Die blaue Hand. Edgar Wallace
Читать онлайн книгу.Sie können mich ›Weldon‹ oder ›Eunice‹ nennen, oder wie es Ihnen beliebt, Mrs. Groat.«
Die alte Frau räusperte sich.
Vor ihr stand eine große Schublade mit Schecks, die von der Bank zurückgekommen waren.
»Sehen Sie diese Papiere durch«, sagte sie, »und machen Sie irgend etwas damit. Ich weiß nicht, was.«
»Soll ich sie vielleicht an die Rechnungen heften, zu denen sie gehören?«
»Ja, das meine ich. Sie wollen es doch nicht hier machen? Aber es ist doch besser, daß Sie nicht damit aus meinem Zimmer gehen; ich wünsche nicht, daß die Dienstboten in meinen Abrechnungen herumschnüffeln.«
Eunice stellte die Schublade auf den Tisch, nahm die Rechnungen und die Abschnitte des Scheckbuches, holte sich eine kleine Flasche Leim und machte sich an die Arbeit. Ihre goldene Armbanduhr, ein Geschenk ihres verstorbenen Vaters, legte sie auf den Tisch, weil sie sie bei der Arbeit störte. Mrs. Groats habgierige Blicke waren sofort darauf gerichtet, und mit einem Male rückte sie näher.
Die Arbeit schien sehr umfangreich zu sein, aber Eunice ging methodisch vor, und als der Gong zu Tisch rief, war sie schon fertig.
»Bitte, Mrs. Groat«, sagte sie lächelnd, »ich habe alle Schecks aufgearbeitet.«
Sie stellte die Schublade beiseite und wollte ihre Armbanduhr wieder anlegen, aber sie war verschwunden. In diesem Augenblick öffnete sich die große Tür, und Digby Groat trat herein.
»Hallo, Miss Weldon«, sagte er zuvorkommend, »es ist Zeit zum Lunch. Hast du nicht den Gong gehört, Mutter? Du mußt Miss Weldon jetzt gehen lassen.«
Eunice schaute sich überall um.
»Haben Sie irgend etwas verloren?« fragte Digby schnell.
»Ich kann meine Armbanduhr nicht finden; ich habe sie vor einiger Zeit hier auf den Tisch gelegt, und sie ist jetzt nicht mehr da.«
»Vielleicht ist sie in der Schublade«, stammelte die alte Frau und vermied es, ihren Sohn anzusehen.
Digby schaute sie einen Augenblick an und wandte sich dann an Eunice.
»Würden Sie so liebenswürdig sein und Jackson den Auftrag geben, meinen Wagen um drei Uhr bereitzuhalten?« sagte er freundlich.
Er wartete, bis das Mädchen die Tür geschlossen hatte.
»Wo ist die Uhr?« fragte er rau.
»Die Uhr, Digby?«
»Willst du die Uhr hergeben?« schrie er, und sein Gesicht wurde dunkel vor Wut.
Sie steckte die Hand zögernd in die Tasche und holte die Uhr hervor. »Sie sieht doch so schön aus«, stotterte sie.
Digby riß sie ihr aus der Hand.
Gleich darauf kam Eunice wieder zurück.
»Wir haben sie gefunden«, sagte Digby lächelnd. »Sie war unter den Tisch gefallen.«
»Ich dachte, da hätte ich auch nachgesehen. Sie ist nicht sehr wertvoll, aber sie dient einem doppelten Zweck.« Sie legte die Uhr um ihr Handgelenk.
»Welchen anderen Zweck hat sie denn noch, als die Zeit anzugeben?« fragte Digby.
»Ich verdecke damit eine häßliche Narbe«, sagte sie und zeigte ihr Handgelenk. Er sah einen runden, roten Fleck, etwa so groß wie ein Halbschillingstück, der wie eine alte Brandnarbe aussah.
»Das ist ja merkwürdig«, meinte Digby, als er darauf schaute. Plötzlich hörte er einen unterdrückten Aufschrei seiner Mutter. Sofort wandte er sich nach ihr um und blickte in ihr verzerrtes Gesicht. Ihre Augen starrten auf Eunice.
»Digby, Digby!« schrie sie mit gebrochener Stimme. »O mein Gott!«
Sie fiel über den Tisch, und bevor er sie erreichen konnte, war sie auf den Boden gesunken.
Er beugte sich über seine Mutter und wandte sich dann langsam zu dem erschrockenen Mädchen.
»Sie hat sich so über die kleine Narbe auf Ihrer Hand aufgeregt«, sagte er langsam. »Was bedeutet das?«
8
Die Geschichte von der Narbe und dem Eindruck, den sie auf Mrs. Groat gemacht hatte,, stimmte Jim nachdenklich. Er versuchte die Sache auf seine Weise zu erklären, aber Eunice lachte.
»Ich werde diese Stelle wieder aufgeben«, sagte sie, »aber ich muß noch so lange dort bleiben, bis alle Papiere von Mrs. Groat geordnet sind. Es sind noch ganze Stöße von Briefen und Dokumenten aller Art zu ordnen und einzutragen. Mrs. Groat hat mir das schon gesagt. Und es scheint doch auch nicht gut zu sein, wenn ich meinen Dienst verlasse, während die alte Frau so krank ist. – Ihre Vermutung, daß ich die junge Dame sein soll, die das große Vermögen erbt, ist auf keinen Fall richtig. Meine Eltern lebten in Südafrika, Jim. Sie sind viel zu romantisch, als daß Sie ein guter Detektiv sein könnten.«
Er leistete sich den Luxus, ein Taxi zu nehmen und sie nach Grosvenor Square zurückzubringen. An der Haustür verabschiedete er sich von ihr.
Während sie sich noch auf der Treppe unterhielten, öffnete sich die Tür, und Jackson begleitete einen kleinen, starken Mann mit großem, braunem Bart heraus.
Offenbar sah Jackson die beiden Leute nicht, er sah sie jedenfalls nicht an.
»Mr. Groat wird erst um sieben Uhr nach Hause zurückkommen, Mr. Villa«, sagte er laut.
»Sagen Sie ihm, daß ich vorgesprochen hätte«, entgegnete der andere ebenso laut und ging an Jim vorbei.
»Wer ist denn der Mann mit dem Bart?« fragte Jim, aber Eunice konnte ihm keine Auskunft geben.
Jim war mit der Erklärung über ihre Herkunft nicht zufrieden. Einer seiner Schulfreunde lebte unten in Kapstadt, und als er zu dem Büro zurückging, sandte er ihm ein langes Telegramm mit bezahlter Antwort. Er fühlte, daß er hinter einem Schatten herjagte, aber trotzdem tat er es. Dann ging er mißmutig nach Hause und war bedrückt von der Hoffnungslosigkeit der Aufgabe, die er sich gestellt hatte.
Am nächsten Tage erhielt er eine Nachricht von Eunice, daß sie nicht zum Tee kommen könnte. Der Tag war für ihn langweilig und verloren. Obendrein erhielt er noch die Antwort auf sein Telegramm, die alle romantischen Träume zerstörte, soweit sie Eunice Weldons Anwartschaft auf das Millionenvermögen der Dantons betrafen. Eunice May Weldon war am 12. Juni 1910 in Rondebosch geboren. Ihre Eltern waren Henry Weldon, ein Musiker, und Margaret May Weldon. Sie war in der Kirche von Rondebosch getauft worden, und ihre beiden Eltern waren tot.
Über die beiden Endzeilen des Telegramms war Jim erstaunt.
»Eine ähnliche Anfrage wegen der Eltern Eunice Weldons kam vor sechs Monaten von der Firma Selenger & Co., Brade Street Buildings.«
»Selenger &. Co.«, sagte Jim nachdenklich. Das war ein neues Rätsel. Wer mochte denn sonst noch Nachforschungen über das junge Mädchen anstellen? Er nahm das Telefonadressbuch, schlug die Firma nach und fand sie auch gleich. Schnell nahm er seinen Hut, rief ein Taxi an und fuhr zur Brade Street. Nach einigem Suchen entdeckte er auch das Geschäftshaus. Es war ein mittelgroßer Häuserblock, und auf dem umfangreichen Firmen Verzeichnis am Eingang war auch die Firma Selenger & Co. vermerkt. Ihre Büros befanden sich im Erdgeschoß, Zimmer Nr. 6.
Der Raum war verschlossen und wurde anscheinend nicht benützt. Jim suchte den Portier unten auf.
»Nein, Sir«, sagte der Mann kopfschüttelnd. »Selengers haben jetzt nicht auf. Am Tag ist niemand hier, nur nachts.«
»Nachts?« wiederholte Jim erstaunt. »Das ist aber eine etwas ungewöhnliche Zeit, um Geschäfte zu machen.«
Der Portier sah ihn unliebenswürdig an.
»Die Leute müssen wohl selbst am besten wissen, wie sie ihre Geschäfte machen«, sagte er mit Nachdruck.
Es