Die Quellen des Zorns. Widmar Puhl

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Die Quellen des Zorns - Widmar Puhl


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mit Bundeskanzlerin Merkel, er beneide Deutschland um seine niedrige Jugendarbeitslosigkeit. Dann verlor er die Wahl. Ich beneide Frankreich um seine politische Streitkultur, um Denker wie Stephane Hessel („Empört Euch!“). Und ich „beneide“ Ex-Präsident Sarkozy um seine Unkenntnis der „Generation Praktikum“ in Deutschland. Ganz Europa sollte sich Sorgen um eine komplette Generation junger Menschen machen, die trotz aller Bildungsanstrengungen keine planbare, halbwegs sichere Existenz und keine Perspektive haben. Thilo Sarrazins Thesen über die Bedrohung durch „bildungsferne Unterschichten“ könnten endgültig auf den Müll, wenn erst einmal das jugendliche Prekariat der gut Ausgebildeten seine Rechte einfordert. In Hongkong, Rio de Janeiro, Rom, Madrid und Athen hat dieser Prozess bereits begonnen.

       Das Versagen der Vorbilder

      Wir lernen schon in der Schule, dass Recht und Gesetz nicht dasselbe sind wie Gerechtigkeit. Wo aber ist der Rechtsstaat hingekommen, wenn schon ordentliche Professoren für Staatsrecht jeden Anspruch auf Gerechtigkeit in der Justiz zurückweisen? Vieles deutet auf ein massives und nicht bloß kurzfristiges Versagen der klassischen Vorbilder und Autoritäten hin, wenn das Vertrauen im einst ausgeglichenen Kräftedreieck aus Politik, Justiz und Wahlvolk einem wachsenden gegenseitigen Misstrauen gewichen ist. Und das liegt nicht nur an Bürgerprotesten. Zwei Beispiele, die über jedes Klischee hinaus reichen, sollen zeigen, wie massiv einst allgemein anerkannte Vorbilder sich inzwischen gegenseitig die Autorität absprechen:

      Am 22. September 2011 hielt Papst Benedikt XVI. eine Rede im Bundestag und warnte vor einer Politik ohne Moral. Das Kirchenoberhaupt, das noch nie als liberaler Denker und Reformer aufgefallen ist, las dabei einem politischen Establishment die Leviten, das großteils zu seiner Stammkundschaft gehört. Als Professor für Moraltheologie analysiert Joseph Ratzinger natürlich auch Defizite bei Angehörigen der politischen Kaste, die zur eigenen Klientel gehören. „Der Geist weht, wo er will“ (Joh 3,8): unkorrumpierbare Wahrheit aus dem Mund jenes Mannes, der als Chef der vatikanischen Glaubenskongregation (früher: Inquisition) dem katholischen Theologen Hans Küng wegen öffentlicher Zweifel an der Unfehlbarkeit des Papstes die Lehrerlaubnis in Tübingen entzog. Diesmal sprach er als Oberhaupt des Vatikanstaates. Diese politische Dimension haben diejenigen nicht verstanden, die den Auftritt als Verstoß gegen das Verfassungsgebot boykottierten, Kirche und Staat zu trennen. Menschenrechte, Menschenwürde und die Gleichheit aller Menschen seien Ideen, die in der Vorstellung wurzeln, dass es einen Schöpfergott gibt, sagte der Papst. Das Zusammenleben der Menschen benötige eine verbindliche Basis: die zehn Gebote etwa, aber auch Recht und Gesetz. Dass die nur Mittel zum Zweck der Gerechtigkeit sind, fand er wohl selbstverständlich.

      So interpretierte ihn Heiner Geißler, früher Bundesfamilienminister und CDU-Generalskretär, seit 2007 prominentes Mitglied bei attac und als Schlichter bei S 21 schillernd in Erinnerung. Der Jurist und streitbare Katholik in der Tradition des Sozialphilosophen Oswald Nell-Breuning, der so simple Sätze aus dem Grundgesetz wie „Eigentum verpflichtet“ aus katholischer Sicht durchdekliniert hat, kommentierte die Papstrede am gleichen Tag im ZDF mit Blick auf Finanzkrise und EURO-Rettungsschirm: „Der Mensch wird im heutigen System zum Kostenfaktor oder zur Ware degradiert.“

      Oder zum Sicherheitsrisiko, möchte ergänzen, wer sich erinnert: Die Bürger durften dem Papst bei der Fahrt vom Parlament zum Olympiastadion, wo er eine Messe hielt, nicht einmal zuwinken. Die Polizei verbot den Anwohnern der Route, ihre Fenster zu öffnen, und nannte „Sicherheitsgründe“ dafür. In der ganzen Innenstadt gab es aus Angst vor Anti-Papst-Demonstranten großflächig Absperrungen und Verkehrsbehinderungen. Wie schon bei Besuchen der US-Präsidenten George W. Bush und Barack Obama in Mainz oder Baden-Baden wurden große Teile der Einwohnerschaft zu Geiseln eines Sicherheitsapparates, der sich paranoid über Bürgerrechte hinwegsetzt und selbst in die eigenen vier Wände hineinregiert. Ausgangssperren, Vorratsdatenspeicherung und dergleichen in Friedenszeiten: kein Problem?

      Manche Staatsrechtler, die meinen, das Interesse des Gemeinwohls in diesem Sinn interpretieren zu müssen, seien daran erinnert: Wir haben in Deutschland schon mehrfach Diktaturen erlebt, die das ebenfalls taten. Mit denen hat ein demokratischer Rechtsstaat aber nichts zu tun. Wer sich da auf „herrschende Rechtsmeinungen“ beruft, vergisst, wie schnell sich die Lage ändern kann, und macht sich der Herrschsucht verdächtig: bestenfalls von gestern und schlimmstenfalls eine Aufgabe für den Verfassungsschutz.

       Politiker hebeln Grundrechte aus

      Am 28. September 2011 feierte das Bundesverfassungsgericht im Badischen Staatstheater Karlsruhe seinen 60. Geburtstag. Dabei warf der inzwischen zurückgetretene Bundespräsident Christian Wulff der Bundesregierung zum wiederholten Mal vor, wichtige Entscheidungen ohne die notwendige Beteiligung des Bundestags getroffen zu haben. Gemeint hat er vor allem die Bankensanierung und die Euro-Schirme seit der Finanzkrise von 2008. Im Februar 2012 hat das Verfassungsgericht selbst diesen Trend gerügt: in seinem Urteil gegen einen kleinen geheimen Ausschuss von 9 (!) Abgeordneten, der nach dem Willen von Kanzlerin Merkel als „schnelle Eingreiftruppe“ dauerhaft anstelle des Bundestages über Euro-Rettungsschirme entscheiden sollte. Die viel beschworene Einigkeit nach außen ist ja nur sinnvoll, wenn man dafür nicht lügen muss. Aber der Zoff hat gute Gründe und geht folglich weiter. Das Wahlvolk dankt´s mit Protest, Parteiaustritt oder Wahlenthaltung. Wen wundert das noch?

      Der letzte Papstbesuch und eine ganze Reihe von Urteilen aus Karlsruhe gegen Regierungspläne zeigen eine wachsende Tendenz zu moralischer Korruption. So jedenfalls würde ich die Kluft zwischen moralischem Anspruch und moralischer Glaubwürdigkeit nennen. Auch die Kirchen leiden darunter, in deren Einrichtungen über Jahrzehnte hinweg und zum Teil unter dem Schutz von oben sexueller Missbrauch und körperliche sowie seelische Misshandlung verbreitet waren. Bis zum heutigen Tag tun sich die Kirchen schwer bei der Zusammenarbeit mit der Justiz. Das Kirchenvolk reagiert ebenfalls mit massenhaften Austritten – zumal sich Kirchen der demokratischen Kontrolle entziehen und bei Sexualmoral oder Gleichberechtigung mit zweierlei Maß messen.

      Die Zahl der Verfahren, die vor dem Bundesverfassungsgericht angestrengt werden, hat sich von 3400 im Jahr 1990 auf 6422 im Jahr 2010 fast verdoppelt. Wie pervers müssen Staatsrechtler eigentlich denken, die behaupten, die zunehmende Zahl von Verfahren sei doch ein Beweis für Vertrauen in den Rechtsstaat? Das Vertrauen in das höchste Gericht ist eine Sache, wachsendes Misstrauen gegenüber der „normalen“ Justiz oder den stets juristisch begründeten Ansprüchen von Regierungen und Parteien auf Deutungshoheit in Sachen Rechtsstaat eine völlig andere. So gesehen, sprechen die Zahlen eine klare Sprache: Es sind ja nicht Stammtische, die in Karlsruhe klagen. Es sind ganz überwiegend Verbände, Gewerkschaften, Parteien, Abgeordnete, Kommunen oder Landesregierungen, die sich gegen Eingriffe von Bund oder Ländern in ihre Rechte wehren bzw. ihre Rechte durch die unteren Instanzen nicht gewahrt sehen. Dafür spricht eine schwer bestreitbare Tendenz bei Urteilen des Verfassungsgerichts: gegen die Bundesregierung, für Bürgerrechte und rechtsstaatliche Demokratie.

      Unumstritten ist bei Fachleuten jedenfalls: Die Zahl der Verfassungsgerichtsprozesse wegen politischer Uneinsichtigkeit bzw. schwindender Bereitschaft, politische Konflikte auch politisch zu lösen oder solche Lösungen zu akzeptieren, steigt. Die Tendenz dahinter: Immer häufiger sollen Gerichte politische Konflikte lösen, vor allem im Arbeitsrecht (Entlassungen, Insolvenzen), aber auch im Wirtschaftsrecht (Insolvenzrecht, Wirtschaftskriminalität) und im EU-Recht (Migranten, Asylrecht, Lobbyismus etc.).

      Kaum ein Tag vergeht, ohne dass Zeitungen, Fernsehen und Radio von solchen Kämpfen um moralische Grundfesten der Republik berichten. Dass keine materielle Korruption ohne die Erschütterung moralischer Fundamente möglich ist, versteht sich von selbst. Beispiele reichen von der „Starfighter“-Affäre bis heute: 1958, zufällig nach einer 12-Millionen-D-Mark-Spende des Herstellers Lockheed an die CSU, kaufte deren Vorsitzender Franz-Josef Strauß als Verteidigungsminister das berüchtigte Kampfflugzeug (178 Abstürze in zehn Jahren). Es folgten diverse Parteispendenskandale mit den berühmten „Gedächtnislücken“ des Otto Graf Lambsdorff (FDP) und Helmut Kohl (CDU), die „Lustreisen“ von Gewerkschaftern und VW-Betriebsräten (auch eine Form von Hartz-IV-Finanzierung) oder die Siemens-Bestechungsaffäre. Der Wähler hat dabei das Gefühl, immer


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