Die seltsame Gräfin. Edgar Wallace

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Die seltsame Gräfin - Edgar Wallace


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siehst allerdings nicht sehr glücklich aus, mein Liebling. Was fehlt dir denn?«

      »Das Gefängnis hat mich so aufgeregt. Wie lange ist die Gräfin schon hier?«

      »Du hast dich doch nicht etwa mit ihm gezankt?«

      »Mit ihm? Mit wem? Ach so –«

      »Natürlich meine ich Mike Dorn. Mit wem könntest du dich denn sonst herumzanken? Mit dem alten Fordwagen kannst du doch nicht streiten.«

      Glücklicherweise brauchte Lois nicht zu antworten, denn in diesem Augenblick ertönte der elektrische Summer. Lizzy verschwand in Shaddles' Büro. Gleich darauf erschien sie wieder in der Tür und winkte Lois.

      »Die Gräfin möchte dich sprechen«, flüsterte sie ihr schnell ins Ohr. »Der Mensch, der da bei ihr ist, das ist ihr Sohn – der Graf!«

      Lois ging in den Raum und zog die Tür hinter sich zu. Mr. Shaddles schaute verwundert vom Tisch auf, als sie ihm die zerknitterten Urkunden überreichte.

      »Was ist denn damit passiert?« fragte er.

      »Wir hatten einen Unfall mit dem Wagen«, erklärte Lois ein wenig zusammenhanglos. Sie war nicht sehr geschickt im Lügen.

      »Wir – was soll das heißen – wir?«

      »Ich meine – ich bin mit einem anderen Wagen zusammengestoßen«, sagte sie verwirrt.

      Mr. Shaddles glättete die Papiere, schaute auf die Unterschrift und sagte dann: »Dies ist die junge Dame, Mylady.«

      Jetzt erst wurde Lois klar, daß noch eine Dame in dem Raum war. Das Wort »majestätisch« paßte am besten zu der Erscheinung und dem Auftreten der Gräfin von Moron. Ihre große, stattliche Gestalt war von Kopf bis Fuß von einem Chinchillamantel eingehüllt, der vorne ihr reiches Samt- und Brokatkleid sehen ließ. Aber Lois hatte im Augenblick keine Augen für die Perlenketten und Juwelen, die an Ohren und Fingern glitzerten. Es fesselte sie nur das Gesicht, das ihr groß, herrisch, aber doch irgendwie drohend erschien. Die schwarzen Augenbrauen berührten sich über der wundervoll geformten Nase, und ihre mandelförmigen Augen waren von so tiefem Braun, daß sie schwarz erschienen. Die Gräfin betrachtete das Mädchen ruhig mit einem harten, glänzenden Blick. Ihr Mund war groß, die Lippen auffallend dünn, das Kinn voll und kräftig gebildet. Lois versuchte, sich über ihr Alter klar zu werden. Ihr Haar war von tiefschwarzer Farbe und zeigte nicht das leiseste Grau.

      »Sie sind Miss Reddle?« fragte die Gräfin. Ihre Stimme war so tief wie die eines Mannes, und sie sprach langsam und wohlartikuliert.

      Der Klang dieser Stimme wirkte verwirrend auf Lois.

      »Ja, Mylady, ich bin Lois Reddle.«

      Einen Augenblick schwieg Lady Moron, dann wandte sie sich zu ihrem Begleiter. »Dies ist Miss Lois Reddle, Selwyn.«

      Der schlanke, ein wenig vornübergebeugte junge Mann hatte im Gegensatz zu seiner Mutter weiche Züge und ein kleines Kinn.

      »Darf ich Ihnen meinen Sohn, den Grafen von Moron, vorstellen?« sagte die große Dame. Lois verneigte sich leicht.

      »Freue mich, Sie kennenzulernen«, murmelte der Graf mechanisch. »Wir haben schönes Wetter, nicht wahr?«

      Damit schien sein Vorrat an Unterhaltungsstoff verbraucht zu sein, denn er schwieg während der übrigen Unterhaltung.

      Lady Moron wandte jetzt ihre durchdringenden Blicke langsam von Lois ab und schaute den Anwalt an.

      »Ich bin vollkommen zufrieden, Shaddles.«

      »Miss Reddle ist ein sehr brauchbares, nettes junges Mädchen«, sagte er. »Und absolut vertrauenswürdig.« Dabei sah er verzweifelt auf die zerknüllten Urkunden, die auf seinem Schreibtisch lagen. »Wirklich, man kann ihr in allen Dingen trauen. Ich zweifle nicht, daß Miss Reddle in der Besorgnis, möglichst bald zurückzukommen und Mylady zu sprechen, meinen Wagen leicht beschädigte das ist eine Kleinigkeit, die zwischen Mylady und mir zu regeln wäre.«

      Er hatte nämlich schon aus dem Fenster gesehen und mit der Routine eines Taxators die Höhe des Schadens festgestellt.

      »Sie wußte doch gar nicht, daß ich hier war, Shaddles. Außerdem bin ich nicht für den Schaden verantwortlich, der Ihrem Wagen zugestoßen ist.«

      Er rutschte unruhig auf seinem Sitz hin und her.

      »Ich bezweifle überhaupt«, fuhr die Gräfin fort, »daß dieser Karren noch irgendeinen Wert hat – in meinen Augen jedenfalls nicht. Komm, Selwyn.«

      Lois hatte einen Augenblick lang den Eindruck, als ob sich der junge Mann an dem Kleid seiner Mutter festhielte. Sie fühlte den unbändigen Wunsch zu lachen, als die Gräfin aus dem Zimmer rauschte.

      Shaddles eilte durch das äußere Büro, öffnete die Tür vor ihnen, ging die Treppe mit ihnen hinab und verabschiedete sich unten am Wagen von der Gräfin. Dann kam er zurück.

      »Was haben Sie sich eigentlich dabei gedacht, meinen Wagen so zu ruinieren?« fragte er ärgerlich. »Und dann sehen Sie einmal hierher auf diese Urkunden – kann ich die denn überhaupt noch am Gericht einreichen?«

      Bevor sie antworten konnte, sprach er weiter.

      »Wie hoch sich auch die Reparaturkosten des Autos belaufen sollten – ich werde Ihnen die Rechnung schicken, denn ich bin sicher, daß Sie auch nach dem Gesetz für den Schaden haften. Sie werden ein anständiges Gehalt bei der Gräfin beziehen, und Sie verdanken Ihre neue Stellung doch nur der Tatsache, daß ich ihr Anwalt bin.«

      »Die Reparatur will ich gerne bezahlen«, sagte Lois und war froh, als sie das Büro verlassen konnte.

      Zu Lizzys Verdruss war sie nicht sehr mitteilsam, und die ganze Last der Unterhaltung auf dem Heimweg fiel ihr zu. Lois war glücklich, als Lizzy sie verließ, um mit einer Freundin ins Theater zu gehen. Sie wollte allein sein, um über dieses furchtbare Problem, das sie selbst betraf, nachzudenken. Immer neue Fragen drängten sich ihr auf, und plötzlich erinnerte sie sich an den erschrockenen und bestürzten Blick Mike Doms, als sie ihm mitteilte, daß sie ins Gefängnis gehen wollte. Kannte er das Geheimnis? Warum beobachtete er sie? Bis jetzt hatte sie geglaubt, daß er nur den Wunsch habe, ihre Bekanntschaft zu machen, weil sie sein Interesse erregte. Sie war froh, daß sie jetzt eine neue Stellung antreten konnte. Im Dienste der Lady Moron würde sie mehr freie Zeit haben und auch mit Leuten zusammenkommen, die ihr bei ihren Nachforschungen behilflich sein konnten.

      Als sie ohne Appetit vor ihrem Abendessen saß, kam ihr plötzlich ein Gedanke. Sie sprang auf, nahm Hut und Mantel und machte sich auf den Weg zum Zeitungsviertel. Schon früher war sie manchmal für Mr. Shaddles zur Redaktion des ›Daily Megaphone‹ gegangen. Aber die Büros, die dem Publikum gewöhnlich zugänglich sind, waren schon geschlossen. Sie schickte ein kurzes Schreiben von der Loge des Portiers in das Redaktionsbüro, und zu ihrer größten Freude wurde ihr Wunsch erfüllt. Ein Bote brachte sie in das Archiv.

      Sie nahm einen der großen, dicken Bände aus dem Regal, öffnete ihn und schlug die Zeitungen nach, die über den Prozeß Pinder berichteten. Der Bote, der sie hergeführt hatte, verließ das Zimmer wieder. Zwei Stunden lang las sie eifrig alle Einzelheiten des Falles nach, den sie sonst als ein trauriges Verbrechen unbeachtet gelassen hätte. Als sie die Berichte ungefähr zur Hälfte durchgelesen hatte, tauchte ein Name auf, der ihr fast den Atem nahm. Es war der Name einer Entlastungszeugin, die von der Verteidigung vorgeladen worden war – Mrs. Amelia Reddle!

      Dann stimmte es also. Das war die freundliche Nachbarin, von welcher der Gefängnisdirektor gesprochen hatte. Diese große, schöne Frau, die mit solcher Ruhe über die Steinfliesen des Gefängnishofes schritt, war ihre Mutter! Und Mrs. Reddle hatte sie großgezogen, ohne ihr etwas von ihrer Herkunft zu erzählen.

      Die Buchstaben tanzten ihr vor den Augen, ihre Hände zitterten, als ihre Entdeckung so plötzlich bestätigt wurde.

      Ihre Mutter war unschuldig. Sie fühlte nicht nur eine natürliche Auflehnung gegen den Gedanken, daß in ihren Adern das Blut einer Mörderin rann – sie hatte die Überzeugung und innere Gewissheit,


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