Dame in Weiß. Helmut H. Schulz
Читать онлайн книгу.Frühherbstliche Stimmung lag über der Siedlung, das Laub fiel hier und dort schon ab, der kleine künstliche Teich mit den Riedgewächsen war leer, überhaupt machte der Garten einen verwilderten Eindruck. An der Gartentür fehlte unser Namensschild, das heißt, das der Familie Arzt. Ich spähte durch die Zaunlücken, das Haus schien noch nicht bezogen zu sein. Ich kletterte über den Zaun und ging an die Rückseite des Hauses. Die Tür war verschlossen, aber ich wusste, wie ich sie ohne Schlüssel öffnen konnte, angelte den Dietrich unter dem Dachbalken hervor, ein Versteck, das nur Barbara und ich kannten, und schloss die Tür auf. Drinnen schlug mir ein feuchter, modriger Geruch entgegen. Hier war lange nicht geheizt worden. In den Ecken der Veranda glänzte es silbrig.
Ich ging nach oben in die Zimmer, die uns früher als Schlafräume gedient hatten. Sie waren ausgeräumt. Was ich eigentlich suchte, wenn ich nicht nur einen letzten Blick in eine mir vertraute Umgebung tun wollte, hätte ich kaum sagen können. Lange blieb ich nicht. Ich ging wieder nach unten, verschloss die Haustür und steckte den Dietrich in die Jackentasche. Bevor ich das Grundstück verließ, drückte ich die Schuppentür auf, dort stand das Fahrrad meiner Tante, sie hatte es nicht mitgenommen, oder sie würde es noch abholen. Ich stellte es beiseite. Einen Hammer mit abgebrochenem Stiel nahm ich vom Boden auf, trat aus dem Schuppen heraus und stellte mich so, dass ich dem großen Verandafenster gegenüberstand. Auf dem dunklen Glas spiegelt sich das Bild des Gartens - wie ein Geisterbild. Erst in dem Spiegelbild bemerkte ich, dass kein Wind wehte, dass sich kein Blatt bewegte. Und plötzlich fand ich einen Grund hier zu sein und nahm Abschied.
Als die Scheibe zerbrach und der Hammer drinnen aufschlug, fiel auch das Bild zusammen. Ohne Eile ging ich um das Haus herum und sprang über den Zaun.
Abends rief ich von Goll aus zu Hause an, um meinem Großvater zu sagen, dass ich die Nacht bei meinem Freund bleiben würde. Ich wartete auf einen Einwand, da sich am Ende des Drahtes nichts rührte, nahm ich an, der Alte hätte nichts dagegen und hängte auf.
Schott verteilte Zigaretten; er rauchte geübt, und seine großen weißen Hände erinnerten an die Tatzen von Eisbären. Sein Kopf war rund und schien direkt auf dem Brustkorb zu sitzen. Auf dem Kugelkopf rollten und ringelten sich Locken, die wir komisch fanden und die Schott selbst auch komisch fand, ohne sich darüber zu ärgern. Außerdem war sein Gesicht stark gefaltet. Wetter hatte ihn bei irgendeiner Gelegenheit den Faun genannt, hin und wieder benutzten wir auch diesen Spitznamen, aber er lag uns nicht besonders, wie uns die griechische Mythologie überhaupt fremd anmutete.
Goll-Teja rauchte vorsichtig in einer selbstbewussten und bedeutsamen Art, die ich lächerlich fand. Auf einen Streit mit Goll ließ sich aber keiner von uns gern ein, seinen galligen Spott, seine Ironie ertrugen wir nicht. Düster blickten die dunklen, etwas trüben Augen auf das glimmende Ende der Zigarette. Sein Bein würde sich nicht mehr bessern, er hatte oft starke Schmerzen und musste deshalb Tabletten nehmen. Irgendwie hob ihn das alles heraus und prägte ihn. Er trat ans Klavier, die Zigarette im Mundwinkel, und unterhielt uns mit Schlagern aus jener Zeit. Er spielte nicht mehr so exakt wie früher. Wir kamen uns ziemlich erwachsen vor.
Jendokeit war seiner Querflöte treu geblieben. Er paffte jetzt hastig, ohne den Rauch einzuatmen, und Tränen rollten aus seinen Augen.
»Schlappe Sau«, bemerkte Schott, »du musst den Rauch einatmen.«
Er machte es vor, aber Jendokeit war so vernünftig, ihm dieses Kunststück nicht nachzumachen.
Bruchner rauchte besser, was ihm Schotts Lob eintrug. Bruchner hielt sich jetzt an uns. Sein Vater war eingezogen; Jendokeits Vater war eingezogen, Schotts Vater war eingezogen, nur Gons Vater, der Schriftleiter, stand an der Heimatfront. Zwar trug er eine Uniform, nannte sich Frontberichterstatter und war oft wochenlang abwesend, aber ein Soldat war er trotzdem nicht.
Ich tat, als verstünde ich was vom Rauchen, und es gelang mir, Schott zu täuschen. Mein Körper sperrte sich gegen die Zumutung, dass ihm statt Luft Rauch zugeführt werden sollte. Hustenanfälle würgten mich, wenn ich einen Lungenzug riskierte, und schließlich drückte ich den Stummel aus und war froh, dieses Männerspiel hinter mich gebracht zu haben.
»Weiber sollen auch mitfahren«, bemerkte Schott.
Mit unserem Transport sollten Mädchen nach Oberschlesien gebracht werden. Mädchen begannen uns zu fesseln; manche waren sichtlich entwickelt. Schott erbot sich, seine Männlichkeit zu beweisen. Goll sagte kühl; »Lass deinen Penis, wo er ist.« Er lächelte. »Sera juvenum venus, eoque inexausta..., und so weiter. Tacitus, Germania.«
Schott stöhnte gequält.
»Spät erst lernen die Jungen die Liebe kennen - ich nehme an, wir werden demnächst wieder auf Tacitus verwiesen werden. Ich habe mich vorher umgesehen.«
Er war uns voraus, Tacitus hätte keiner von uns übersetzen können; es hieß, wir würden wieder Unterricht in Latein bekommen.
Später langte Goll in sein Bücherregal und legte uns den Band Tacitus vor. Er enthielt eine Übersetzung, sie war handschriftlich kommentiert, ich nahm an, von Golls Vater.
»Mein Großvater hat mich heute gefragt, was ich werden will«, ein Themawechsel schien mir fällig, und auf die Frage des Alten hatte ich mir überlegt, was ich werden könnte, und wollte hören, wie die anderen darüber dachten.
»Und was hast du gesagt«, fragte Bruchner.
Bruchner hatte unter uns wenig Gesicht. Er tat, was man von ihm verlangte, ohne zu meckern, aber ihm fehlte Begeisterung, wie uns schien. »Nichts, keine Ahnung.«
Die anderen stimmten zu.
»Was soll diese Scheißfrage«, sagte Schott. »Solange Krieg ist, gehen wir sicherlich zur Penne - wie lautet der Lehrsatz, nach welchem im Dreieck die Kathetenquadrate gleich ...«
»Ganz recht«, pflichtete Goll bei, »wir haben sechs Jahre vor uns. Da ist der Krieg zu Ende, und Europa sieht anders aus.«
»Und wenn, er länger dauert«, fragte Schott, »dreißig Jahre?«
Es ging über unsere Vorstellungskraft, was wäre, wenn der Krieg so lange dauerte.
»Ich frage mich«, sagte Goll, »ob ich eigentlich gern nach Oberschlesien fahre. Ich meine, was machen sie denn da mit uns?«
»Wir sollen doch wegen der Bomben aus Berlin weg«, warf ich ein.
Bruchner sagte: »Mein Vater ist vermisst, bei Leningrad.«
»Seit wann weißt du das?«, fragte Goll sachlich.
»Seit gestern.«
»Du musst dich auf alles gefasst machen«, meinte Goll. »Gefangene machen die Bolschewisten nicht.«
»Wenn mein Vater gefallen sein sollte, nimmt mich meine Mutter von der Schule sagt sie.«
Die Schule kostete monatlich zwanzig Mark, außerdem kamen fast alle halbe Jahre die Kosten für Schulbücher hinzu und Lernmittel, Rechenstäbe, Atlanten. Die hohe Schule stellte auch höhere Kostenforderungen bei den, freien Veranstaltungen, den Radtouren, den gemeinsamen Ferien und Theaterbesuchen.
»Wo hat dein Vater gelegen?«
Goll breitete die Karte aus, wir suchten den Ort, wo Bruchners Vater vermutlich gefallen war. An seinem Tod zweifelte keiner.
Dann fragte Schott: »Was sind denn eigentlich Bolschewisten?«
»Die sind anders als wir«, Jendokeit griff in das Gespräch ein, »mein Vater sagt, sie erscheinen uns nur als Menschen, in Wirklichkeit sind sie tief unter Menschen stehend.«
»Die haben wahnsinnig viel Land.«
Jendokeit zeigte die leeren Hände. »Wir haben ja gesehen, wie es im Sowjetparadies zugeht. «
Er spielte auf eine Ausstellung an, die in einem Zeltbau auf dem Berliner Lustgarten von sich reden gemacht hatte. Natürlich waren wir hingegangen. Folter- und Verhörmethoden der GPU waren dort geschildert, Menschen in gewöhnlichen Lebenslagen wurden gezeigt: abgehärmt, mangelhaft bekleidet, schmutzstarrend und bösartig.