Dame in Weiß. Helmut H. Schulz
Читать онлайн книгу.sind die besten auf der, Welt. Indianer sind genaugenommen Mongolen.«
Schott blätterte in dem Buch. Er besah die Bilder und nörgelte: »Die sehen ja aus wie Weiber!«
Alle wollten jetzt die Zeichnungen betrachten. Wir rissen uns beinahe das Buch aus den Händen. »Die haben Kuhhörner am Kopf.«
»Wie die Irokesen«, bemerkte Jendokeit.
Ungeduldig erklärte Ludwig: »Das sind keine Irokesen, Mensch, sondern junge germanische Krieger. Sie ließen sich die Haare wachsen, bis sie einen Feind getötet hatten. Sie schworen einen Eid. Der größte ihrer Könige hieß Teja, schwarz, finster, todbringend ...«, wir sahen ihn an, musterten seine dunklen Haare, seine finster blickenden Augen unter der hervortretenden Stirn, und er brachte es fertig, uns vergessen zu lassen, dass wir kleine Jungen waren, die sich vor ihren Eltern fürchteten, die ihr Lehrer Zissel bis in die Träume verfolgt hatte, die Granatsplitter sammelten und verhökerten. Wir wurden selber zu langschopfigen tapferen Kriegern. Unsere Fantasie holte ins Gegenwärtige, was wir anders nicht erfassen konnten. Und selbst unser Protagonist, uns geistig voraus und überlegen, begriff kaum, was er redete: »Gebt Raum, ihr Völker, unserm Schritt / Wir sind die letzten Goten / Wir tragen keine Krone mit / Wir tragen einen Toten ...«
»Hör zu, Weißer Adler ...«
»Ich bin Teja«, verkündete Goll. Es klang wie ein neues Gesetz; die bunte Welt der Indianer erhielt ein nordisches, helleres Pendant.
Dann erschien Ludwigs Mutter mit einem Tablett. Es gab Kakao und süßes Gebäck, wir verwandelten uns wieder in normale kleine Menschen. Ich beobachtete, wie die Blicke der Mutter sorgenvoll dem humpelnden Sohn folgten. Mir stieg die Schamröte ins Gesicht. Als wir uns auf der Diele verabschiedeten, sagte Jendokeit: »Frau Goll, wir sind ja mit dabei gewesen, als das mit Ludwig passierte, es tut uns sehr leid. Wird er nie wieder richtig gehen können?«
Sie nickte. Tränen stiegen ihr in die Augen, und sie schob uns hastig hinaus.
Im Jahr vor der Umschulung wendete ich mich stärker meinem Vater zu. Der kindlichen Spiele überdrüssig, interessierten mich seine Spiele, die Spiele der Männer. Als Kaufmann war er ein guter Rechner, diese Fähigkeit kam seiner neuen Arbeit zugute. Vermutlich bot ihm die Beschäftigung mit mathematischen Problemen eine Möglichkeit zur Flucht vor anderen, sozialen Fragen. Es mochte seinen Grund haben, wenn er mich anherrschte: »Eben nicht sechs Äpfel, du Dussel. Das ist ja gerade der Witz dabei, a sind keine sechs Äpfel, sondern a ist einfach a. Verstehst du?«
Ich war zehn Jahre alt, hatte von Algebra keinen Schimmer und sah ihm wissbegierig über: die Schulter, wenn er konzentriert arbeitete.
Nach wie vor trug er elegante Anzüge, zartblaue Hemden und auffallende Krawatten; er zupfte an den Bügelfalten herum, um sie an den Knien nicht auszubeulen. Sein Haar war sorgfältig kurz geschnitten und gescheitelt. Auf der kleinen Nase saß eine Goldbrille, sein Bruder, von Beruf Optiker, hatte sie angefertigt; das feste Kinn mit den dünnen Lippen bildete eine erste Speckfalte, wenn mein Vater den Kopf auf die Arbeit senkte. Er verbrachte viel freie Zeit am Schreibtisch; er müsse irgendeine Prüfung ablegen, hörte ich ihn wie entschuldigend sagen, aber das Lernen schien ihm nicht schwerzufallen.
Hin und wieder gönnte er sich eine Pause, holte einen kleinen Block mit steifem, hartem Papier hervor - sein leider stets verschlossener Schreibtisch schien mir unerschöpflich an Wundern dieser oder jener Art - und begann mit Wasserfarben zu malen. Immer malte er gleiche oder ähnliche Motive, Bäume, Seen und sanft abfallende Uferzonen. Diese Malerei ging ihm rasch von der Hand. Bedeutung maß er dieser Kunst jedoch nicht bei.
»Das muss nass und ganz dünn aufgetragen werden«, er führte meine Hand, erlaubte mir, auch, seine Malerei zu kopieren, und eines Tages ließ er sich dazu bewegen, einen Indianerkopf zu malen. Glänzend entledigte er sich dieser Aufgabe; ich kopierte den Kopf etliche Male, bis mir eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Vorbild gelungen war.
Er besaß auch ein kleines Schülermikroskop, mit dem wir experimentierten. Als Untersuchungsmaterial dienten uns Stubenfliegen oder Schmetterlinge und andere Insekten, die wir auf dem Balkon, fingen. Mein Vater stellte einen Heuaufguss her und zeigte mir die ungeahnt lebendige Welt, ein Gewimmel einfachen Lebens. Während des Sommers sammelte er Gräser und Pflanzen und presste sie zwischen Büchern. Sein Herbarium wuchs von Jahr zu Jahr, und sein kleines Zimmer muss ihm wie ein Refugium erschienen sein. Er ging kaum aus, und manchmal hörte ich meine Mutter darüber klagen.
»Wir können doch nicht immer zu Hause sitzen.« Sie häkelte an ihren Decken; eine Arbeit, bei der sie immer gereizt war.
Er nickte seelenruhig. »Doch. Wohin willst du denn gehen?«
»Hast du keine Angst, ich könnte mal allein gehen?«
Manchmal wurden Türen geknallt, meine Mutter hämmerte auf dem Klavier herum, und mein Vater sagte: »Sie hat wieder ihren Vogel.«
Im Winter betrieb er eifrig Astronomie, er kaufte Bücher von Bruno H. Bürgel, verschaffte sich Karten und Sternenabbildungen. Gelegentlich, wenn es nicht zu spät werden würde, durfte ich mit nach Treptow in die Sternwarte. Es gab Fachleute und Laien, die sich stundenlang in grimmiger Kälte vor dem Spiegelteleskop aufhielten, um den Lauf der Gestirne anzusehen.
»Papa, wie weit sind die Sterne weg?«
Seine Ruhe und Geduld paarte sich mit Ehrfurcht. »Unvorstellbar weit, ungeheuer weit.« Er suchte nach einem Bild für mich, nach einem Ausdruck, der kosmische Größe hätte erklären können. »Man rechnet da nicht mehr in Metern oder so, sondern - das verstehst du nicht.«
Ich verstand nicht, aber wir berechneten die Entfernung zwischen Erde und Sonne, da ich immerhin schon multiplizieren konnte. Mein Vater zerlegte mir die Aufgabe in eine Reihe von leichten Multiplikationen.
Meine Mutter bemerkte: »Was soll denn der Blödsinn?
Was hat das Kind davon? 'Meinst du, es hat jetzt einen besseren Begriff vom Universum als vorher?«
»Wenn er keine Lust hat, kann er ja aufhören.«
Überstieg, was ich tat, mein Begriffsvermögen, so tat ich es doch gern, denn der Kontakt zu meinem Vater befriedigte mich sehr. Ich wollte von ihm anerkannt werden und suchte ihm natürlich auch Fertigkeiten abzusehen, die mir bei meinen Freunden ein besseres Ansehen gaben. Seinen Indianerkopf hatte ich kopiert, ich kam aber nicht auf den Gedanken, seine Arbeit für meine auszugeben; es war mein Vater, der das alles schuf, und ich hatte daran teil, weil ich sein Sohn war. Bald durchschaute ich auch, dass meinem Vater unter allen Vätern, die ich mit der Zeit kennenlernte, ein besonderer Rang zukam - nicht in der sozialen Welt, sondern in der Welt des Geistes. Er war für mich etwas Besonderes. Auf Schritt und Tritt erwartete ich Auskünfte von ihm, und meistens bekam ich sie auch.
Vielleicht wählte er bei unseren Ausflügen oder Beschäftigungen immer die Situation, die ihm Gelegenheit gab zu belehren. Allmählich stieg mein Respekt vor seinem Drang nach Wissen ins Unermessliche. Mochte es mit seiner gelehrten Bildung wenig auf sich haben; für meine Erziehung war die Vermittlung empirischer Methoden, das Erwecken von Neugier wichtig.
»Mama, glaubt Papa an Gott?«
»Hm, er sieht Gott in der Natur.«
»Papa, glaubst du an Gott?«
»Hm, als Materie, als Geist - später, mein Sohn, alles hat seine Stunde.«
Meine Tante Barbara legte das widersprüchliche Gerede so aus: »Das haben sie gesagt? Natur ist Sünde, Geist ist Teufel, sie tragen zwischen sich ..., ach, kleiner Mann, wenn du wüsstest, wie viel Zeit du noch hast.«
Meine Tante Barbara und mein Vater waren sicherlich der denkbar größte Gegensatz, er missbilligte ihr Leben, sie dagegen respektierte ihn, und in diesen Haltungen drückten sich ihre und seine Grenzen aus. Sein Moralbegriff war eng.
»Papa, Barbara ist meine Lieblingstante.«
Er schwieg, und ich wollte ihm Zustimmung abringen.
»Wirklich.«
Er gab keinen Laut von sich.