Dame in Weiß. Helmut H. Schulz

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Dame in Weiß - Helmut H. Schulz


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deutete mit der Spitze auf eine Eiche und sagte: »Die gab es damals schon. Die Eichen werden wohl noch lange stehen. Ist unser Leben so nichtig, an diesen Bäumen gemessen?«

      »Er war in Kielce, Mama, in Radomsk und in Krakow.«

      »Richtig, du bist in Oberschlesien gewesen. Ich lebte in Kerstenbruch bei dem Bruder des alten Stadel, ach ja, ich hatte Veronika schon«, sie stieß mich an, »was hat deine Schwester eigentlich gesagt, ehe sie abreiste«?

      »Was soll sie gesagt haben?«

      »Ihr hattet doch wieder die alte Geschichte vor, ich weiß Bescheid.« Sie seufzte, wie es ihre Art war, wenn sie vorgab, ein Geständnis abzulegen. »Hannes, ich weiß wirklich nicht genau, ob sie von diesem jungen Fliegeroffizier ist oder von deinem Vater, zeitlich wäre beides möglich. Dein Vater war in dieser Hinsicht ein ruhiger Mann, mehr als ruhig, mehr als ich gewünscht hätte. Trotzdem haben wir immer ehelich gelebt, das sollst du wissen. Wir hatten damals nicht viel gemeinsam. Und seltsamerweise wollte ich dieses Kind, gerade wegen der Ungewissheit, ich wollte deine Schwester.« Sie legte Aufrichtigkeit in ihre Stimme. »Als sie zur Welt gekommen war und du ihr den anderen Namen gegeben hattest, als du mir zu verstehen gabst, dass du alles wusstest oder zu wissen meintest, da war ich erschrocken.«

      Ich fiel ihr ins Wort. »Mama, was soll das heute noch? Die Sache ist ganz einfach. Ich hatte Augen im Kopf. Im Krieg reift Jugend immer schneller als zu gewöhnlichen Zeiten.«

      »Siehst du, gewöhnliche Zeiten«, begeistert stimmte sie zu. »Es waren ungewöhnliche Zeiten. Aber es ist auch wahr, dass es mich schmerzte, weil alle auseinandergingen, ich nach Kerstenbruch, du nach Oberschlesien, dein Vater nach Kielce, meine Schwester nach Weimar. Und der alte Stadel lebte ganz in Wendisch-Rietz, jeder von uns war nur noch von Fremden umgeben.«

      »Deine ungewöhnlichen Zeiten sind also auch für dich nicht leicht gewesen, Mutter?«

      Sie ließ mich stehen und strebte dem Hauptweg zu, der zur Straße führte und in die Schönhauser einmündete. Ich folgte ihr. Wir setzten uns ins Auto. Ich fuhr an.

      »Du bist unausstehlich«, sagte sie.

      Nach einer Pause: »Weshalb man euch, damals auf Schiffe verladen hat, ist mir bis heute schleierhaft. Mit der Bahn wäre die Sache binnen eines Tages zu erledigen gewesen.«

      »Ich habe es auch nicht begriffen, aber es ist eben so gewesen. Wahrscheinlich war es der billigste Transportraum, den es damals gab.«

      Der alte Stadel half beim Packen. Zwei Koffer wollte Verena mitnehmen, Wäsche und Kleidung für sich und Veronika. Mattias bremste seine Schwiegertochter. »Du kannst nicht alles mitnehmen, Rena.«

      Er sah auf die Uhr, die an einer schweren goldenen Kette hing, und drängte: »Mach, beeil dich, in zehn Minuten kommt mein Bruder.«

      Meine Mutter hielt ein zerknülltes feuchtes Taschentuch in der Hand, und ich litt die Qual der bevorstehenden Trennung, des, Verlustes all dieser Sachen, die unser Zuhause ausgemacht hatten. Später saßen wir neben den beiden prallen Koffern und dem Kinderwagen, in dem meine kleine Schwester Veronika schlief.

      »Solltest du nicht auch deinen anderen Jungen mitnehmen«, fragte der Alte.

      Sie schüttelte den Kopf. »Felix ist bei meinen Eltern gut aufgehoben.«

      Die Stimmung war frostig. Wenn Mattias noch etwas für seine Schwiegertochter tat, dann wegen seines Sohnes. Er reichte ihr zwei Finger, als er sich von ihr verabschiedete. Mich presste sie an sich; ich habe in meiner Kindheit einige Dutzend Male diese Art Schmerz durchlebt, bis mich der Aufwand an Gefühl erschöpft hatte. Wenn Trennung schon unvermeidlich war, wenn sich schon nichts dagegen tun ließ, dann war es besser, man ignorierte die Trennung, man gab sich besser nur die Hand, als sähe man sich in zwei Stunden wieder.

      »Mein Junge, bleib gesund und schreib sofort deine Adresse.«

      »Ja, Mama.«

      »Damit ich dir auch sofort schreiben kann, hörst du? Lass mich nicht ewig auf ein Lebenszeichen warten. Eine Karte genügt mir.«

      »Ja, Mama, natürlich, ich schreib dir sofort.«

      »Versprich es mir!«

      »Ich versprech es, ich schreibe dir sofort eine Karte.«

      Sie zitterte, und sie tat mir leid, aber ich konnte nichts tun, ich konnte ihr und mir nicht helfen.

      »Schreib an Papa, er wartet auch.«

      Sie wurde von einem heftigen Weinkrampf geschüttelt, der Bruder des alten Stadel, ein dicker alter Mann, zog ein großes buntes Tuch hervor und heulte mit.

      Ich sah ihm ohne Neugier ins Gesicht.

      »Ich weiß, dass du mit allem zurechtkommst, Hannes, ich weiß, dass du dich in dieser Welt zurechtfindest - es ist entsetzlich. «

      Ich sah, dass ihre Tränen am Versiegen waren. »Du musst gehen, Parteigenossin Stadel, Sieg heil.«

      Sie zuckte zusammen, sah zuerst mich, dann den alten Mattias an. »Das klingt ja ...«

      Er hielt ihr den Mantel hin. »Macht ein Ende, sonst steht ihr auf dem Bahnhof, und der Zug ist weg.«

      Sie schlüpfte in die Ärmel ihres Mantels, strich sich mit den Händen die nach oben gekämmten Haare glatt, dann gab sie mir die Hand und beugte sich herunter, um mir die Wange hinzuhalten.

      Ich küsste sie. »Also leb wohl.«

      Sie polterten die Treppe hinunter, die beiden Alten brachten meine Mutter nach unten, dann kam der alte Mattias wieder herauf. Mir würden noch drei Tage bleiben, bis meine Stunde schlug. Dann sollte Mattias die Wohnung verschließen und die Schlüssel an sich nehmen. Von Zeit zu Zeit, nach jedem Luftangriff, würde er nach dem Rechten sehen, falls es noch was zusehen gab.

      »Was willst du mal werden? Ich meine, es ist Zeit, sich, darüber den Kopf zu zerbrechen.«

      Alles andere, nur nicht das. Vor mir lagen noch mindestens sechs Schuljahre. Sollte der Krieg dauern, würde ich Soldat werden, Flieger oder U-Bootfahrer.

      Er wiegte den Kopf. » U-Bootfahrer, glaube einem alten Knaben, der Stücker zehn Jahre Seemann gewesen ist, auch bei der Kriegsmarine, der kaiserlichen, damals«, er schluckte, »was ich sagen wollte ...« aber dann vergaß er, was er sagen wollte, oder er hielt es nicht für richtig, seine Meinung zu sagen. Er machte eine wegwerfende Handbewegung.

      »Du bist reif für deine Jahre. Deine Mutter hat mir erzählt, dass du ihr viel geholfen hast.«

      Ich nickte. Er fuhr auf: »Kannst du nicht reden? Stehst da wie ein Holzklotz. Meinst du, mir gefällt das alles?«

      »Mir gefällt es«, sagte ich mit Nachdruck.

      »Verfluchte Hunde«, stöhnte er, »elende Zucht.«

      Ich beobachtete seine mächtigen Hände, entschlossen, mich nicht von ihm schlagen zu lassen. »Wen meinst du mit elende Zucht?«

      »Halt dein gottloses Maul, du Strolch.«

      Seine Hilflosigkeit entlud sich im Zorn gegen mich.

      »Wann müssen wir weg«, fragte er.

      »Freitag früh, neun Uhr, Jannowitzbrücke.«

      »Komm mir nicht so oft unter die Augen bis dahin. Wäre ich doch erst wieder auf dem Hof.« Der Hof, gemeint war das Bauernhaus in Wendisch-Rietz, nahm ihn jetzt stark in Anspruch. Seine Berliner Wohnung hatte er aufgegeben. Er kam nur noch in die Stadt, um seine Geschäfte zu erledigen, um die Mieten zu kassieren und in den Häusern nach dem Rechten zu sehen. Repariert wurde nichts mehr, ausgenommen die Bombenschäden, soweit das möglich war.

      Er knipste Licht an, um am Schreibtisch seines Sohnes zu lesen. Die Ecke des Zimmers empfing auch am Tage zu wenig Licht. Mein Großvater sah in die Sternenkarten, die Kalender und Berechnungen, flüchtig und unkonzentriert.

      »Da hat sich nun einer sein halbes Leben lang mit Nützlichem beschäftigt.« Er drehte sich um. »Du bist noch da?«


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