Briefe aus dem Grand Hotel. Helmut H. Schulz

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Briefe aus dem Grand Hotel - Helmut H. Schulz


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lassen, ob ihr Auftreten auch jederzeit dem eines Bürgers der DDR würdig gewesen sei, als ob es eine Auszeichnung gewesen wäre, ihr anzugehören. Der Staat hatte in seinen Flegeljahren sogar einen Nationaldichter, Becher, zu einer eigenen Hymne veranlassen können.

      Die ganze Staatsaffäre reicht bis weit ins vergangene Jahrhundert zurück, als sich die proletarische Klasse ihre Befreiung nur als gesamtnationale und revolutionäre Tat vorstellen konnte. Paradoxerweise fällt die Formierung der Sozialdemokratie mit dem Aufstieg des wilhelminischen Kaiserreiches zusammen, als ob der Nationalstaat den marxistischen Internationalismus revisionieren wollte oder musste. Auch aus wirtschaftspolitischen Gründen hätte das Volk der DDR ein zu heroischen Leistungen und zur Hinnahme von Mängeln befähigtes Staatsvolk sein müssen, aber Zulauf hatte die junge DDR vor allem unter zwei Aspekten:

      Ein Staat der in weiter Zukunft - etwa um das Jahr 1990 - Freien und Gleichen wäre zu begründen; jeder sollte dann im Genuss der selben Rechte und Pflichten sein. Dies war unmittelbar nach dem Zusammenbruch eine ungeheuer große Verlockung, ein geistiges wie politisches Abenteuer, die unser deutsches Volk mehr als andere Völker stets bereit ist einzugehen, mögen auch alle geschichtlichen Erfahrungen dagegenstehen, und wenn alle Klugscheißer zur praktischen Vernunft raten.

      Der zweite Gesichtspunkt bestand in einem großen Komplex, dem Antifaschismus der unterschiedlichsten Prägung. Das - Nie wieder! oder das - Wenigstens nicht gleich! beherrschte das öffentliche Denken namentlich unter den Angehörigen der jungen Generation, die den Krieg noch in seiner härtesten Form kennengelernt hatten, und die ihren Glauben an Hitler, an die deutsche Sendung mit Gefangenschaft, mit Krankheit und Verarmung bezahlen mussten. Sehen Sie sich um, mein werter Herr Verleger! Sie werden in Ihrem Bekanntenkreis einige typische Vertreter dieser Schicht treffen, und zwar in allen Lagern. Ein gut Teil der uns heute, Ihnen wie mir, so unverständlichen Akte des Byzantinismus, der Unterwerfung unter die Sieger und der öffentlichen Selbstkritik, der Denunziation und der Mimikry, der Verbiegungen und Verbeugungen geht mit Sicherheit auf den Komplex der Verpflichtung zurück, gegenüber der eigenen Geschichte etwas gut machen zu müssen. Und dieses deutsche Volk ist sicherlich wie kein zweites zur kollektiven Selbstreinigung bereit gewesen, entgegen allem Zweckgerede der Altemigranten, die nicht genug bekommen können an Sühne und deren Rachegelüste unbefriedigt geblieben sind.

      Auf eines können Sie sich immer verlassen: dieses Volk will es stets besonders gut machen, und so wird auch die jetzt fällige Phase der Bestrafung, Entsühnung und Belohnung für wirkliche oder eingebildete Standhaftigkeit wie für den bezahlten Verrat eine unmäßig große Dimension bekommen, wenn nicht alles täuscht, und wenn es das ostdeutsche Volk nicht tatsächlich fertig bringt, verspätet noch Staatsvolk zu werden, das heißt, politisch handeln lernt.

      Irgendwo auf dem Wege in die Utopie geriet der Staat dann allerdings in die Stagnation, verlor seine Ziele aus den Augen oder reduzierte sie auf wechselnde Objekte, versachlichte seine Politik, in der verzweifelten Hoffnung, endlich aus den ökonomischen Zwängen herauszukommen. Eskalierender Altersstarrsinn und störrischer Machtwahn, so stellt sich die Führungsclique dem Beobachter nicht erst seit heute dar. Hinzu kam die Unverhältnismäßigkeit der Mittel im Kampf gegen Staatsfeinde und Dissidenten, bei Korrumpierung großer Teile des als dienend gedachten Apparates. Die Dissidenten stellen naturgemäß den kleinsten aktiven Teil der Bürgerrechtler, Dissidenz setzt die Zugehörigkeit zu einer Glaubensgemeinschaft voraus, aus der man sich löst. Damit hat das Volk aber nichts zu tun. Als Gruppe sind Dissidenten auch nicht zu beschreiben, da sie sich regelmäßig bekämpfen. Sie sind bloß dissident, das ist alles. Diese Männer und Frauen wurden geduldet, aber kaum verstanden, wie ich Ihnen schon mit Blick auf den Stadtbezirk Prenzlauer Berg beschrieben habe. Nachsichtige Duldung aber heißt noch lange nicht, dass man ihnen auch die Fähigkeit zur politischen Führung zutraut, eher das Gegenteil ist der Fall.

      Um auf Ihre Frage zurückzukommen, ob sich die deutsche Einheit am Himmel Europas abzeichnet; bedenken Sie eines: Der Osten hat heute keine andere Alternative als den Anschluss an das, was die Leute hier instinktiv als Deutschland bezeichnen. Sollten sie sich an Polen oder Dänemark anschließen? Zweitens handelt es sich um etwas historisch Begründetes. Der Reichsgedanke hat in den Köpfen der Sachsen und Mecklenburger, der Pommern und Thüringer in der Form des modernen Staates, eines Rechtsstaates, vielleicht unklar, aber umso sicherer Platz gehabt. Viel schwieriger scheint Ihrem Korrespondenten eine Antwort auf die Frage, wie der Westen mit dem Problem eines einzigen deutschen Staates in Europa umgehen wird, angesichts einer NATO, die alsbald ohne einen sie stabilisierenden bewaffneten Gegner an ihrer Ostgrenze leben muss, und einer Bundesregierung, deren Politik, ob sie es will oder nicht, sich notwendigerweise nach Osten zu richten hat, und zwar aus der gleichen Ursache, die der DDR zum Verhängnis wurde, der Wirtschaft, dem Handel. Die Welt beginnt, sich sichtbar zu verändern. Wir werden, soweit es die Staatsstreichregierung Modrow betrifft, mit einem kurzen Interim rechnen müssen, denke ich, deren Aufgabe bloß darin besteht, die Diktatur abzulösen und die DDR fix in einen Mehrparteienstaat umzubauen, mit einem Parlament, einer neuen oder leicht überarbeiteten Verfassung. Das wird verhältnismäßig schnell gelingen, weil es die leichtere Arbeit ist, und weil nichts ganz neu erfunden, sondern nur angepasst werden muss.

      Wir werden also demnächst viele, sehr viele politische Reden vor dem Hohen Haus Volkskammer zu hören kriegen, aber nur wenig Praktikables zur Wirtschaft. Darin nämlich liegt bei dem Interim der Staatsstreichregierung das Handicap. Und die Leute werden das Unvermögen der neuen Herren, eine auf Wachstum gerichtete Industriepolitik einzuleiten, geradezu riechen.

      Aber diese künftige DDR des kurzen Interims wird ein Staat sein, in dem jeder frei reden und schreiben kann, um alsbald zu merken, wie wenig Einfluss diese Art Freiheit im beschränkten bürgerlichen Leben auf die gesellschaftliche Entwicklung wie auf die Politik wirklich hat. Wer tatsächlich im Besitz der Macht ist, dem sind diese demokratischen Vehikel Mittel, jedoch nicht Zweck. Es werden sich die Leute frei bewegen können, bei etwas höherem Konsum und mit allen kulturzerstörerischen Nachteilen dieses Gesellschaftstyps. Mehrere Eigentumsformen werden eine kurze Frist lang vielleicht nebeneinander existieren können, aber später, als die Entwicklung behindernd, aufgegeben werden, unter großen Opfern der Gesellschaft und mit Schmerzen für den Einzelnen. Das Niveau der allgemeinen Standards, vor allem im Bereich der sozialen Versorgung, muss zwangsläufig und längerfristig niedriger liegen als in der Bundesrepublik. Und es wird später allgemein sinken müssen, nach der Logik, dass weniger unter einer größeren Masse aufgeteilt werden muss.

      Heute noch mag manch einer der Staatsstreichler von einer Föderation zwischen zwei deutschen Staaten und verschiedenen Wirtschaftsverfassungen als dauerhaft nebeneinander bestehend, träumen, auch davon, dass er seine Haut unbeschädigt in dieses heraufziehende Zeitalter hinüberretten werde.

      Nächtens tagen im Grand Hotel die neuen Herrschaften mit den Vertretern des Westens. Pläne werden im Dutzend angeboten; wer sie liest, wie wir es gelegentlich tun dürfen, wenn uns einer in die streng geheimen ökonomischen Papiere einen Blick gestattet, der versteht das diskrete Lächeln des Bourgeois, eines Bank-Managers, Industrieführers angesichts solch bodenloser Einfalt und oft sympathischer Phantasien nur zu gut.

      Man rüstet sich zur Reise nach Bonn; man, das ist eine Regierungsdelegation, und sie hofft auf ein Gnadengeschenk von einigen Zig-Millionen; die Summe ist derart lächerlich hoch, dass die Bankiers am Frühstückstbuffet, von dem sie sich nur sparsam bedienen, wegen ihrer meist angegriffenen oder auch schwachen Gesundheit, darüber in bestürztes Schweigen fallen, Leute, die ihr Kleingeld zählen und zwar täglich. An und für sich würden die Kosten ja aufzubringen sein, wären nicht die Nebenumstände.

      Sie werden Ihrem Korrespondenten entgegen halten, es handele sich um trübe Aussichten, ganz richtig. Sie werden die Ihnen so teure rheinische Republik in einigen Jahrzehnten voraussichtlich nicht wiedererkennen. Hier jedenfalls wird es nicht mehr ganz so stürmisch weitergehen, aber mit umso nachhaltigeren Veränderungen. Finden die neu gewendeten Parteien erst einmal den Anschluss, so wird das Feld nach der Mitte gleiten, nicht erdrutschartig, aber in der Tendenz, weil gar nichts anderes bleibt, es sei denn der nationale Verrat, den wir aber vorerst ausschließen wollen. Ob Sie einen deutschen Nationalstaat, eine vergrößerte Bundesrepublik, wovon sicherlich nicht wenige träumen, oder eine Föderation mit einem quasi-sozialistischen Einsprengsel am Tropf des deutschen Steuerzahlers


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