Adieu. Otto W. Bringer

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Adieu - Otto W. Bringer


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Vater wird ihr dabei helfen. Schließlich hat er Einfluss.“

      Ich kannte die Familie schon gut sechs Wochen. Scheute mich nicht mehr, offen zu reden. „Liebe Frau André, Ist ihnen das Glück ihrer Tochter nicht wichtiger als ein trockener, noch so sicherer Arbeitsplatz? Sie ist begabt, wirklich. Folkwangschule die beste in Deutschland. Stimmen Sie ihren Mann doch um. Gute Schauspielerinnen sind gerade jetzt nach dem Krieg anerkannt in der Gesellschaft. Man bewundert sie. Verdienen nicht selten mehr als ein Richter am Gericht.“ „Ach ja, stöhnte Frau André. Dachte sicher, mehr Haushaltsgeld könnte ich gut gebrauchen.

      Ich war ratlos und sehr traurig. Wir trafen uns im Schwimmbad und anderswo. Spazierten im Grafenberger Wald. Gingen ins Apollo, Zirkuskunst zu bestaunen. Schaukelten mit dem Bötchen nach Zons am Rhein. Kletterten in den alten Wehrturm, um die Welt von oben zu betrachten. Und zu träumen. Von dem, was wir sein möchten.

      Ich kam mir vor wie ein Nomade. Mal hier, mal da. Nirgends zuhause. Könnten wir heiraten, fänden wir sicher auch eine kleine Wohnung. Mit Platz für eine Staffelei. Ein neues Aktbild riskieren. Aber kein Denken daran. Gerade im ersten Semester. Noch fünf, bis ich mein Diplom habe. Sicher nicht sofort einen Arbeitsplatz. Selbstständig will ich mich machen. Ruth schon ein gutes halbes Jahr zuhause, ihre kranke Mutter pflegen. Am Gericht die Lehre begonnen. Fast drei Jahre noch im Ungewissen.

      Dann war sie weg. An ihrem 21sten Geburtstag. Untergetaucht im Irgendwo. Rief Folkwang an, keine Auskunft. André haben Telefon, auch keine Ahnung. Aufgeregt und hilflos. Niemand hat sie gesehen. Niemand von ihr gehört. Es soll ein Mann aufgetaucht sein, ein Regisseur. Suchte junge Nachwuchsspieler für einen Kriminalfilm. Drehort Düsseldorf.

      Mein Liebstes auf und davon. Ja, ja, ich hatte sie wochenlang vernachlässigt. Keinen Kontakt gehalten. Den Kopf voll mit Sachen, die für mich wichtig waren. Architekten haben immer den Kopf voll. Besonders solche, die es werden wollen. Im Gegensatz zu Beamten. Wie mein Papa und Ruths Papa. In meinem Herzen aber weinte es unaufhörlich. Sehnte sich nach dem samtenen Ton ihrer Stimme. Dem Idealbild eines Körpers für ein besseres Aktbild. Den Umarmungen, die wie ein Versprechen waren. „Verloren ist das Sluzzelin – dû moust ouch immêr dar inne sin.“

      Monate später hieß es, Ruth André spielt eine Nebenrolle in einem Kriminalfilm. „Gesucht wird Majora“ mit Camilla Horn und Paul Henckels. Weiter hieß es, Ruth heiratet einen Fußballer, bekam zwei Kinder und blieb irgendwo im weitläufigen Düsseldorf. Sternenweit entfernt von mir. Nicht vergessen. Verglich andere Frauen, die ich kennenlernte, mit ihr. Keine so schön wie sie. So ungezwungen natürlich, nachdenklich und spontan zugleich. Meine erste große Liebe. Die Frau fürs Leben, dachte ich. Nicht länger als ein Atemzug. Jetzt war ich allein. „Adieu“ schönes Mädchen Ruth.

      Endlich blühte der Kirschbaum.

      Schon ewig in unserem Garten, der Baum. Wir wussten nur vom Vorbesitzer, es ist ein Kirschbaum. Sah nicht so aus für uns Gartenlaien. Reckte seine Äste in alle Richtungen des Himmels. Wurde grün und immer grüner im Laufe von Frühling und Sommer. Welkte in den Farben eines kleinen Farbkastens. Blieben liegen, die Blätter. Zuhauf. Dann und wann vom Wind verweht. Mühsam zusammen gekratzt. In geräumige blaue Plastiksäcke gefüllt. Und zur Halde gefahren. Jedes Jahr dieselbe Prozedur. Blüht nicht. Keine Kirschen. Aufwand ohne Gegenleistung.

      „Sollen wir ihn fällen und einen jungen an seine Stelle setzen? Fragte ich meine Frau. „Lass ihn, im Sommer mache ich es mir gerne bequem in seinem Schatten. Das Haus und die Blumen vor Augen.“

      Der ein Kirschbaum sein sollte, blieb an seinem angestammten Platz. Wie gut das klingt, wie richtig dieses „angestammt“ ist. Stamm ja, unübersehbar. Äste auch und Blätter jede Menge. Aber zum Trotz blühte der Knabe nicht, brachte schon gar keine Früchte. Prallrote, saftigsüße Kirschen. Es ist z. K. Der Leser weiß, was das bedeutet. So gingen viele Jahre ins Land. Rhododendron blühte zuverlässig jedes Jahr, Rosen, Ranunkeln, Cosmeen, Hortensien. Die Kamelien, nur die Kirsche nicht.

      Dann die Überraschung. Habe die Jahre nicht gezählt. Unser alter Geselle blüht. Über Nacht sozusagen hüllte sich die mächtige Krone in Weiß. So viel Weißes nie gesehen an einem Baum. Man stelle sich vor: viele Äste mit ungezählten Zweigen und klitzekleinen Sprießen. Auf denen eine weiße Blüte ihre Blättchen spreizt. Die gelben Staubgefäße zu zeigen. Jetzt müssten Bienen kommen. Die fleißigen Zuckerschlecker und Bestäuber.

      Sie kamen, summten, flogen, hockten sich nieder und saugten den Saft aus den Stempeln. Ließen staubfeinen Samen auf den weiblichen Blütenteilen zurück. Auf dass sie Frucht werden. Ich fotografierte die summende Blütenpracht. Ein ums andere Mal. Und konnte nicht genug kriegen. Nahaufnahmen noch und noch. Gespannt auf die Ergebnisse. Fragte mich, ob nach dem Blütenwunder das Kirschenwunder folgt?

      Zwei Wochen später erste Früchte. Noch grün und wenig attraktiv. Aber es sind Kirschen, erkennbar am Stil. Wurden rötlich, immer roter, bis sie vor Rot bald zu platzen schienen. Warteten, warteten noch ein Weilchen, sie müssen erst größer und dunkelrot werden. Studierte den Gartenkatalog. Dachte an Schattenmorellen, die mag ich am liebsten. Oder sind es Knappkirschen, die frühen? Probieren ist besser als studieren! Riss eine vom erstbesten erreichbaren Zweig. Steckte sie in den Mund, biss langsam das Fruchtfleisch vom Kern. Beleckte es mit der Zunge. Es sind Herzkirschen. Dunkelrot, fleischig und mildsüß. Nur noch wenige Tage, bis ich die Leiter anstellen kann.

      Sonne schien, als wollte sie sich bei uns entschuldigen für´s Zuspätkommen. Blieb eine ganze Woche. Jeden Tag hingegangen und geguckt. Immer mehr rote Kügelchen müssten es sein. Aber Blätterbüschel verdeckten die meisten Früchte. Lugten verschämt hervor, als riefen sie: such mich. Ich hab mir die Augen aus dem Kopf geguckt. Bis sie oben im Kirschbaum umherirrten und nicht mehr herunter wollten. Was blieb mir: Leiter anstellen. Hoch klettern. Auf den dicken Ast zuerst. Pflückte. Stieg auf dünnere Äste, die schwankten bedenklich. Mein Arm nicht lang genug, an all das Rote unter dem Grün zu kommen. Kletterte, pflückte, bis der Korb voll war. Genug für heute?

      Wir aßen drei Wochen lang selbstgepflückte Kirschen. Zum Frühstück mit Jogurt. Am Abend als Kompott zum Schweinefilet. Rose erfand immer neue Varianten. Es schien, als würden wir es nie leid, Kirschen zu variieren und mit größtem Appetit zu essen. Im Vorübergehen mal eben eine rote aus der Schüssel zu fischen, die nicht leer wurde. Kirschen schenkten wir Freunden, Nachbarn, dem Postboten. Großzügig. Bis Mitte Juni.

      Die ganze Prozedur wiederholte sich zu unserer Freude im nachfolgenden Jahr. Wieder dieses Blütenwunder. Als hätte Alessandro Botticelli mit seinem Frühling unseren Baum verzaubert. Dann die ungezählten kleinen roten Pünktchen unterm Grün. Verstreut, soweit kein Arm reicht. Wieder hinaufgestiegen die eiserne Leiter. Geklettert auf den dicksten Ast. Die dünneren am äußersten Ende. Den Kitzel genossen, ein Akrobat zu sein. Und gepflückt, geklettert, gepflückt. Was sag ich, gerissen mitsamt Stiel. Eine Woche kirschgeschlemmert. Eine zweite, die Hälfte einer dritten. In dem angenehmen Bewusstsein, unabhängig zu sein von Bauernmarkt und Edeka.

      Im dritten Jahr warteten wir vergeblich auf Botticellis Blütensegen. Ganz im Gegenteil. Die Blätter welkten schon Anfang Juni. Gelblich blass bis schwarzbraun fielen sie zu Boden. Als hätten sie zu viel Bayer-Leverkusen abbekommen. Morsche Rinde blätterte vom noch stramm stehenden Stamm. Aus den dicken Ästen lösten sich die dünneren mit ihren Zweigen und einzelnen welken Blättern. Hingen wie am seidenen Faden. Ein jammervolles Bild. Wir ließen die Krone beschneiden, den Stamm stehen. Ich bastelte ein Taubenhaus und nagelte es auf den Stamm. Meine Frau Rose liebt Tauben. Lebendiges im stillen Garten. Es kamen keine Tauben. Ich konnte gurren, soviel ich wollte. War ihnen das Haus zu modern?

      Nichts mehr im Garten, was Freude macht. Nichts mehr, das mit weißen Blüten um sich wirft. Das im Mai aufblüht wie eine Wolke vor dem sanften Blau eines Frühlinghimmels. Nie mehr sportlich herumklettern im Geäst. Das leichte Schwanken genießen wie eine Gondelfahrt. Hinabschauen in das Lächeln meiner Frau. Den noch halbleeren Korb auf der Leiter. Kein Überfluss mehr an Rot im eigenen Garten. Mit dem wir unsere Gier befriedigen können. Die kleinen süßen Dinger aus eigenem Anbau nur noch Erinnerung. Samt Stil und Kern. Ich lernte die runden Kügelchen weiter zu spucken als mein Arm reichte. „Adieu!“


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