut und die Erschließung der Märkte in den Kolonien, also die „Umstrukturierung" der Handels– und Wirtschaftsverhältnisse, verlangte nach leistungsfähigeren Transportsystemen. Die Gütermenge bestimmte die Breite der Schienen. Denn die Eisenbahn wurde vom Ausbeutungsgewinn finanziert.
Wo es wenig wegzuschleppen gab, reichte schon eine enge Schienenbreite (narrow gauge) aus. Von Ahmedabad nach Jaipur ist eine mittlere Schienenbreite (meter gauge) von einem Meter Breite gelegt. Zu den Häfen hin wurde natürlich immer die breiteste Schienenbreite (broad gauge) genommen. Auch heute kann von der Schienenbreite abgelesen werden, welche Regionen Indiens stärker in die „Weltwirtschaftsordnung" eingebunden sind. Aber welcher „Entwicklungssoziologe“ ist schon an dieser Beschreibung interessiert? Und wer will es wissen? Außerdem ist ein Langzeitgedächtnis in der blond-blauäugig-weiß-christlichen Kultur eh nicht gefragt. Keine Nachfrage, kein Angebot.
Aber „Entwicklungssoziologie“ plagt mich im Augenblick wenig, sondern schlicht und einfach die Sorgen des Umsteigens. Der Zug rollt in Ahamedabad ein. Werde ich mit unserem vielen Gepäck problemlos umsteigen können? Meine Sorgen sind überflüssig, wie sich bald erweist. Der Zugführer kommt und organisiert das Umsteigen. Er war von Mr. Metha so instruiert worden. Der Zugführer sagt uns, was das Umsteigen kostet. Wir sitzen bequem im neuen Abteil und sind erleichtert. Ja, dieser Mr. Metha!
Wir nähern uns Jaipur. Der Übergang zur Wüste ist begleitet von immer geringerer Luftfeuchtigkeit. Auffällig sind auch die vielen bunten Vögel, Sittiche, Papageien, Pfauen. Der Wüstenstaat Rajasthan ist auch ein Vogelparadies. Jaipur ist die Hauptstadt des Bundesstaates Rajasthan. Rajasthan ist ein Zusammenschluß von „Princely States“ der Rajputs, die sich bei der „indischen Unabhängigkeit“ der neu gegründeten „lndischen Union“ anschlossen. Später darüber mehr.
Am Nachmittag rollt der Zug in Jaipur ein. Ich öffne die Tür und schaue aus dem Abteil. Unnithan ist da – mit einem unerwartet großen Gefolge. Alle Mitglieder des „Department of Sociology“ sind zum Empfang gekommen. Mit Girlanden für uns, wie es in Indien üblich ist. Meine Frau und ich sind gerührt. Wir werden noch auf dem Bahnsteig allen Einzelnen vorgestellt. Freundliche Gesichter. Alle heißen uns willkommen. Die Namen zu den Gesichtern können wir uns nicht so schnell merken. Aber das ist ja auch natürlich. Unnithan hat ein Auto für uns organisiert. Er bringt uns samt Gepäck vom Bahnhof zum Gästehaus der Universität.
An den großen Pfützen am Straßenrand merken wir, daß der nachmittägliche Monsunregen schon da gewesen ist. Es ist nicht mehr heiß. Die Luft ist nicht feucht. Die Sonne scheint wieder. Vor allem in Bombay war die Feuchtigkeit in der Luft so hoch, daß wir ständig schwitzten. Auch in den Morgenstunden, als wir in den Zug stiegen. Selbst im Winter soll die Luftfeuchtigkeit in Bombay hoch sein. Im Sommer erreicht sie häufig über 95 %.
Die kurze Fahrt erzählt uns augenscheinlich, warum Jaipur als rosa Stadt (Pink city) weltweit bekannt ist. Die Maharajas von Jaipur brachten das Kunststück fertig, sich den Rajputs unähnlich aus allen kriegerischen Auseinandersetzungen herauszuhalten. Als die Moguls fest im Sattel saßen und die Kriegsgefahren gebannt waren, ließ Maharaja Jai Singh vor 250 Jahren die Stadt Jaipur auf dem Reißbrett planen und bauen. Auf ebener Erde unweit von seinem auf einem Berg gelegenem Palast Amber. Gerade breite Straßen, einheitlicher Baustil, quadratische Grundrisse, einheimische rosarote Natursteine als Baumaterial. Um die Stadt herum eine hohe Mauer. Vier riesige Eingänge, „Gates“ genannt, in vier Himmelsrichtungen. Die Stadt ist natürlich in allen Richtungen gewachsen, also längst über die Stadtmauern hinaus. Der einheitliche Baustil ist aber geblieben. Trotz der Bonbonfarbe wirkt die Stadt nicht kitschig. Der Übergang vom goldgelben Sand zu dem etwas rötlicheren Naturstein, der mit unregelmäßigen Fugen in Häusermauern verarbeitet ist, und schließlich das Übermalen der Fugenflächen in Rosarot bilden eine einzigartig angenehme Einheit. Die Stadt Jaipur ist schön und seit je her eine Attraktion für Touristen.
Wir passieren stadtauswärts das südliche Gate. Außerhalb der Gates werden die Straßen noch breiter. Kreuzungen sind mit Rondell gesichert. Die hügelige Landschaft dieses Teils Rajasthans ist schon im südlichen Stadtteil sichtbar. Die Wüste auch. Die Stadt wächst nach Süden, indem immer mehr Wüste wohnbar gemacht wird. Unmittelbar vor dem Campus auf der linken Straßenseite auf einem kleinen Hügel sehen wir einen Palast, einer der Paläste der Maharani von Jaipur. „Motidungi“ heißt er. Wie eine Bildpostkarte. Aber nicht mehr dauerhaft bewohnt.
Unterhalb dieses Hügels ist die Nordseite des Campus nur durch eine breite Straße nach Osten getrennt. Die Universität ist ein großzügig angelegter Campus, auch an der linken Seite einer der Hauptausfallstrassen nach Süden. Gegenüber dem Campus, getrennt durch diese Allee, ist ein neu entstandenes Wohngebiet, aber nicht so großzügig angelegt wie der Campus. Verständlich. Grundstücke gegenüber der Universität sind gefragt und deshalb auch teuer. Ähnlich wie die Stadt ist auch der Campus quadratisch angelegt und mit Gates versehen. Der Campus hat mehrere Gebäudekomplexe, weitläufig, getrennt nach Fakultäten. Im gleichen Stil wie die Paläste in der Stadt. Rechts von dem Hauptportal, am westlichen Rand des Campus, ist die Hauptverwaltung. Etwa 500 Meter weiter südwärts ist das „University Guest House“. Gebaut im gleichen märchenhaften Stil, von der Straßenseite mit Mauern umgeben. Von dem Gate führt ein Weg durch eine Riesentür zur Empfangshalle. Sie ist wie in einem Hotel. Ein Durchgang zu der Innenseite. Die Innenseite stellt ein offenes „U“ dar und ist umgeben von weitläufigen, gepflegten Rasen. Satt grün, umrandet mit goldgelbem Sand. Auf der linken Seite sind die einzigen Gästezimmer zur ebenen Erde. Auf der rechten Seite ist ein großer Saal, viel zu groß für eine „Dining Hall“. Es ist eigentlich eine Vielzweckhalle für Feierlichkeiten. Sie fungiert auch als eine Bühne für Aufführungen aller Art. Neben dieser Halle befinden sich die Wirtschaftsräume auf der anderen Seite vom offenen „U“. Im ersten Stock sind nur Gästezimmer. Großzügig ausgelegt.
Die Temperatur wird gegen Abend angenehmer. Die Dunkelheit bricht plötzlich ein. Ohne Dämmerung. Wie es in den Tropen und Subtropen üblich ist. Wir haben keine Zeit, viel auszupacken. Wir trinken Tee, ruhen etwas aus, machen uns anschließend frisch. Es ist „Dinner–Zeit“. Der Eßsaal ist nicht ganz leer. Für uns war das Essen bereits bestellt. Europäische Küche, wie sie in Indien kultiviert wird. Nach dem Abendessen sitzen wir auf dem Rasen. Bequeme Rattansessel– und tische. Draußen ist es schon fast kühl. Eine leichte Brise. Nicht stark genug, um einem die Moskitos vom Leib zu halten. Wir bekommen noch Besuch. Mrs. Unnithan, eine Niederländerin, heißt uns willkommen und erzählt: Ja, die Moskitos! Sie verschwinden erst mit den Sandstürmen, die regelmäßig in den Monaten April bis Juni kommen. Aus dem Süden. Wie eine rote hohe Wand. Blitzschnell. Dann wird es kurze Zeit dunkel. Selbst fest geschlossene Fenster helfen da nicht. Nach dem Sturm muß die Wohnung ausgekehrt werden. Der