Das Geheimnis des Bischofs. Stefan Sethe
Читать онлайн книгу.hatte er mit Tamara die Nacht in seiner eiskalten Wohnung verbracht. Er wohnte damals übergangsweise in einer Wohnung in der Rathenaustraße. Etwas anderes war in ganz Erfurt nicht zu finden gewesen. Die Wohnung gehörte einer angehenden Ärztin, die ein halbes Jahr Praktikum in Israel absolvierte. Fünfter Stock, Kohleheizung. Er war zu faul gewesen, die Kohlen aus dem Keller zu holen. Also hatte man sich eng aneinander kuscheln müssen. Schön war es gewesen. Tamara wollte anschließend die Beziehung zu ihm allerdings nicht intensivieren. Gelegentlich hatte er sie in der Registratur besucht, hatte einen Kaffee bekommen, und man hatte ein wenig geplaudert. Das alles wollte er aber keinesfalls der jungen Dame mitteilen, die ihm gegenüber saß, unter schon etwas staubigen Requisiten aus dem Theaterfundus.
Marianne Thielmann, sie hatte die Rolle der Thekla recht passabel gespielt, hatte sich von der benachbarten Premierenfeier gelöst und zog ihren Kollegen Stefan Scheel, ein begnadeter Elvis Presley-Interpret, hinter sich her. „Hallo Andreas! War es nicht toll?! Du glaubst nicht wie viel Spaß die Proben gemacht haben.“
Stefani beschloss, noch einen halben Stern dazuzugeben. Er stellte sie seiner Tischnachbarin vor, ohne sie allerdings zum Bleiben zu ermuntern. Die beiden merkten, dass sie störten und verabschiedeten sich rasch wieder.
Die Kommissarin nahm den Faden wieder auf und wurde deutlicher: „Ja, verzeihen Sie, natürlich kennen Sie Frau Dr. Edelmann. Sie müssen ja etliche Jahre mehr oder minder eng zusammen gearbeitet haben. Ich möchte Näheres über sie erfahren, weil sie seit Weiberfastnacht verschwunden ist.“
„Ach!“ Stefani begann sich etwas zusammenzureimen. „Und warum fragen Sie ausgerechnet mich? Es ist ja nun schon eine Weile her, dass ich in der Staatskanzlei gekündigt habe. Seitdem habe ich Tamara eigentlich auch nicht mehr gesprochen, allenfalls mal von Ferne gegrüßt.“
Lea Rose beugte sich zu ihm: „Die Staatskanzlei mauert. In bewährter Manier will Graus alles unter den Teppich kehren. Zur Staatsanwaltschaft muss ich Ihnen wohl nichts sagen, meine Leute haben auch schon den Schwanz eingezogen, und um das Bundeskriminalamt auf eigene Faust einzuschalten, fehlt mir der Mut.“
Stefani schaute sie an. Leider klang alles sehr plausibel. Mit der Kripo hatte er zwar noch nie zu tun gehabt, aber auch die Schutzpolizei gehörte nicht gerade zu den aktivsten Freunden und Helfern. Unten in seinem Haus zum ersten Schweinskopf war das Waffengeschäft der alteingesessenen Firma Weck. Ab und zu versuchten irgendwelche Dumpfbacken vergeblich, das dicke Sicherheitsglas des Schaufensters zu zerstören. Stefanis diesbezügliche Anrufe bei der Polizei wurden wohl auch im Vertrauen auf das Panzerglas geflissentlich ignoriert. Neulich war es irgendwelchen jugendlichen Idioten aber tatsächlich gelungen, ein größeres Loch in die Scheibe zu klopfen, mit der Hebelwirkung einer Eisenstange war es nur noch eine Frage von Minuten, bis sie zu den scharfen Waffen vorgedrungen wären. Wieder hatte keiner auf Stefanis Alarmierung reagiert. Erst sein wütender Anruf bei der Zentralen Leitstelle der Landesregierung ließ zwei Streifenwagen auftauchen, allerdings mit Sirene, so dass die beiden Täter rechtzeitig flüchten konnten. Stefani konnte den Beamten nicht wirklich böse sein. Dafür, dass diese Menschen unbestechlich sein müssen, halbe Juristen, ganze Psychologen, sportlich fit, nervenstark, immun gegenüber Beleidigungen und darüber hinaus erbärmlich schlecht bezahlt werden, war er froh, dass überhaupt noch jemand Polizist werden wollte. Und gerade die jüngeren Beamten und Beamtinnen gaben durchaus wieder zu Hoffnungen Anlass. Andererseits konnte Stefani durchaus verstehen, dass diese ausgebeuteten Leute sich nicht auch noch mit den Chefs anlegen und sich damit jeder Karrierechance berauben wollten. „Die Durchsuchungsaktion letzten Dienstag stand wohl im Zusammenhang mit dem Verschwinden zu Weiberfastnacht?“
„Ja.“
„Weiberfastnacht ist Tamara Edelmann verschwunden, und erst zwölf Tage später wird nach ihr gesucht?“
„Ich sagte schon, die Staatskanzlei mauert, und wir werden von ganz oben gebremst. Eigentlich hatte ich deshalb auch keine Lust mehr und wollte die Ermittlungen schon einstellen, aber dann sah ich Sie zufällig vorhin im Foyer. Sie haben ja ausreichend Erfahrung mit der Widerborstigkeit der Staatskanzlei und mit politischen Verstrickungen. Vielleicht können Sie mir ein wenig helfen?“
„Was wollen Sie genau wissen?“
„Alles, was Sie mir über Frau Dr. Edelmann sagen können.“
Stefani musste sich eingestehen, dass er relativ wenig über Tamara wusste. Er erinnerte sich an einen großen Leberfleck am Oberschenkel, aber das war wohl nicht die Art von Information, die für eine Kripobeamtin von allergrößtem Gehalt war.
Tamara war immer sehr unauffällig. Sie mochte Mitte 40 sein, vielleicht aber auch schon älter, zumindest hatte sie schon etliche graue Haare. Sie war der Typ, der mit 60 fast genauso aussieht wie mit 20. Nicht hübsch, aber auch nicht unansehnlich; irgendwie indifferent. Ihr genaues Geburtsdatum hatte er mal gewusst, aber wieder vergessen. Er erinnerte sich jedoch, dass sie jeweils im gleichen Monat wie er Geburtstag feierte. Tamara war nicht unbedingt kreativ, aber ganz gewiss auch nicht dumm. In jedem Fall war sie für die Tätigkeit als Sachbearbeiterin in der Registratur entschieden überqualifiziert.
Dr. Edelmann war eines dieser beklagenswerten Wendeopfer, die zu DDR Zeiten noch Verantwortung in einem Betrieb trugen, aber nach 1989 dazu verdammt waren, Tätigkeiten zu verrichten, für die ein Studium nicht erforderlich gewesen wäre.
Mitte der 80er Jahre hatte sie noch energisch in der Optima die Entwicklung der elektronischen Kleinschreibmaschine der Baureihe S 3000 vorangetrieben. Nach der Wende war dieses Modell nicht mehr konkurrenzfähig gewesen. Zuverlässig und verantwortungsbewusst hatte Tamara Edelmann noch die Abwicklung ihrer Abteilung überwacht, alle Mitarbeiter mit guten Zeugnissen in die Marktwirtschaft entlassen und dann als Letzte der Entwicklungsabteilung das Licht ausgemacht. Die ihr einst Unterstellten hatten meist schon neue Arbeitsplätze in neuen Unternehmen oder in der Verwaltung gefunden.
Unter Stellengesichtspunkten hatte in Erfurt eine Goldgräberzeit begonnen, als die vormalige Bezirkshauptstadt von den frei gewählten Landtagsparlamentariern mit 48 zu 44 Stimmen zur Hauptstadt Thüringens gewählt worden war. Danach galt es, in kürzester Zeit viele tausend Verwaltungsstellen neu zu besetzen. Oft reichte schon ein Vorsprechen beim Pförtner, um noch am gleichen Tag mit einem Arbeitsvertrag in der Tasche nach Hause zu kommen, auf dem die Worte Bayerisches Ministerium oder Hessisches Ministerium oder Rheinland-Pfälzer Ministerium nur notdürftig durchgestrichen und durch Thüringer Ministerium ersetzt worden waren. Wer zuerst kam, mahlte zuerst. Frau Dr. Edelmann kam als Letzte. Die Häuptlingspositionen waren vergeben, sie musste sich unten einreihen. Eine Tätigkeit in der Registratur war nicht gerade das, was sie sich während ihres Physikstudiums in Ilmenau erträumt hatte, aber sie musste froh sein, durch persönliche Vermittlung des Bischofs, der sie zu DDR-Zeiten als engagierte Katholikin kennengelernt hatte, überhaupt noch einen sicheren Arbeitsplatz bekommen zu haben. Immerhin waren weit mehr als 50 Prozent ihrer Landsleute inzwischen arbeitslos oder im Vorruhestand oder in einer sinnlosen Arbeitsbeschaffungsmaßnahme abgelegt, und es war keineswegs besonders selten, dass sich die Hierarchieverhältnisse nach der Wende umgekehrt hatten.
Das Theaterrestaurant leerte sich langsam. Lea Rose hatte sich ein paar Notizen gemacht. Stefani schaute sie an: „Viel geholfen haben Ihnen diese Informationen wohl nicht. Vielleicht kann man es so zusammen fassen: Tamara ist eine freundliche, bescheidene und wohl auch recht einsame graue Maus. Im kalten Krieg zwischen Ost und West waren solche Frauen bevorzugtes Opfer der sogenannten Romeo-Spione.“
„Sind Sie sicher, dass Frau Edelmann keine Beziehung hatte?“
Stefani lächelte mehrdeutig: „Ich denke, ab und zu wird sie schon eine Bekanntschaft gehabt haben.“
„Niemals etwas Festeres?“
Stefani überlegte. Von einer festeren Beziehung hatte er nie etwas gemerkt. Auch in ihrer Jugend und Studienzeit war sie wohl eher eine Einzelgängerin. Andererseits, wenn da etwas war, z.B. mit einem verheirateten Mann, dann war sie mit Sicherheit so diskret, dass es ihre Umgebung niemals merken würde. „Wie kamen Sie auf die – verzeihen Sie – doch etwas absurde Idee, Tamara zwei Wochen nach ihrem Verschwinden ausgerechnet in der Staatskanzlei