Dame in Weiß. Helmut H. Schulz
Читать онлайн книгу.gegen die helle Frontsichtscheibe, eine lange Stirnlinie ging in einen geraden Nasenrücken über; Oberlippe, Mund und Kinnlinie, das lockere Haar erinnerte an die Frisur oder Unfrisur Barbaras. Meine Schwester redete mit rauer, heiserer Stimme, die gut zu ihr passte; sie leitete eine Bankfiliale. Sie war das, was man erfolgreich nennt. Ihr Mann war Jurist.
»Ist das alles jetzt nicht ganz gleichgültig geworden«, sagte meine Schwester.
»Was weißt du denn?« Verena war sichtlich froh, sie zum Sprechen gebracht zu haben. »Ich meine, es ist nicht gleichgültig, wer dein Vater gewesen ist.«
Wütend schaltete meine Schwester, sie fuhr sehr schnell die Klement-Gottwald-Allee hinauf, sie erinnerte sich offenbar sehr gut der alten Straßenverläufe.
»Fahr die Ostseestraße rechts hinein«, sagte ich, »es ist der kürzeste Weg.«
»Heißt sie noch Ostseestraße? Ihr habt doch die Manie, alle Straßen umzutaufen.«
»Was ich immer sage ...« Verena legte ihre kleine, zerbrechliche Hand auf den Arm ihrer Tochter, »eine rein idiotische Manie, alle Straßen dauernd umzubenennen. Kein Mensch findet sich noch in Berlin zurecht.«
Wir fuhren bis zur Hallandstraße, meine Schwester parkte ihr Auto, dann gingen wir nach oben in unsere Wohnung.
Meine Schwester setzte sich zu mir in das alte Arbeitszimmer unseres Vaters, vielleicht nicht ihres Vaters, sie rauchte und sah mich an.
»Und wann kommst du uns besuchen«, fragte sie.
Die Frage enthielt den Kern eines unausgetragenen Zwistes. Sie wusste, dass ich keine Möglichkeit hatte, sie zu besuchen, und ich wusste, dass sie mit den Gegebenheiten vertraut war. Jeden Tag konnten sich die Verhältnisse zum Schlimmeren wenden, wir machten uns nicht klar, dass wir am Rand eines Abgrundes lebten. Ich zog es vor zu schweigen.
»Bist du immer noch allein«, fragte meine Schwester.
Es war eine lange Geschichte, die meine Schwester und ich irgendwann einmal erörtern mussten, jetzt dachte ich an Felix, und wenn es etwas gab, das uns band, dann war es unser Bruder Felix.
Meine Mutter rief zum Tee, wir gingen hinüber in ihr Zimmer, setzten uns an ihren kleinen runden Tisch mit der zierlichen Decke.
»Ich habe Bilder von Felix gefunden«, sagte Verena, während sie uns Tee eingoss und Gebäck zurechtstellte. Meine Schwester langte nach den Bildern, ich warf einen Blick auf die Fotos, ich kannte diese Bilder.
Verena seufzte. »Er war ein schönes, zartes Kind, sein Geist war leicht und lebendig, etwas Träumerisches war immer um Felix. Keins meiner Kinder war so wie er«, sie blickte uns nacheinander an, »wenn eins meiner Kinder, eins von euch, nicht dieselben Eltern gehabt haben sollte - ich streite es ja nicht ab, ich weiß es nicht, ihr wisst es nicht, und so wollen wir die positivste Möglichkeit annehmen -, dann war es nicht Roka, sondern Felix.«
Sie brachte es fertig, über diese Dinge wie über einen Vorgang zu reden, der nichts mit ihr zu tun hatte, der sie nichts anging. Meine Schwester behielt ihr Schweigen bei. Ich wusste, dass wir noch Zeit haben würden zu sprechen.
»Gehst du mit Hans weg?«, fragte meine Mutter.
»Ich habe vor, zuerst bei dir ein paar Tage zu bleiben, Mutter, dann will ich zu ihm«, sie nickte mir zu, »wenn es dir recht ist«.
»Mir ist es recht«, sagte Verena Stadel, »Wird dich dein Mann abholen?«
»Wir reisen von hier aus nach Kanada. Bob will fischen; lange Ferien.«
Verena begann zu schwärmen: »Da habt ihr es, wir reisen von hier aus nach Kanada. Ihr wisst überhaupt nicht, wie gut ihr es habt.«
Meine Schwester sah mich an, und ich erklärte ihr, dass ich Verena eine Reise nach Ungarn, oder wohin sie sonst wollte, vorgeschlagen, ohne dass sie eingewilligt hätte.
Meine Mutter lachte hellauf. »Er versteht nichts, dein Bruder versteht nichts, das ist köstlich an ihm. Was geht mich Ungarn an? Mir liegt nichts am Reisen. Ich kann nicht, falls ich es wollte, wohin ich will. Man verwehrt es mir. - Denkst du wirklich, ich würde mit dir nach Ungarn reisen? Ich würde vielleicht dort sterben, weil ich das Klima nicht vertrage oder das Essen, und es soll auch sehr unsauber in Ungarn sein.«
Meine Schwester bekundete weder Zustimmung noch Ablehnung.
»Dein Bruder ist recht trocken geworden, mein Kind«, sagte meine Mutter, »die Luft hier bekommt ihm nicht.«
Kapitel 5
Zehnjährig machte ich einen Schritt ins soziale Leben, den Ersten. Den Ersten? Zumindest einen Wichtigen ...
»Wir kauften deine erste Uniform, Hannes, ich entsinne mich daran wie heute. Da gab es ein Geschäft für Uniformen und Effekten in der Schönhauser Allee. Dort bekamen wir alles, was du brauchtest, die schwarze Cordhose, das braune Hemd mit den Achselstücken und den aufgenähten Taschen, den Lederknoten, durch den ihr das schwarze Fahrtentuch zogt, und ein Käppi. Dazu gehörten ein Koppel mit Schulterriemen und ein Paar Bundschuhe. Wir kauften auch gleich die, Winteruniform, lange Hosen und Bluse; so etwas wie einen Waffenrock. Das Fahrtenmesser bekamst du erst nach einer Zeit der Bewährung, ich glaube, ihr musstet einen Schwur leisten oder etwas Ähnliches ...«
Jendokeit, der Schleppfuß Goll, Bruchner und Schott, so hockten wir eines Nachmittags uniformiert, das Käppi übers Knie gelegt, in meinem Zimmer in der Hallandstraße. Goll musste das Bein seitlich wegstrecken. Wir begutachteten uns.
»He, Teja, ist deine Hose nicht etwas lang geraten?«
Goll schüttelte den Kopf. Getragen wurde die Hose eine Handbreit über dem Knie, es gab für alles Vorschriften. Die Hand lang über den Nasenrücken gelegt, musste die Spitze des Käppis in der Verlängerung des Zeigefingers liegen; leicht schräg durfte das Käppi jedoch stehen.
Schott, zwar nicht der Größte von uns, aber der Behäbigste und Schwerste, sah in Uniform miserabel aus. Jendokeit hatte, wie es schien, nie etwas anderes getragen, und das lahme Bein gab Goll zusammen mit der Uniform sogar etwas Gestandenes, im Kampf Gewesenes.
Meine Mutter kam herein, »Lasst euch mal ansehen.«
Wir stellten uns in eine Reihe, verlegen lachend, aber mit Stolz auf die neue Würde, und meine Mutter rückte an den Sachen, bis sie mit deren Sitz zufrieden war ...
»Ihr seid richtig nette kleine Jungen gewesen, wie Kadetten: die kurz geschnittenen Haare, die sauberen Hände und die fröhlichen, frischen Gesichter, gesund und wohlgenährt - man konnte vergessen, dass wir uns im zweiten Kriegsjahr befanden.«
Auf dem Hof einer Schule standen wir in Reih und Glied, der Länge nach, in drei Staffeln. Ein größerer Junge stand mit gespreizten Beinen vor uns, die Hände in die Seiten gestemmt, und musterte uns ernst. Auf seinen Wink kamen ein paar andere ältere Jungen, die unsere Fußstellungen korrigierten - wie ein rechter Winkel gebildet wurde, wussten die wenigsten von uns, aber genau in diesem Winkel hatten die Füße zu stehen. Die Hände an der Hosennaht, Arme leicht angewinkelt, sodass eine Lücke zwischen Armbeuge und Körper entstand - so lernten wir die ersten militärischen Kommandos, lernten den Gleichschritt, das Ohne-Tritt-Marsch, lernten, wie man richtig rechtsum macht, wie man grüßt, den Arm hochreißt und den Kopf zum Vorgesetzten hindreht
Wir hatten Vorgesetzte mit Fangschnüren von der Achsel bis zur Brusttasche und Rangabzeichen auf den Ärmeln. Und wir hatten eine Fahne. Und wir hatten Trommeln, die langen, dumpf bellenden Landsknechtstrommeln, die im Rhythmus des Marschtritts der alten Heere dröhnten: Hüt-dich-Bauer-ich-komm, hüt-dich-Bauer-ich-komm ..., eine Schlagfolge, die auf längere Dauer in einen stumpfsinnigen Trott fallen lässt, man geht nur noch mit halbem Bewusstsein, aber man geht, an diesen Kolonnenschritt gefesselt,
Nach unserem Eintritt in das Jungvolk hatten wir wöchentlich zweimal Dienst, Geländespiele nach dem Schema: Der Feind sucht die Fahne zu gewinnen - die Partei, welche die Fahne zuletzt im Besitz hat, ist die Siegerpartei. Bann hieß der dem Fähnlein folgende größere Verband,