Adieu. Otto W. Bringer
Читать онлайн книгу.Hatte es jetzt eilig, sehr eilig. Vielleicht ist sie bereit, mir für eine Aktstudie zu sitzen, oder zu liegen. Meine Fantasie tobte bis an die Grenze des Erlaubten. Studienhalber, sagte ich mir. Wiederholte es dauernd. Studienhalber. Nichts Unanständiges. Um Gotteswillen nein. „Es ginge am Dienstagnachmittag, so gegen Vier?“
Kluth gab mir den Schlüssel und verschwand auf der Stelle. Im hohen Raum einer alten Schule nur eine Matratze und weiße Wände. Bildhauerwerkzeug. Also muss es eine Liegende sein. Ruth zog sich aus, bis sie nackt vor mir stand. Ging offenbar davon aus, dass ich ein Aktbild zeichnen wollte. „Was soll ich tun? Stehen oder liegen?“ Ich konnte mich nicht konzentrieren. Wollte sie anfassen, streicheln, küssen überall die helle Haut. „Lege Dich mal auf die Seite. Stütze Deinen Kopf in die Hand. Den anderen Arm lege auf Deine Hüfte. So, ja, so ist es gut. Jetzt still halten.“
Der Zeichenblock in meiner Hand zitterte. Der Rötelstift in der Rechten fuhr aufgeregt über das weiße Blatt. Konturen suchend. Stellen, die dunkel werden sollten. In der Tiefe des Leibes. Ach meine Süße. Ging zu ihr, verschob den Arm auf der Hüfte ein wenig nach vorne. Dachte, es ist besser so. Meine Hand rutschte versehentlich ins haarige Dreieck ihrer Scham. Fühlte Feuchtes. War es unbewusster Trieb im Manne? In meiner Hose Revolution. Jetzt. Jetzt. Doch nicht. So konnte ich nicht weiter zeichnen. Kritzelte drei Blätter mit Kopf, Brustbild und einer halbfertigen Liegenden. Es blieben rötliche Spuren uneingestandener Leidenschaft auf unschuldig weißem Zeichenkarton. „Wir sollten jetzt Schluss machen. Für heute reicht es.“ „Lass mich sehen.“ Ich reichte ihr den Block. Sie betrachtete das unfertige Werk flüchtig, gab mir den Block zurück. „Beim nächsten Mal bist Du besser drauf.“
Wusste nicht, was ich darauf sagen sollte. Befriedigt, jetzt zu wissen, wie Frauen aussehen. Rasch aber wieder nüchtern. Mein Gott, ist sie normal. So herrlich normal. Mit Ruth werde ich die Zukunft erobern. Aber erst mal ihren Vater.
Hatte mir von zwei Gehältern eine neue Cordhose gekauft. Eine sandfarbene. Weißes Hemd mit langem Arm. Es war Sommer und warm. Der Öffner an der Haustür summte, wie Öffner summen. Hörte keinen Unterschied zwischen Merkurstraße und Spichernstraße. Drückte die schwere Türe nach innen. Vorkriegstreppenhaus. Dämmerig. Terrazzoboden. Hölzern Stufen und Geländer, das sich vom dicken Pfosten neben den Briefkästen aufwärts wendelte. Bis in die vierte Etage. Die erste kein Problem. Die zweite auch noch nicht. Ab dem dritten Treppenabsatz klopfte mein Herz. Was ist er wohl für ein Typ? Keine Ahnung. Blieb stehen. Wie begrüße ich ihn? Suchte passende Worte, einen möglichst guten Eindruck zu machen.
„Guten Tag Herr André.“ Soll ich es französisch aussprechen? Ahndrée? Oder besser nicht? Weiß ja nicht, ob er ein Deutschnationaler ist. Der Krieg ist noch nicht lange vorbei. Und Nazis immer noch unter uns. Inzwischen war ich auf dem Absatz zur vierten Etage angekommen. Blieb stehen. Atmete tief durch. Die letzten Stufen fielen mir schwer wie noch nie. Noch eine Vierteldrehung und ich sah die geöffnete Wohnungstür. Im Gegenlicht eines offenen Fensters eine dunkle Gestalt. Hose und längsgestreiftes Hemd. Es ist Punkt Vier.
Dann sah ich sein Gesicht. Adlernase, stechende Augen, Brauen darüber schwarz wie Schuhbürsten. Mein erster Eindruck: Zerberus, Höllenhund. Zweiter Eindruck: eine freundliche Stimme sagt: „Hallo, Herr Bringer.“ Reichte mir die Hand, drückte sie fest. Blickte mich an: „Ihre Augen sagen mir, Sie sind ein guter Mensch.“ So begrüßt zu werden hatte ich nicht erwartet. Überrascht und sprachlos.
Mutter André hatte den Kaffeetisch gedeckt. Ruth half ihr. Es wurde ein anregender Nachmittag. Ich erfuhr einiges aus dem Gerichtssaal. Andrés von meiner Arbeit am Zeichenbrett. Und den Plänen fürs Studium an der Kunstakademie. Ruth erlebte mich im Kreise ihrer Familie. Angenommen wie ein Schwiegersohn. Sie empfahlen mir einen Schneider in der Nachbarschaft. Mit guten Beziehungen zur Kleiderkammer der englischen Besatzer. Drei Wochen später besaß ich einen schicken Mantel aus Harrys-Tweed. Alle beneideten mich. Bietzger wollte ihn mir abkaufen. Ruth durfte ab da abends auch später als Zehn nachhause kommen. Taschengeld erhöht.
Mein einundzwanzigter Geburtstag in bester Erinnerung. Bei mir zuhause Funkstille. Geburtstage wurden nicht gefeiert, nur katholische Namenstage. Ich hatte mich mit Ruth verabredet. Treffpunkt Haltestelle der Linie 11 nach Kaiserswerth. Es war Mittwoch vor Ostern. Keine zehn Grad. Das „Café Schuster“ der richtige Ort, mit Ruth allein meine Volljährigkeit zu feiern. Gemütliche Séparées. Bequeme Sessel. Geheizt, angenehm warm. Und weit genug weg von Spichern- und Merkurstraße.
Ruth, inzwischen schon achtzehn und kurz vor dem Abitur, überraschte mich. Zog ihren Mantel aus, warf ihn auf den Sessel. Und stand wie die leibhaftige Verführung vor mir. Stolz: „Alles selbst geschneidert.“ Weitschwingender, mintfarbener Minirock. Die Beine, oh diese Beine kenne ich. Eng anliegend das schulterfreie Mieder aus dunkelblauem Samt. Goldenes Kettchen am schlanken Hals. Glitzert. Mintfarben die Schleife im hoch gekämmten Haar. Lächelte wie blauer Engel Marlene.
Sie holte einen großen blauen Umschlag aus ihrer Umhängetasche. „Mein lieber, lieber Otto, ganz, ganz herzlichen Glückwunsch. Das hier ist mein Geschenk für Dich. Ich weiß, Du liebst Gedichte.“ Sogleich überfiel mich das schlechte Gewissen, lange kein Gedicht mehr geschrieben. Das letzte und einzige für Ruth nach unserem ersten Kuss im „Café Bittner.“
Im Umschlag eher Heft als Buch, größer als ein Briefbogen. Sechzehn Seiten auf handgeschöpftem Büttenkarton. Einfarbig schwarz gedruckt in gotischen Lettern. Mit ornamentreichen blauen oder roten Initialen. Wenn ich mich nicht irrte, war es Frakturschrift. Schöne alte Holzschnitt-Technik. Ich sah sofort, es sind Gedichte. Liebesgedichte der berühmtesten Minnesänger des frühen Mittelalters. Blätterte vorsichtig. Da, zwischen zwei Blättern eine getrocknete Rose. Auf der linken Seite die farbige Miniatur des unbekanntesten aller Dichter, Werner von Tegernsee.
Betrachtete das wunderschöne Bild, tastete die Rose, blickte Ruth in die Augen. Las das Gedicht auf der rechten Seite. Leise, so für mich hin. Es grub sich in mein Gedächtnis für alle Zeit. Das schöne Mädchen Ruth vor Augen, das mich anschaute, unentwegt, lächelnd.
„Dû bist mîn, ich bin dîn – des solt dû gewis sîn – dû bist beslozzen in mînem herzen – verlorn ist das sluzzelin –dû moust ouch immêr dar inne sîn“
Mit blauer Tinte darunter geschrieben: Ruth. Fällt mir um den Hals. Küsst mich lange und innig wie noch nie: „Ich liebe Dich.“
Wir sahen uns einige Wochen nicht. Mein Architekt hatte ein großes Projekt zu verwirklichen, ich musste helfen. Zeichnen, rechnen, Baustelle kontrollieren. Ruth bereitete sich aufs Abi vor. Telefonieren ging nicht. André hatten kein Telefon. In den ersten Jahren nach dem Krieg erhielten nur Firmen und Handwerker für den Wiederaufbau einen Anschluss. Und Bauern, die mit Speckseiten um sich warfen.
Der einzige Standhafte war mein Vater. Als Telegrafen-Sekretär verantwortlich für Anschlüsse. Er blieb es, bis nach zwei Jahren alle Leitungen wieder verlegt waren. Und jeder ein Telefon bekam, der es wollte. Mutters Quengelei konnte ihn nicht erweichen. Vielleicht hatte er auch Angst vor Strafe, hätte man ihn erwischt. Wegen Bestechlichkeit.
Dann ging ich wieder in die Badeanstalt. Dort sehe ich sie wieder, sagte ich mir. Ich wartete eine Stunde, anderthalb. Dann kam sie, außer Atem. „Verzeih, ich hatte das Schwimmbad vergessen. Dich natürlich nicht. Mein Vater verlangt, dass ich an seinem Gericht irgendwas Langweiliges lerne. Zeigte mir die Büros und führte seine Mitarbeiter vor wie Zirkuspferde. Nie, nie, ich will Schauspielerin werden. Das verstehst Du doch, oder? An der Folkwangschule habe ich schon einmal vorgesprochen. Samstags, damit die zuhause denken, ich wäre zum Schwimmen.
Habe mich über Bedingungen und Kosten informiert. Sie sagen, ich hätte Talent und gute Chancen, angenommen zu werden. Bei der Gelegenheit traf ich die berühmte Flickenschild. Ließ mit sich reden, ein paar Minuten. Tolle Frau. Ich will eine Flickenschild werden.“ Hängte sich an meinen Hals und schluchzte leise vor sich hin.
So war ich mit meiner armen Ruth hin und her gerissen zwischen Essen und Düsseldorf, Folkwang und Elternhaus. Juristerei und Schauspielerei. Noch war sie keine einundzwanzig. Dann wäre manches einfacher. „Ich werde mit Deinen Eltern reden.“
Mutter allein, ihr Mann auf einem Kongress: „Sie