Deutschland, es brennt. Erik Kothny
Читать онлайн книгу.Bilder und Gebrauchsgegenstände von Vater und Mutter gaben ihm eine gewisse Geborgenheit zurück; vergessen machen konnten sie das zugefügte Leid aber nicht. Dennoch: Gegen Deutsche hegte er keinen Hass.
Zigeuner
Ich hatte in Koblenz unter meiner Wohnung in der Münz-Straße einen kleinen Künstlerkeller: Eriks Statt-Theater.
Ich war alleinerziehend, hatte zwei Kinder im Grundschulalter und konnte abends nicht weg. Also habe ich jeden Samstagabend die Falltür zu meinem „Theater“ geöffnet und jedem, der rein wollte, Zutritt gewährt – ohne Konsumzwang und ohne Eintrittsgeld. Die Künstler kamen meist aus dem Publikum selbst.
Zu den ersten Bands, die in den „Katakomben“ auftraten, gehörte Mike Reinhardt. Er stammte aus Koblenz und war für seinen swingenden Zigeunerjazz bundesweit bekannt. Später traten Bavo Dege oder Lullo Reinhardt auf. Es entwickelte sich eine Freundschaft zwischen den Sinti und mir.
Aber: Immer wenn ich auf ihre Vergangenheit zu sprechen kam, wurden sie sehr einsilbig. Es dauerte Jahre, bis die Mutter eines Künstlers mir ein Interview vor der Kamera gab.
12 Jahre war sie alt gewesen, als die Gestapo sie aus der Schule holte und mit der Familie ins „Lager“ brachte.
Mir fiel auf, dass Zigeuner nie KZ sagten, sondern immer nur vom „Lager“ sprachen – so, als würden sie sich über das an ihnen begangene Unrecht schämen.
Nackt musste sie sich zum Appell auf dem Antreteplatz neben ihre Mutter stellen; eine unheimliche Erniedrigung für Sinti. Eltern würden sich nie nackt vor ihren Kindern zeigen.
Als die Kleine von ihrer Mutter wissen wollte, was das für Rauch sei, der am Rande des Lagers aufstieg, schärfte ihr die Mutter ein: „Da wird Brot gebacken. Hörst du? Und sage nie, nie etwas Anderes, auch wenn du etwas anderes hören solltest. Brot. Verstehst du? Brot.“
Was die Kleine nicht wusste, war, dass jeder, der vom Krematorium wusste, umgebracht wurde. Sie durfte deshalb die Wahrheit nie erfahren, solange sie im KZ war.
Zigeuner hatten es gegenüber Juden etwas einfacher im Lager. Sie wurden vom Wachpersonal besser behandelt und gerne zum Musizieren abgestellt.
So wie Daweli Reinhardt.
60 Jahre hat es gedauert, bis Daweli als 72-Jähriger das Geheimnis seines Lageraufenthaltes lüftete. Er tat sich schwer, seine Geschichte vor der Kamera zu erzählen. Wir gingen in den Stadtwald. Und erst als er sich sicher war, dass uns niemand zuhören konnte, durfte Kameramann Wolfgang Kaiser sein TV-Aufnahmegerät einschalten.
Mit 10 Jahren war er zusammen mit seiner Familie nach Ausschwitz deportiert worden. Als der Viehwaggon an der Rampe des Vernichtungslagers hielt, war die Jugend für Daweli zu Ende. Die Nazis hatten ihm bei der Registrierung den Namen genommen und ihn durch die Nummer Z 2252 ersetzt.
Z 2252 nannte ich auch meinen Film.
Wenn der Gitarrist mit seiner Band beim jährlichen Sinti-Festival auf Fort Asterstein zum Swing aufspielte, versteckte er die Z-Nummer nicht, redete aber auch nicht darüber. Sie gehörte wie selbstverständlich zu seinem Leben. Sie war Warnung und Aufforderung zugleich, dass in Deutschland nie wieder Nazis das Sagen haben dürften.
Ich erinnere mich, dass ich bei der Abnahme des Films Probleme mit einem fest angestellten Redakteur bekam.
Ich hatte die Nr. Z 2252 zu Klängen des Swings etwa 10 Sekunden freistehen lassen.
„Das ist zu lang“, sagte der Redakteur. Er war gerade von einem Lehrgang für Mediengestalter gekommen und hatte wohl noch die reine Lehre im Kopf.
„Nein!“, entgegnete ich, „in diesen 10 Sekunden gibst du dem Zuschauer Zeit, sich in das Unrecht von damals hineinzudenken.“
Es kam zu einem Patt, denn weder wollte er seine Meinung ändern noch ich meine. Ich ließ den Chefredakteur kommen.
„Wo liegt das Problem?“, fragte er, nachdem er den Streifen gesehen hatte.
Ich erklärte es ihm.
„Die Z-Nummer bleibt offen stehen“, schaute er den Festangestellten scharf an.
„Bilder wirken stärker als Worte.“
Ich empfand die Entscheidung nicht als Sieg, aber sie bestätigte mir, was ich in Hamburg gelernt hatte: „Fakten aufzeigen.“ Was sind schon 10 Sekunden Z 2252 im Bild gegenüber sieben Jahren Konzentrationslager?
Inzwischen gehören die Sinti von Koblenz zum festen Bestandteil der Kultur an Rhein und Mosel. Und auf eines war Daweli besonders stolz: Der Koblenzer Oberbürgermeister Eberhard Schulte-Wissermann hatte ihn zum „Botschafter der Stadt“ ernannt.
Nach Lullo Reinhardt gar ist ein Platz in Koblenz benannt. An Zusammenfluss von Rhein und Mosel, so scheint es, hat man die Vergangenheit bewältigt. Zigeuner sind heute anerkannter Bestandteil des öffentlichen und kulturellen Lebens.
Ein anderer Sinto hatte auf dem Asterstein eine ehemalige preußische Unterkunft als Werkstatt eingerichtet. Dort lebte Hatscha Reinhardt mit seiner Familie. Er und sein Sohn Feigeli reparierten antike Möbel nach denselben Methoden, wie sie die Hersteller vor Jahrhunderten anwandten; alles per Hand und mit den alten Werkzeugen. Das Holz dazu gewannen sie aus alten Dachstühlen. Nichts sollte daran erinnern, dass da ein Restaurator am Werk war.
Museen und Antiquitätenhändler gaben sich bei Hatscha die Klinke in die Hand.
Als ich über den Kunstschreiner ein Portrait filmte, wollte ich die ganze Familie mit einbeziehen. In der Küche sollte Zigeunerjazz gespielt werden, so wie Sinti das oft nach getaner Arbeit tun. Für die Schlusseinstellung lies ich die Kamera vor dem Haus aufstellen. Der Kameramann sollte die Band im Zimmer durch das Fenster aufnehmen und dann auf eine Mariengrotte im Garten schwenken. Mit dieser Einstellung wollte ich auf die tiefe Religiosität der Zigeuner hinweisen.
Doch als sich die Hausmusiker hinsetzten, um zu spielen, stand ein älterer Herr auf und verließ das Zimmer.
„Mein Vater“, sagte Hatscha. „Er meidet Deutsche und spricht nicht mit ihnen.“
Mir war klar, warum. Auch er war im „Lager“ gewesen. Ich musste das respektieren.
Als der Film längst gesendet war, besuchte ich nochmals die Sinti-Werkstatt wegen eines anderen Projektes. Es ging um Fußball, denn die Sippe der Reinhardts war so groß, dass sie in der Kreisklasse mit einer eigenen Fußballmannschaft antrat.
Mitten im Gespräch ging die Tür auf und der Vater von Hatscha kam auf mich zu. Er gab mir die Hand und fragte, ob ich in seine Anliegerwohnung kommen könne. Seine Frau habe etwas zum Essen vorbereitet.
Verwundert und gleichzeitig erfreut nahm ich an. Es wurde ein längerer Abend. Und ich erfuhr, dass er von meinem letzten Film sehr beeindruckt war. Ich hätte es verstanden, die Seele der Zigeuner zu lesen und sie einfühlsam wiedergegen.
Ich habe immer nur den Zaun gesehen.
Eine andere Begegnung mit dem Nationalsozialismus erfuhr ich durch Ernst Heimes. Heimes war Buchhändler, aber auch Kabarettist. Er trat öfter mal mit der Gruppe Rohr verstopft in meinem Statt-Theater auf. Einmal erzählte er mir, dass er ein Buch über ein KZ moselaufwärts schreiben wolle und er es sehr schwer habe, die Geschichte zu dokumentieren, weil die Leute mauerten.
Als er nämlich über die KZ-Außenstelle Bruttig-Treis an der Mosel recherchierte, wollte anfangs kein Bewohner mit ihm sprechen. Viele schüttelten nur den Kopf und sagten: „Ich habe immer nur den Zaun gesehen.“ Was da drinnen vorging, davon hätten sie nichts gewusst.
Für mich war das natürlich auch ein Thema. Die Landesschau gab ihr Okay zu einem 3-Minuten-Beitrag. Ich habe Heimes begleitet.
Bei meinen Dreharbeiten musste ich dann ebenfalls sehr schnell feststellen, dass die Bewohner dem Ruf ihrer Gemeinde nicht schaden wollten und „von nichts wussten“.
Ernst Heimes aber ließ nicht locker. Er wollte wissen, was die SS mit den dort arbeitenden Gefangenen gemacht hatte. Schließlich fand er heraus: